Netvel: "Im Netz" - 18. Kapitel































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Mitte November waren Brinkus und ich abends eingeladen bei meiner Schulfreundin Odette. Sie feierte mit ihren Freunden in deren Wohnung. Es wurde richtig lustig, und als die Kinder von Odettes Freunden im Bett waren, gingen die Sprüche auch unter die Gürtellinie:
"Was haben Casanova und Jesus Christus gemeinsam? - Den Gesichtsausdruck beim Nageln."
Brinkus und ich kamen kurz vor eins ins "Elizium". Dort waren viele von unseren Leuten. Und ich sah Ivco und Dolf.
"Sollte Rafa auch da sein?" dachte ich.
Ich ärgerte Xentrix, indem ich ihn fragte, ob er zu Kappas nächster Party in der "Halle" gehen wollte.
"He, es reicht schon, daß ich Kappas Band und W.E promoten muß!" stöhnte er.
"Ach, du machst Werbung für die?"
"Ich arbeite doch bei dem Label. Da muß man das in Kauf nehmen."
"Oh je ..."
"Fragen? Keine."
"'Laterne', he?"
Xentrix machte gequälte Telleraugen.
Recht bald schaffte er es, aus dem anfänglichen Synthi-Pop-Sumpf wieder aufzutauchen. Er spielte in einem Block viele meiner Wünsche und Lieblingsstücke. Darunter waren "Deiche" von den Sex Gang Children, "Memories" von Klinik, "Launch my Olive" von De Fabriek und "Comisario de la Luz I" von Esplendor Geometrico.
Nach dem Tanzen sagte Carl zu mir:
"Er ist da."
"Wo?"
Carl wußte es nicht. Ich lief nach oben zur Galerie, wo wir jetzt meistens unsere Sachen haben und auch sitzen. Ich wollte meine Tasche holen zum Nachschminken. Da sah ich Rafa bei Xentrix stehen. Die Sicht auf die Tanzfläche ist dort wie im ersten Rang.
Ich lief in die Damentoilette zur Sichtung und Reparatur. Als ich zurückkam, zwängte ich mich zwischen den vielen Gästen durch den Seitengang. Auf einmal lag meine Hand auf der Schulter eines schwarzgewandeten Herrn. Ich betrachtete ihn genauer, und es war Rafa. Durch seine Brillengläser sah er mich freundlich an. Diese Brille kannte ich noch nicht. Sie ist auch nicht viel schöner als die andere; sie hat eine irgendwie runde Metallfassung. Wenn Rafa mit Brille herumläuft, habe ich immer das Gefühl, er macht sich über die Leute lustig, die ihn komisch finden.
Ich umarmte Rafa kurz und lief dann hoch, um meine Tasche wegzubringen. Rafa stellte sich in die äußerste linke Ecke der Bar und redete mit verschiedenen Leuten. Er redete eine ganze Weile. Die Musik, die Xentrix jetzt spielte, war eine Mischung aus Psychobilly und Party-Potpourri. Ich konnte nicht tanzen; dafür konnte ich Rafa im Auge behalten. Nach einer guten halben Stunde kam er wieder in den Seitengang und redete dort weiter. Ich stand vor dem Podest und fächelte. Brinkus und Janssen saßen auf dem Podest, und es erleichterte mich, meine Leute in der Nähe zu haben.
Schließlich kam Rafa noch dichter heran. Etwa drei Meter von mir entfernt redete er mit Dolf. Manchmal wandte Rafa mir sein Gesicht zu, und ich hatte den Eindruck, daß er mich beobachtete.
Ich schaute nicht immer hin. Als ich mich einmal kurz wegdrehte, verschwand Rafa. Ich konnte ihn nirgends mehr entdecken. Janssen fragte mich, ob ich Lust hätte, noch mit ins "Exil" zu kommen. Er würde mir auch den Eintritt bezahlen. Ich bat um Bedenkzeit.
Auf der Galerie setzte ich mich zu Derek. Ich fragte ihn, ob er wüßte, ob Rafa noch da sei.
"Nein, der ist weg!"
Dann fragte ich Derek, ob er an meiner Stelle noch ins "Exil" gehen würde, wo Rafa sicherlich sei. Rafa konnte denken, ich wollte ihm nachlaufen. Außerdem konnte er sich im "Exil" ebenso unerreichbar machen wie im "Elizium".
Derek riet mir ab. Ich fühlte mich sehr müde. Rafa war so nahe bei mir gewesen und hatte es doch nicht geschafft, auf mich zuzugehen ...
Derek holte sich Bier. Als er wieder heraufkam, berichtete er:
"Rafa ist noch da!"
"Wo?" rief ich und sprang auf.
"Da unten, bei Carl."
Ich lief an die Brüstung und spähte hinunter. Tatsächlich ... am Fenster, in dem Winkel neben der rechten Box, standen Violet, Carl und Rafa an einem Tisch. Ich stürmte los. Um in den Winkel zu gelangen, mußte ich die Tanzfläche überqueren. Ich war gerade auf der Tanzfläche angekommen, da begann "Preacher Man" von den Fields of the Nephilim. Ich tanzte gleich neben dem Winkel, so daß Rafa sich mir ohne Barriere nähern konnte. Das Stück war noch nicht zuende, da marschierte Rafa an mir vorbei und langte wie zufällig nach meinem Hinterteil. Ich fing mir den Übeltäter und schloß ihn in die Arme. Ich kuschelte meinen Kopf an seine Schulter. Die Umstehenden dürften sich etwas gewundert haben. Ich sah Rafa in die Augen, ohne meine Umarmung zu lösen.
"He - ich muß mir nur mal eben Bier holen", sagte Rafa atemlos. "Ich muß mich nämlich heute besaufen."
"Ja?"
"Schläfst du heute bei mir?"
"Ja!"
"Echt - bei mir?"
"Ja!"
"Ich hab' aber noch gar nicht aufgeräumt."
"Das ist mir total egal."
Ich lecke an seiner Wange und küsse sie.
"Also - ich muß mir nur nochmal kurz ein Bier holen", entschuldigt sich Rafa. "Ich komm' gleich wieder, o.k.?"
Ich nicke, und er eilt fort.
"Süß sieht er wieder aus", denke ich.
Er trägt auch heute sein Haar offen. Es ist so dunkel, daß ich vermute, daß er es schwarz gefärbt hat. Rafa ist dieses Mal ordentlich rasiert. Er trägt eine hautenge Hose im Kuhfellmuster. Dazu hat er ein schwarzes Rüschenhemd an und seinen Uniformmantel.
Rafa ist wirklich nach einigen Minuten zurück.
"Kommst du gleich noch 'rüber ins 'Exil'?" fragt er mich hastig. "Ich muß da nämlich jetzt hin; ich muß da noch auflegen. Also, wie ist es, kommst du?"
"Ja, ich komme."
"O.k."
Er verschwindet ins "Exil". Ich gehe mit Brinkus und Janssen ebenfalls dorthin. Auf dem Weg erzähle ich, daß ich mich vielleicht von einem Herrn abschleppen lasse. Janssen möchte wissen, welcher Herr das ist.
"Spätestens im 'Exil' kriegst du es mit", verspreche ich. "Er ist übrigens der Einzige, der mich abschleppen darf."
"Ou, das mußt du mal Rafa erzählen", meint Brinkus.
"Wieso, der isses doch", sage ich.
"Oh, extravagant sind wir auch noch", bemerkt Janssen.
"Wieso extravagant?" frage ich.
"Der ist ein Star", kommt es von Janssen.
"Ach, Quatsch", erwidere ich. "Das ist ein ganz normaler Mensch; der ist nur halt abgefahren. Und abgefahren bin ich auch. Ein anderer würde gar nicht zu mir passen."
Wir gehen kurz zu "McGlutamat", wo Janssen uns freihält. Ich erzähle andauernd davon, daß meine Kleider nach Rafa riechen und daß das so gut riecht. Janssen läßt mich an seinem Revers riechen, und das riecht auch gut; "Nivea for Men" soll der Duft heißen.
Die Nacht ist entsetzlich kalt - windig und regnerisch. Ich stöhne und schimpfe über das Wetter, als wir uns durch die Sturmböen kämpfen. Einsam steht die historische Standuhr vorm CITICEN in der Kälte, die im Rahmen eines Kunstprojekts mit elektronischen Spielereien dekoriert wurde. Die Ziffernblätter sind verdeckt, und die Uhrzeit sieht man auf rot leuchtenden Spruchbändern. Von der Uhr gehen dumpfe, maschinelle Sounds aus, wie bei einem elektronischen Gerät, das nicht abgeschaltet wurde und immer weiter vor sich hinläuft.
Im "Exil" höre ich schon beim Hereinkommen "Save me" von Suicide Commando. Ich renne nach unten, werfe meine Sachen auf eine Bank und stürze zur Tanzfläche. Es ist fast leer im "Exil", aber die Leute tanzen.
Rafa scheint innerlich recht abwesend zu sein. Nach den ersten Tönen eines Synthi-Pop-Stücks entschuldigt er sich durchs Mikrophon:
"So, das war mal wieder die falsche CD - wie immer."
Saara ist da, Velroe ist da, Dimitri ist da. Kappa ist da mit Genna, was für Saara ärgerlich ist. Ich erzähle Saara, daß ich im "Exil" bin, weil Rafa mich darum gebeten hat. Saara hat mitbekommen, daß Rafa und ich uns in der gestrigen Nacht unterhalten haben, kurz bevor ich ging. Sie möchte wissen, was ich zu ihm gesagt habe. Sie ist erstaunt, als ich es ihr erzähle.
Rafa hat das DJ-Pult Kappa übergeben. Er setzt sich für ein Weilchen an die Bar und redet mit einer Dame, wofür ich ihm den Hals brechen könnte. Während ich mit Saara vor der Tanzfläche stehe, geht Rafa in einem Bogen zu einem Lautsprecher, verhält da kurz und fängt dann meinen Blick ein. Er lächelt und kommt auf mich zu. Sogleich umschlinge ich ihn fest mit den Armen und kuschle mich an ihn. Rafa wirft Saara hilflose Blicke zu und hebt die Schultern, als wollte er sagen:
"Tja - sie ist immer so komisch, kann ich nichts für."
Saara wundert sich und kichert.
"He, jetzt laß' mal los da, komm', wir gehn mal kurz woanders hin", sagt Rafa und läuft mit mir in ein dunkles Eckchen in der Nähe des Ausgangs.
Mit einer Kavaliersgeste bietet er mir einen Hocker an und setzt sich vor mich, so nah, daß unsere Körper sich berühren. Wir halten uns in den Armen.
"Und du willst wirklich heute bei mir schlafen?" fragt er ungläubig.
"Ja!"
"Ich hab' aber gar nicht aufgeräumt."
"Das macht doch nichts."
"Ich hab' vorhin mit deinem netten Carl geredet", erzählt Rafa.
"Ja, der ist echt lieb", bestätige ich.
"Der ist echt sowas von erotisch", schwärmt Rafa und preßt meinen Körper an seinen.
"Willst du mit ihm schlafen?" frage ich sanft und schmiege mich an ihn.
"Ja", antwortet Rafa. "Er ist vielleicht der Einzige, mit dem ich noch schlafen kann."
"Ahhh ..."
Wir sitzen da und schauen uns in die Augen. Ich strahle ihn an.
"Was 's' los?" fragt er. "An was denkst du?"
"Ich liebe dich."
"Nein", entgegnet er bestimmt. "Du liebst irgendjemanden, aber nicht mich."
"Doch, ich liebe dich."
Ich streiche ihm langsam die dunklen Haare aus dem Gesicht und lasse meine Blicke in seinen untergehen. Ich fahre mehrmals durch sein Haar und streichle auch seine Wange.
"Also, du willst bei mir schlafen", vergewissert sich Rafa.
"Ja!"
"Darf ich dich dann ausziehen?"
"Ja, ein bißchen."
"Ich will dich ganz ausziehen."
"Ja, du mußt da was für tun", erkläre ich. "Du mußt dich anstrengen. Du mußt mich verführen."
"Verführst du mich dann auch?"
"Ja, ich möchte dich auch verführen ... Du mußt aber auch mal spontan sein, spontan was auf dich zukommen lassen. Du findest das doch immer so wichtig, daß man spontan ist. Man kann doch nicht immer alles schon vorher planen. Man muß doch auch mal was auf sich zukommen lassen."
"Und du willst wirklich bei mir schlafen?"
"Ja."
"Und du willst wirklich mit mir den Zug um 4.53 nehmen?"
"Ja."
"Gut, dann müßten wir ... um halb fünf los", sagt Rafa und sieht auf die Uhr. "Das ist genau in ... fünfundzwanzig Minuten. Kannst du mir dann bescheid sagen?"
"Ja."
Er steht auf. Ich nehme seine Hand und lege seinen Handrücken an meine Wange.
"Oh, bitte, laß' das, ja?" wehrt er mich ab mit einem flehenden, gequälten Ausdruck im Gesicht und in der Stimme. "Bit-te ... bit-te ..."
Ich lasse ihn los, und er huscht davon. Ich binde meine Uhr um. Ich freue mich, daß ich sie mitgenommen habe. Es kommt nur ganz selten vor, daß ich sie mitnehme.
Inzwischen hat sich Rafas DJ-Kollege Macro ans Pult gestellt. Er legt "Infra Red Combat" von Frontline Assembly auf und ein älteres Stück von Front 242. Ich weiß den Titel nicht mehr und frage Macro danach. Das Stück heißt "Operating Tracks". Während ich mit Macro spreche, kommt Rafa heran und ruft wie ein Störenfried dazwischen:
"Nebel! Nebel!"
Saara staunt, als ich ihr von Rafas Wunsch berichte, mich mit nach SHG. zu nehmen. Ich sage ihr aber auch, daß es gut sein kann, daß Rafa es nicht schafft, sein Vorhaben auszuführen. Saara findet das sehr eigenartig.
"Was glaubst du, was Menschen für eine Angst vor Gefühlen haben können", spreche ich aus der Erfahrung mit Rafa.
Es wird fünf vor halb fünf. Rafa geht hinter die Bar und unterhält sich mit der Bardame. Seine Brille hat er abgesetzt. Das Gerede mit der Bardame sieht nach Getändel aus. Ich frage mich, ob Rafa wieder einmal an Geschmacksverirrung leidet oder ob er mit der Dame nur herumspielt. Die Bardame wirkt äußerlich robust und burschikos. Sie hat einen Herrenschnitt und trägt grobe Jeans, dazu eine Weste und ein T-Shirt. Was für eine Figur sie hat, kann man aufgrund ihrer Kleidung nicht erkennen. Das einzige Feminine an ihr sind die langen, lackierten Fingernägel.
Als es halb fünf ist, gehe ich zur Bar und beobachte Rafa mit Raubtieraugen. Er steht mir abgewandt; nur einmal sehe ich ihn einen Blick auf die Uhr werfen. Ich warte und warte. Und er redet und redet und umarmt andauernd die Barfrau. Zwischendurch beugt er sich auch über die Bar und schwatzt mit Velvet.
Nach fünf Minuten reicht es mir. Ich gehe mit forschen Schritten hinter die Bar und fasse Rafa an der Schulter. Er scheint es nicht zu bemerken; es ist, als hätte er sich an der Bardame festgesaugt.
"Rafa, du, wir müssen jetzt gehen", mahne ich, "sonst schaffen wir den Zug nicht."
Er dreht sich um und wirkt etwas erschrocken.
"Du - ey - em ...", stammelt er, "du kriegst gleich voll eins aufs Brett, weil, hier darfst du gar nicht stehen."
"Ja, du mußt jetzt kommen, sonst schaffen wir den Zug nicht."
"Ja, ich komme gleich."
Ich stelle mich wieder dorthin, wo es hinter die Bar geht, und warte noch etwas. Endlich trinkt Rafa das Bierglas leer, das er in der Hand hält. Er kommt zu mir, will aber nicht gleich nach draußen gehen. Er will noch seinen CD-Koffer holen, der beim DJ steht. Ich folge ihm; ich weiß, daß er ohne Aufsicht und Führung nicht imstande ist, das "Exil" mit mir zu verlassen.
"Ja, ja, ich komm' ja schon", beteuert Rafa, redet aber noch eine Weile mit Macro und fuhrwerkt umständlich mit seinem Koffer herum.
Dann ist er scheinbar fertig. Er überquert mit langen Schritten die Tanzfläche. Ich renne zu der Bank hoch, wo ich meine Sachen habe. Eilig raffe ich das Zeug zusammen; ich nehme mir nicht einmal die Zeit, meine Mäntel anzuziehen. Dennoch kann Rafa nicht auf mich warten. Er marschiert stracks zur Treppe. Dort, wo es in den unteren Eingangsflur hinaufgeht, bleibt er stehen, in einem schmalen Durchlaß. Er beginnt ein Gespräch mit Kappa. Velvet kommt auch noch dazu, und der Durchlaß ist völlig verbaut. Ich stehe etwas hilflos vor der Wand aus Menschen, meine Sachen auf den Armen. Endlich geht Velvet wieder zurück in den Tanzraum.
"Ich geh' nochmal kurz ins Büro, ja?", sagt Rafa zu mir und eilt an Kappas Seite in den Vorraum der Toiletten.
"Ja, aber du mußt dich beeilen", dränge ich, "sonst schaffen wir den Zug nicht."
"Ich komm' gleich wieder 'raus."
"Ja, aber wir müssen dann gegebenenfalls rennen", warne ich.
In dem Vorraum gibt es eine Tür mit der Aufschrift "Büro". Rafa geht ohne seinen Koffer dort hinein; er stellt mir den Koffer hin und bittet:
"Paß' mal auf meinen Koffer auf so lang."
"Gut, dann werde ich jetzt meine Mäntel anziehen und so."
Ich ziehe mir die Mäntel über und blicke auf die Uhr. Die Zeit geht ... und geht ...
Nach etwa fünf Minuten öffnet sich die Bürotür wieder, und Rafa kommt heraus.
"So, ich muß nochmal kurz auf den Pott", ruft er mir zu und verschwindet in der Herrentoilette.
Kappa und ich schauen uns mit großen Augen an. Kappa lächelt und schüttelt den Kopf, ich lächle zurück und schüttle ebenfalls den Kopf. Dann bewegt Kappa die Hand vor seinem Gesicht hin und her, um mir mitzuteilen, daß Rafa nicht so ganz dicht sei im Obergeschoß. Ich nicke wissend. Kappa sagt leise etwas, und ich gehe auf ihn zu, um ihn besser verstehen zu können.
"Gib ihm jetzt bloß kein Glas in die Hand", rät mir Kappa. "Er ist echt ganz schön durch den Wind."
"Oh, ja."
Rafa stürmt aus der Toilette und macht sich im Laufen den Reißverschluß an seiner Hose zu.
"Oh Gott", denke ich, "wie Angst und Alkohol den Geist eines Menschen umnachten können ..."
Rafa will rasch wieder zu Kappa in das rettende Büro schlüpfen.
"Rafa, wir müssen jetzt gehen", bremse ich ihn.
"Ja - ich - ich - komme gleich", versichert Rafa.
"Wir müssen eventuell rennen", warne ich.
"Jaa, ist gut", sagt Rafa abwehrend und schiebt die Tür vor mir ins Schloß. Diese Tür ist ein echtes Bollwerk gegen mich, denn sie hat anstelle einer Klinke einen Knauf und kann von außen nur mit einem Schlüssel geöffnet werden.
Es ist inzwischen 4.43; zehn Minuten sind es noch bis zur Abfahrt des Zuges. "Maximizing the Audience" von Wim Mertens und Soft Verdict beginnt, ein Stück, zu dem ich sonst immer tanze und das Luie in unsere Szene gebracht hat.
Ich warte bis 4.45, dann klopfe ich dreimal. Rafa öffnet und ruft mir über die Schulter zu:
"Ey, wir nehmen den nächsten Zug, ja?"
"Ich möchte aber trotzdem, daß wir jetzt schon gehen."
Ich drücke die Tür ganz auf. Rafa und Kappa scheinen eine Art Kaffeeklatsch zu halten. Sie stehen in einem Raum, der eher einer Lagerhalle ähnelt als einem Büro. In dem hellen, kalten Deckenlicht wird erkennbar, daß Rafa sein Gesicht kräftig mit Make-up bestrichen hat.
"Ey, kannst du noch ... ääh ... eine Viertelstunde warten?" versucht Rafa, noch mehr Zeit zu schinden. "Nein", antworte ich.
Rafa verhandelt:
"Kannst du noch zehn Minuten warten?"
"Nein, ich warte nicht."
"Kannst du noch vier Minuten warten?"
"Ja, aber ich warte nur hier drin, nicht da draußen", lege ich fest.
"Ja, o.k., dann trinken wir auch noch was", sagt Rafa.
Ich stelle mich zu den beiden Herren. Sie reden von einer "richtig professionellen Tour".
"Ich muß das jetzt mit dir besprechen, obwohl du breit bist", sagt Kappa zu Rafa. "Man könnte das doch so machen - Stigmata, W.E und noch eine Band, die so - leicht - und die Leute mögen's -"
Ein Headliner wird gebraucht.
"PP?", schlage ich vor, "oder Prager Handgriff?"
"Ja, das wäre nicht schlecht, aber noch ein bißchen was ..."
"Vielleicht den Liederkranz? Oder Calva y Nada?"
Calva y Nada findet Kappa nicht verkehrt; Rafa will aber noch in eine ganz andere musikalische Ecke: "Blackhouse, die könnte man gut nehmen; mit Blackhouse hätte man echt die ganze Bandbreite ..."
"Aber ist das doch nicht ein bißchen ...", zweifelt Kappa an der Kombination von deutschen Liedchen mit amerikanischem Industrial.
Rafa verteidigt aber diese heftige, äußerst kontrastreiche, wenn nicht sowieso unpassende Kombination. Ich frage mich, ob Rafa nicht in seinem Inneren von Industrial fasziniert ist und sich im Stillen wünscht, auch so eine extreme Musik zu machen.
Als ich zum Aufbruch dränge, muß Rafa dem Kappa unbedingt noch etwas ins Ohr flüstern. Aus dem Geflüster wird alsbald eine Fachsimpelei der beiden Unterhaltungselektroniker. Ich befürchte, daß das Geplauder kein Ende finden wird und drängele wieder. Jetzt will Rafa unbedingt, daß wir noch etwas trinken, bevor wir zum Bahnhof gehen.
"Dann trinken wir doch hier oben was", sage ich, um ihn vom Tanzraum fernzuhalten.
"Nein, hier kann man doch nichts trinken", weiß er. "An der Bar."
"Ja, aber dann schaffst du das doch nicht, wieder zurückzukommen, Mensch."
"He - ich muß sowieso nochmal auf den Pott ... Kappa, mußt du auch auf den Pott?" fragt Rafa und wendet sich hilfesuchend zu Kappa um.
Kappa aber läuft hinunter in den Tanzraum. Und ich muß dafür sorgen, daß Rafa ihm nicht folgt. Ich rede und rede, damit Rafa sich von dem Gedanken löst, an die Bar gehen zu müssen. Schließlich sagt er in einem befehlenden Ton:
"Paß' auf, paß' auf, paß' mal auf - komm' mal hierher, komm' mal hierher."
Er geht mit mir in die Damentoilette und zieht mich in eine Kabine.
"Was machen wir denn jetzt?" forscht er.
"Das müssen wir sehen", entgegne ich zögernd.
Ich zögere auch, als Rafa mich von Neuem fragt, ob er mich denn ausziehen darf.
"Ich möchte dich ausziehen bis aufs letzte Hemd", wispert er.
Aber in der Damentoilette gefällt es ihm nicht so besonders. Er zieht mich wieder in den Vorraum.
"Rafa, wir müssen jetzt wirklich gehen", wiederhole ich, "sonst schaffen wir den Zug nicht."
"Wir haben doch noch so viel Zeit!" behauptet Rafa und will unbedingt an die Bar und etwas trinken.
"Es war für dich so schwer, von der Bar wegzukommen, daß ich dich da jetzt nicht mehr hinlassen möchte", erwidere ich.
"Weißt du, was Laura dazu gesagt hat?" fragt er.
"Das ist mir egal, was Laura sagt."
"Nein ... mir fällt das Adjektiv jetzt nicht ein ... Ach, ja - 'bemuttern'. Laura sagt, du bemutterst die Leute immer so. Kannst du es mal lassen, mich zu bemuttern? Das ist echt furchtbar ..."
"Ich weiß, wie schwer es dir fällt, mich mit zu dir zu nehmen, und ich will einen Weg finden, um dich zu unterstützen", erkläre ich. "Und ich weiß, wenn du jetzt nochmal da 'runtergehst, dann ist das für dich schwer, wieder 'raufzukommen. Ich will dir helfen. Ich will dir helfen. Ich will dir helfen."
Ich nehme ihn in die Arme.
"Echt - zwischen uns war eigentlich schon ganz schön viel", meint Rafa.
"Ja."
Er hat einen Einfall:
"Jetzt laß' uns nochmal einen Schritt zurückgehen und dann nochmal von vorne anfangen. So - wir haben uns jetzt eben erst kennengelernt, und ich find' dich absolut schick, und ich schlepp' dich jetzt ab. Wir machen jetzt ein richtig schönes Blind Date."
"Ja."
"Das ist jetzt unser Rollenspiel. Spielst du das Rollenspiel mit mir?"
"Ja."
"Du bist Hetty, nicht?"
"Ja. Und du bist Rafa, nicht?"
"Ja."
"Wie bist du denn so drauf?" erkundigt sich Rafa. "Würdest du einfach mit einem so mitgehen, den du eben mal so kennengelernt hast?"
"Mit dir will ich mitgehen."
Ich schaue ihn begeistert an und sage:
"Du bist süß. Du bist süß."
"So - jetzt stell' dich mal da hin", bestimmt Rafa, "und jetzt umarm' ich dich."
Er greift unter meine offenen Mäntel und umschlingt meinen Körper, wobei er auch zärtlich-verlangend meine Oberweite streift. Er drückt mich so fest an sich, daß er mich fast zerdrückt. So seltsam es klingt - dieser Klammergriff ist für mich verbunden mit einem tiefen Gefühl der Befreiung. Ich bin in seinen Armen reglos und überwältigt.
"So, jetzt hebe ich dich hoch", kündigt Rafa an, "und du bist ganz leicht."
Er hebt mich ein Stück in die Höhe. Dann greift Rafa meine Schultern, betrachtet mich von oben bis unten und sagt tadelnd:
"Wie siehst du'n aus?"
Ich zucke die Achseln.
"So - stell' dich jetzt mal hin", befiehlt er. "So ..."
Ich gebe ihm meine Taschen und meinen Schirm, und er lehnt alles an seinen Koffer, der in der Ecke steht. Dann drapiert Rafa mir die Mäntel neu.
"So ... und so ... und so ...", sagt er geschäftig. "Ja, soo ist das schick ... ach nee, da ist ja ein Kragen, und da ist ja keiner; dann ist hier dafür einer ... so ist das schön, der Kutschermantel ..."
Rafa legt mir den angeschnittenen Schal meines Swingers um die Schultern wie das Volant eines Kutschermantels.
"So, jetzt ist mein Haarband 'rausgegangen", teile ich ihm mit.
In seinem Eifer hat Rafa darauf nicht geachtet.
"Nein, das ist noch drin", meint er nach einem prüfenden Blick.
"Ja, das fällt aber gleich 'raus", erwidere ich ruhig. "Dann mußt du mir das jetzt neu binden."
Ich drehe mich um, damit er es binden kann. Er zieht das von schwarzem Organza umhüllte Haargummi ganz heraus und bemerkt:
"Das sind aber nicht viele Haare."
"Nein, das ist auch eine Kunst, das zu binden."
"Aber für einen Rafa ist das kein Problem."
"Nein."
"Oh ... Moment mal ..."
Er wuselt das Haarband wieder halbwegs zurecht; allerdings bindet er den Knoten so locker, daß das Band kaum Halt hat.
"So, ist es gut?" fragt er.
"Nein", antworte ich ehrlich. "Aber das macht nichts."
Ich ziehe ihn an mich, und wir stehen so da, ineinander versunken. Macro kommt vorbei und staunt:
"Oh - was ist das denn?"
Er verschwindet in der Herrentoilette.
"Ich will dich kennenlernen", sagt Rafa zu mir, bittend, schüchtern und sanft. "Willst du mich auch kennenlernen?"
"Ja."
"Lernt man sich auch kennen beim Sex?"
"Ja."
"Nein, das ist etwas ganz anderes."
Rafa küßt meine Halsbeuge und fragt dicht an meinem Ohr:
"Magst du mich?"
"Ich liebe dich."
"Oh, nein!" stöhnt er gequält. "Oh, nein! Du liebst irgendjemanden, aber nicht mich!"
"Nein, ich liebe dich. Wen sollte ich denn sonst lieben?"
"Na, jemand anders."
"Ja, wen denn?"
"Was weiß ich - halt jemand anders."
"Nein, ich liebe dich. Genau nur dich."
"Aus was für einem Grund solltest du mich lieben?"
"Ich liebe dich, weil du du bist."
Ich fahre ihm durchs Haar, und er schüttelt unwillig den Kopf.
Rafa stellt sich neben einen Spiegel und sucht in dem roten Licht eines Strahlers in seinem Portemonnaie nach Münzgeld. Ich kuschle mich an seine Schulter.
"Ich liebe dich, eben weil du du bist", sage ich ernst. "Ich liebe dich."
Ich sehe sein Profil und das zu einem kinnlangen Pagenkopf geschnittene Haar, und ich denke:
"So sieht er aus, und so soll er aussehen. Ich vermag mich nicht für irgendeinen anderen zu entscheiden."
"Hast du 'ne Mark?" fragt mich Rafa. "Ich brauch' noch Zigaretten."
"Ja, ich habe eine, irgendwo in meiner Tasche. Wenn nicht im Portemonnaie, dann ist sie irgendwo unten in meiner Tasche. Ich habe nämlich vorhin, als ich bei 'McGlutamat' in die Tasche geguckt habe, eine Mark drin gesehen ... So, im Portemonnaie ist keine, aber in meiner Tasche ist auf jeden Fall noch eine drin."
Ich finde das Markstück und gebe es Rafa. Er gibt mir dafür zwei Fünfzigpfennigstücke. Die stecke ich lose in die Tasche.
Rafa holt sich Zigaretten aus dem Automaten, der dicht bei uns vor der Bürotür steht.
"Ich will mit dir schlafen", sagt er dann. "Darf ich mit dir schlafen?"
"Ich will auch mit dir schlafen", erwidere ich, "aber du weißt, es gibt da bestimmte Hemmungen."
"Darf ich dich ausziehen?"
"O.k., du darfst mich ausziehen", seufze ich und kuschle mich an seine Schulter.
Ich will ihm nicht von vornherein zu viele Hindernisse in den Weg legen.
"So, und jetzt umarmst du mich", bestimmt Rafa.
Ich lege die Arme um seine Taille und drücke ihn an mich, so fest ich nur kann. Ich schmiege mich an seinen Körper.
"Oh, ist das ein schickes Umarmen!" seufzt Rafa. "Oh, ist das ein schickes Umarmen! Jetzt ... schling' deine Beine um mich. - Ach, du kannst das?"
"Aber du mußt unterfassen, sonst rutsch' ich 'runter."
"Ach, ja."
Er faßt unter mich und fängt an, sich mit mir zu drehen; es ist wie eine Fahrt im Karussell. So hat Rafa sich auch mit mir gedreht, als er mich Anfang des letzten Jahres in der "Halle" auf die Pressetribüne "entführt" hat.
"Oh ... ist das schön ... ist das lustig ...", freut sich Rafa.
"Ja, ich finde das auch schön", sage ich und kuschle mich an ihn. "Oh - ich rutsche 'runter."
"Ah, ist das die Schwerkraft?"
"Ja, das ist die Schwerkraft. - Mein Haarschleife geht gleich 'raus."
"Nein, die's noch drin."
"Nein, sie geht gleich 'raus."
"Nein, sie's noch drin."
"Ja, noch ist sie drin, aber nicht mehr lange."
Auf dem Fußboden liegen Schminkstifte. Sie sind Rafa aus der Manteltasche gefallen, als wir uns gedreht haben. Er sammelt sie wieder ein.
Es ist 4.53.
"Hetty", sagt Rafa, "wir haben den Zug verpaßt."
"Ja, und wir werden den nächsten nehmen. Und deshalb gehen wir jetzt auch gleich los, damit wir den nicht auch noch verpassen."
"Da ist doch noch so viel Zeit!"
"Es ist aber besser, wir gehen jetzt los. Sonst schaffst du es nicht, mitzukommen."
Ich muß Rafa dauernd umarmen und streicheln.
"Wenn man ein Blind Date hat, kann man auch mit dem Blind Date schmusen", erkläre ich. "Man kann das auch streicheln. Man kann das umarmen."
Seine Augen haben den traurigen Blick, den ich schon öfter bei ihm gesehen habe, wenn ich zärtlich zu ihm war.
"So, das ist unser Blind Date, und wir müssen jetzt zum Zug", sage ich so freundlich und sanft wie möglich. "Und wenn wir nicht rennen wollen, müssen wir jetzt auch losgehen."
"Ja - vielleicht will ich rennen?"
"Ja, gut, wir können ja auch rennen. Wir sind dann eben eher am Bahnhof."
"Nein, ich will vorher was trinken."
"Wir können ja auch im Bahnhof was trinken."
"Ja, ich will mich aber jetzt noch verabschieden."
"Dann schaffst du es nicht, wieder hochzukommen."
"Meinst du, du schaffst das, mich vierundzwanzig Stunden lang nicht zu bemuttern?" fragt Rafa.
"Ist gut, ich versuche es. Ich gebe mir Mühe."
"He - weißt du überhaupt, was mich das für eine gefühlsmäßige Überwindung gekostet hat, dich anzusprechen und dich zu fragen, ob du bei mir schläfst?"
Ich sehe ihm in die Augen und antworte ernst:
"Ja."
"Echt, weißt du das?"
"Ja, ich weiß, was es dich gekostet hat."
"Verstehst du mich?"
"Ja. Ich weiß, was das für dich bedeutet."
Ich zolle dem Tribut und lasse Rafa nach unten gehen.
"Kommst du auch wirklich gleich wieder?" frage ich unruhig.
"Doch, doch, ich komm' gleich wieder."
"Dann mach' aber schnell."
"Ja."
Rafa geht hinunter. Ich richte mir das Haarband neu. Kappa kommt zurück und will ins Büro.
"Sag' ihm bloß nicht, daß ich hier drin bin", rät er mir. "Er ist echt ein Lieber, aber er ist irgendwo noch nicht so ganz ausgereift."
"Ja, das stimmt."
Als Kappa wieder aus dem Büro kommt, warte ich immer noch auf Rafa. Kappa öffnet eine andere Tür. "Gib' doch Xentrix mal die Fun Boy Three wieder, wenn du sie hast", bitte ich ihn, "wenn du sie hast. 'Faith and hope and charity ... one for you and one for me ...'"
"Ja, ja ..."
Kappa geht in den Raum hinein und schließt die Tür hinter sich. Rafa kommt endlich zurück. Wir greifen nach unseren Sachen und gehen nach oben zur Kasse.
"So, Blanda, ich krieg' jetzt Geld", sagt Rafa.
Blanda nimmt dreißig Mark aus der Kassette, reicht sie ihm und ermahnt ihn wie ein Kind, das Taschengeld bekommt:
"Hier - aber daß du's nicht gleich wieder ausgibst!"
Dann will Blanda meine Getränkekarte haben. Die hat aber Janssen. Blanda möchte, daß ich sie hole. "Gut, dann hole ich die", seufze ich.
Ich schaue Rafa fest an und bitte ihn:
"Aber dann wartest du da oben, ja?"
"Ja."
Entgegen dieses Versprechens läuft Rafa mit mir die Treppe hinunter.
"Das ist wichtig", sagt er über die Getränkekarten. "Da hätte ich schon mal fast fünfzig Mark bezahlen müssen."
Ich nehme ihm das Verspechen ab, doch wenigstens oben im Flur zu warten, und er verspricht es.
Brinkus und Janssen tanzen immer noch zu "Maximizing the Audience".
"Die haben es gut", denke ich. "Die haben den Streß nicht."
Auf der Tanzfläche gibt mir Janssen die Getränkekarte. Ich will gerade zurück zur Kasse laufen, da muß ich sehen, daß Rafa schon wieder unten im Tanzraum ist. Ich denke an diese Geschicktlichkeitsspiele, bei denen man durch Hin- und Herschieben von Plastikquadraten ein bestimmtes Muster zusammenpuzzelt. Wenn man eine Reihe hat, ist irgendwoanders wieder etwas verschoben. Bei solchen Spielen übt man etwas, das in der Fachsprache als "Frustrationstoleranz" bezeichnet wird.
Rafa steht neben der Bar im Halbdunkel. Er kehrt mir den Rücken zu. Vor ihm steht die Bardame. Die beiden reden und reden und umarmen und umarmen sich. Ich würde der Maid am liebsten ein Vase auf dem Kopf zertrümmern. Allerdings wäre mir damit nicht gedient, denn der wahre Bösewicht heißt Rafa. Und dem kann ich nichts auf den Schädel hauen, weil ich alles Leid, das ich ihm zufüge, auch mir selbst zufüge. Ich liebe ihn, und dadurch empfinde ich ihn als Teil meiner selbst.
"Rafa, wir müssen jetzt wirklich gehen", unterbreche ich ihn bei seiner Beschäftigung.
"Ja, ja, gleich", sagt er, ohne sich umzuwenden.
Dann reißt er sich endlich los und geht mit mir hinauf in den blau erleuchteten Flur. Als wir uns der großen Treppe zum Ausgang nähern, hält Rafa inne und sagt:
"Es geht nicht. Ich bleibe doch hier."
"Nein, du kommst jetzt mit", erwidere ich und bin nahe daran, aus der Haut zu fahren. "Das war abgesprochen, und das war so ausgemacht, und du kommst jetzt mit."
"Maximizing the Audience" ist zuende. Es war das letzte Stück; die Musik schweigt. Ich ziehe und zerre an Rafa wie an einem störrischen Tier.
"So, du kommst jetzt mit", befehle ich.
"Nein!" ruft er. "Nein, ich bleib' hier! Ich kann nicht!"
"Ich habe jetzt den Zettel geholt, und jetzt gehen wir zum Bahnhof und fahren nach SHG."
"Nein, du gehst zum Bahnhof. Ich bleib' hier."
"Nein, wir gehen zusammen zum Bahnhof, wie wir es abgemacht haben."
"Nein, ich muß hier noch was machen", gibt Rafa vor, "und das muß ich jetzt noch machen."
"Nein, du mußt gar nichts machen. Wir gehen jetzt zum Bahnhof."
"Nein, ich bleibe hier."
"Nein, du kommst mit. Das war abgemacht, und du kommst jetzt mit."
"Nein, ich kann jetzt nicht - nein!"
"Komm' jetzt!"
Ich schiebe und ziehe so fest an ihm, wie ich kann.
"Versteh' mich doch!" ruft er. "Bitte, bitte, bitte!"
"Wir hatten das abgesprochen, wir fahren da jetzt nach SHG., und das soll nicht an diesem Zettel hängen!" rufe ich wütend und halte die Getränkekarte hoch.
"Echt, versuch' doch mal, mich zu verstehen", windet sich Rafa. "Versuch' doch mal, dich in mich hineinzuversetzen. Du kannst doch gar nicht ermessen, was für starke Gefühle ich habe."
Er guckt so gequält, daß ich glaube, er ist nahe am Weinen.
"Hab' doch ein bißchen Verständnis für mich!" fleht er. "Nur ein bißchen Verständnis, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte! Ich kann jetzt nicht mitkommen!"
Ich streiche ihm übers Haar.
"Na gut, dann kannst du aber wenigstens mit mir hochkommen", verhandle ich.
"Ja, das kann ich", ist Rafa einverstanden. "Hochkommen kann ich. Das macht ja eh keinen Unterschied."
Wir gehen die Treppe hinauf.
"So, und jetzt nehmen wir den Koffer mit", sage ich und zeige auf den CD-Koffer, den Rafa bei der Kasse abgestellt hat.
"Nein, nein, den kann ich auch hierlassen", meint Rafa, "den brauche ich morgen sowieso wieder."
Ich gebe Blanda die Getränkekarte.
"Ist alles o.k.?" fragt sie.
"Ja, alles o.k.", antworte ich.
Dann verlasse ich mit dem widerstrebenden Rafa das "Exil". Ich schleife ihn durch den Sprühregen. Nur sehr langsam geht es vorwärts.
"So, komm'", dränge ich.
"Ja, jetzt hör' mir doch mal zu!" bremst Rafa und flüchtet unter ein Vordach. "Hör' mir doch mal zu! Ich muß da noch was machen ... ich kann jetzt nicht ..."
"Ja, du kommst jetzt mit."
"Nein, ich komme nicht mit."
"Ja, wir gehen jetzt zum Bahnhof."
"Nein! Hör' mir doch mal zu ... ich muß da noch was beenden, das ist mir echt so wichtig ... oh, Mensch, versteh' mich doch ... echt, du willst mich gar nicht verstehen."
"Doch, ich will dich verstehen."
"Oh, was hast du für eine Ahnung ... echt, du weißt gar nicht, wie ich Tessa geliebt habe!"
Für diesen Satz möchte ich Rafa am liebsten zu einer Beichte zwingen, bei der er alle Einzelheiten seines Sexuallebens preisgeben muß. Ich werde noch wütender und ziehe ihn kalt und energisch mit mir.
"So, jetzt komm', jetzt gehen wir weiter", befehle ich.
"Nein, ich muß das erst beenden", bleibt Rafa störrisch und rührt sich nicht vom Fleck. "Echt, das ist mir so wichtig! Kannst du das nicht verstehen? Echt, kannst du mich nicht verstehen?"
"Doch, ich kann dich verstehen."
"Echt, das ist mir so wichtig ... das ist mir so wichtig ... echt, das ist für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt! Es gibt für mich gar nichts Wichtigeres."
"Ja, aber wir gehen jetzt zum Bahnhof, wie es abgesprochen war."
"Jetzt hör' mir doch mal zu, ja?" verlangt Rafa. "Jetzt hör' mir doch einfach nur mal zu."
"Gut, aber erst gehen wir zum Bahnhof."
"Ja, Mensch, jetzt - jetzt versteh' mich doch mal. Jetzt hör' mir doch mal zu. Hör' mir doch mal zu. Hör' mich mal an. Hör' mich mal an."
"Ja, ich höre dich an - aber nur, wenn wir gehen. Nicht, wenn wir stehen; nur, wenn wir jetzt gehen. Und zwar zum Bahnhof."
"Nein, ich gehe nicht mit zum Bahnhof."
"Doch, wir gehen jetzt beide zum Bahnhof."
Ich ziehe Rafa weiter den Bürgersteig hinunter, in eine stille Nebenstraße.
"Echt, du interessierst dich überhaupt nicht für meine Gefühle", beschwert er sich. "Du interessierst dich nur für deine Gefühle."
"Nein, das stimmt nicht. Ich interessiere mich genauso für deine Gefühle."
"Echt, du willst mich gar nicht verstehen. Sonst würdest du mir zuhören."
"Ich höre dir ja zu. Aber ich höre dir nur zu, wenn wir laufen. Und wir laufen jetzt zum Bahnhof."
"Nein, ich gehe jetzt zurück ins 'Exil'."
"Nein, du kommst jetzt noch ein Stück mit. So, noch ein Stück die Straße 'runter."
Ich überquere mit ihm die Straße.
"Nein, nicht umkehren", bremse ich ihn, als wir auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ankommen. "Wir gehen jetzt gemeinsam zum Bahnhof."
"Ich gehe nicht zum Bahnhof."
"Doch, wir gehen jetzt zum Bahnhof. Das war abgesprochen."
"Echt, du willst mich überhaupt nicht verstehen", klagt Rafa. "Ich habe das Gefühl, keiner versteht mich. Echt, der Mensch, der mich versteht - bist du das?"
"Ja. Ich verstehe dich."
Brinkus und Janssen kommen des Wegs.
"Na, ihr beiden?" sagt Brinkus.
"Den kenn' ich!" stellt Rafa fest und zeigt auf Janssen.
"Und den kennst du auch", sage ich zu Rafa und zeige auf Brinkus. "Der heißt Ortfried."
"Und du bist Rafa?" fragt Brinkus.
"Rafa? Wo ist Rafa?" fragt Rafa und schaut suchend nach rechts und links. "Rafa! Rafa! Wo bist du? Rafa!"
Er schreit seinen Namen die menschenleere Straße hinunter. Ich fasse ihn am Kragen, schüttle ihn etwas und sage zu Brinkus:
"Ja, das ist Rafa."
"Ich grüße dich", sagt Brinkus zu ihm.
Rafa wendet sich hilfesuchend an die beiden:
"He, nehmt sie doch mal mit."
"Nein, nimm' du sie mit", rät Brinkus. "Nimm' du sie mit."
Dann gehen die beiden weiter.
"So wir gehen jetzt auch", sage ich zu Rafa, "zum Bahnhof."
"Nein, das geht nicht ... Dienstag ... Dienstag sehen wir uns ... ich ruf' dich Montag an, und Dienstag treffen wir uns, in SHG. ... ich geb' dir jetzt ein echtes Rafa-Versprechen ... du weißt, was ich verspreche, das halte ich ... du kriegst ein echtes Rafa-Versprechen ..."
"Du hattest mir aber vorher schon versprochen, daß wir losgehen. Wir hatten vorher schon abgesprochen, daß wir miteinander nach SHG. fahren. Das war ausgemacht, daß wir zu dir fahren. Wir wollten den Zug nehmen um 4.53."
"Ja, ich dachte ja auch, daß ich es bis dahin schaffen würde, die Sache zu beenden, aber ich habe es nicht geschafft. Ich muß jetzt nochmal zurück."
"Nein, du mußt nicht zurück. Du kommst mit."
"Ich kann aber nicht. Es geht nicht. Ich muß das vorher noch beenden. Echt, das ist mir so wichtig wie nichts auf der Welt."
Während der heftigen Auseinandersetzung zieht Rafa sich immer wieder den Reißverschluß an seinem Hemd zu. Der Reißverschluß geht dauernd von selbst auf, weil es oben am Hals keinen Knopf gibt.
"Hast du Dienstag Zeit?" fragt Rafa ungeduldig. "Hast du Dienstag Zeit, ja oder nein? Hast du Dienstag Zeit?"
Ich will ihm nicht antworten.
"Ich frage dich noch einmal: Hast du Dienstag Zeit?" wird Rafa immer ungeduldiger. "Nun sag' schon, hast du Dienstag Zeit?"
"Ja, ich hab' Dienstag Zeit, aber ich möchte trotzdem, daß wir jetzt miteinander nach SHG. fahren."
"Das geht nicht. Das ist unmöglich."
Ich fasse unter seinen Mantel, und meine Hand kommt auf dünnen Organza zu liegen, unter dem ich warme, glatte Haut fühle.
"Versteh' mich doch bitte ...", fleht Rafa. "Ich muß da was beenden ... Das ist mir fast so wichtig, wie das mit dir anzufangen!"
"Was mußt du denn beenden?"
Rafa druckst herum.
"Hast du was mit einer Frau?" erkundige ich mich.
"Vielleicht", entgegnet er geheimnisvoll-bedeutungsschwer.
"Ah, du hast also was mit der Bardame", sage ich ihm auf den Kopf zu.
"O.k., ich hab' was mit der Bardame."
"Aber du weißt doch, daß du mich gar nicht ansprechen darfst, wenn du mit irgendwelchen Frauen was hast."
"Ich habe dich aber angesprochen", sagt Rafa trotzig. "Ich habe ja auch gedacht, ich schaffe es, die Sache zu beenden. Aber ich habe es nicht geschafft. Ich muß die Sache beenden, und dafür brauche ich Zeit. Kannst du noch zwei Tage warten, noch zwei Tage? Hetty! Dann ist der Weg für uns frei! Das hat's echt noch nie gegeben! Ich muß das hier beenden, und ich beende das jetzt, und dann ist der Weg für uns frei!"
Ich stehe abwartend vor ihm und schweige.
"Gib mir noch zwei Tage, dann steht uns die Welt offen, echt", verspricht Rafa. "He, noch zwei Tage! Kannst du noch zwei Tage warten? Nur noch zwei Tage! Dann bin ich frei. Weißt du, was das heißt? Ich bin frei. Hetty! Deine Chance!"
Ich schweige immer noch. Ich mag ihm nicht glauben.
"Jetzt sag' ja, sag' einfach nur ja", bittet Rafa. "Ich rate dir, sag' ja. Also, ist das o.k., ich ruf' dich am Montag an, und wir sehen uns am Dienstag in SHG.? So ... paß' auf, du kriegst jetzt ein großes Rafa-Ehrenwort."
"Das glaube ich dir aber trotzdem nicht, daß du das schaffst."
"Hast du Dienstag Zeit?"
"Ohne Ende."
"Ja, dann ruf' ich dich Montag an, ist das o.k.?" will er sich endlich verabreden. "Ist das o.k.?"
"Könntest du mir denn ein Pfand geben für das Versprechen?"
Rafa nimmt sofort seine Armbanduhr ab und reicht sie mir mit der Frage:
"Weißt du überhaupt, was das für eine Uhr ist?"
"Ja. Die Uhr hast du von deinem Vater geerbt, und die ist fünftausend Mark wert, und die ist die erste Quarzuhr, die es gab, und die ist das Wertvollste, was du besitzt."
"Na ... sie ist dreitausend Mark wert, und es ist eine der ersten Quarzuhren, die es gab."
"Na ja, immerhin."
"Und die Uhr will ich gern wiederhaben. Und dafür mach' ich echt - Wege ..."
"Ja, ich weiß."
"Die Erde sein wie Pizza, die Erde sein eine Scheibe."
"Ja."
"Weißt du - echt, ich glaube, du weißt gar nicht, wie wertvoll die Uhr ist."
"Doch. Das ist das Wertvollste, was du besitzt. Du hast deinen Vater sehr geliebt."
"Echt, und wenn du die verlierst, dann ... na, ich bringe dich nicht gerade um, und verbannen tue ich dich auch nicht, aber ich wäre doch etwas sauer."
"Nein, die verliere ich nicht."
"Meinst du, du kannst darauf aufpassen?"
"Ja, ich kann darauf aufpassen."
"Paßt du auch wirklich drauf auf?"
"Ja, da passe ich drauf auf."
"Echt, ich glaub', ich weiß gar nicht, was ich da mache."
Ich lege die Uhr an, wie ich es schon im vorigen Jahr im "Elizium" getan habe. Rafa küßt mich.
"Hier, Moment mal, so -", sagt er dann und spitzt die Lippen, "mach' mal so."
Ich tue es ihm nach, und wir küssen uns auf diese Weise. Rafa schaut mich an und meint:
"Das ist schick."
Und er küßt mich noch einmal so und dann noch einmal wie vorher, mit geöffnetem Mund. Ich lehne mein Gesicht an seine Schulter.
Rafa geht ein Stück über die Straße, dem "Exil" zu; ich bleibe auf dem Bürgersteig.
"Kannst du mir sagen, in welcher Zeitspanne du mich anrufst?" frage ich ihn.
"Achtzehn Uhr."
"Wenn du nicht anrufst, kann ich dich dann anrufen?"
"Ja - aber ich ruf' dich an", versichert er. "Echt ... ich glaub', du weißt gar nicht, was in der Uhr steckt."
"Doch. Ein Menschenleben."
"Also, dann - bis Dienstag", verabschiedet sich Rafa. "Montag rufe ich dich an, Montag um achtzehn Uhr."
"Ja."
"Ich glaub', heute ist echt was passiert."
"Ja."
Rafa verschwindet im Dunkel. Ich steige ins nächste Taxi und gebe sorgsam acht auf die Uhr.
Carl hat mir am nächsten Tag am Telefon erzählt, wie das Gespräch abgelaufen ist, das er im "Elizium" mit Rafa geführt hat.
Carl begegnete Rafa zuerst an der Bar. Rafa reichte Carl sofort die Hand.
"Oh, heute mit Brille?" bemerkte Carl.
Rafa murmelte etwas.
Zu der Zeit, als ich im "Elizium" auf der Galerie saß und dachte, Rafa sei schon fort, stand Carl in dem Winkel am Fenster. Rafa kam zu ihm und fragte ihn:
"Wie findest du meine neue Hose?"
"Oh, ich finde das ganz lustig mit dem Kuhmuster."
Carl mag Kuhmuster unter anderem deswegen, weil sein geliebter Saverio auch gerne Kuhmuster trägt.
Rafa wollte Carl noch mehr zeigen. Er hob sein Hemd hoch, so daß sein Unterhemd sichtbar wurde. Es war aus schwarzem Organza.
Rafa wirkte sehr aufgedreht und gierig. Es schien, als wenn er Carl verführen wollte. Er bot Carl eine Zigarette an und einen Schluck Bier. Rafa wollte sich auch selbst eine Zigarette anzünden, war aber so flattrig, daß er sie falschherum in den Mund steckte. Er bemerkte das allerdings noch rechtzeitig, ehe er sie am verkehrten Ende anzündete. Mit dem Anzünden gab es ebenfalls einige Schwierigkeiten. Rafas Feuerzeug wollte nicht so recht. Carl lieh ihm seins.
"Was denkst du?" fragte Rafa.
Als Carl nicht gleich antwortete, herrschte er ihn an:
"Was, du sagst nichts? Warum sagst du nichts? Ich hab' 'ne hohe Meinung von dir. Das muß wie aus der Pistole geschossen kommen!"
Carl erklärte ihm, daß er über solche Fragen immer erst ein wenig nachdenken müsse; außerdem sei es eine ziemlich blöde Frage.
"Was ist dein Lieblingsstück?" erkundigte sich Rafa.
"Ich hab' da mehrere."
"Sag' mal eins."
"'Bunkertor 7' von :wumpscut:."
Rafa fragte Carl, wie er ein bestimmtes Synthi-Pop-Stück findet, das regelmäßig im "Exil" läuft.
"Find' ich nicht so gut", war Carls Antwort.
Rafas ungeduldige Fragerei erinnerte Carl sehr an mich. Er mußte wieder einmal denken, daß Rafa und ich ein schönes Paar abgäben.
"Was fühlst du?" fragte Rafa als Nächstes.
"Noch so eine blöde Frage", bemerkte Carl. "Soll ich dir auch mal eine blöde Frage stellen? Ach ... mir fällt jetzt keine ein."
Rafa freute sich diebisch.
"Wo ist eigentlich unsere gemeinsame Freundin?" erkundigte er sich dann.
"Gemeinsame Freundin?"
"Hetty!"
"Eben stand sie noch da vorne an der Ecke", gab Carl Auskunft. "Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht."
Rafa wollte Carl noch einen Schluck Bier anbieten, doch dieser lehnte ab. Das gefiel Rafa gar nicht.
"Ich kann dich ja mal an die Sache mit der Zitronenscheibe erinnern", drohte er.
Violet kam und wurde Rafa vorgestellt.
"Du bist Violet?" fragte er.
"Ja."
Rafa bot Violet auch eine Zigarette an. Carl sollte ebenfalls eine weitere bekommen, obwohl seine erste noch gar nicht aufgeraucht war. Carl mußte dankend ablehnen.
Rafa fragte Violet, wie alt sie sei.
"Hast dich aber gut gehalten", meinte er, als sie es ihm sagte.
Rafa brachte noch mehr Frechheiten. Er raunte Carl zu:
"Los, komm', wir lästern jetzt über Violet. Ich zähl' bis drei, und dann lachen wir."
Rafa zählte bis drei und lachte. Carl lachte aber nicht mit, weil ihm das zu dämlich war. Beeindruckt sagte er:
"Du spinnst ja ganz schön."
"Danke!" sagte Rafa.
"Preacher Man" von den Fields of the Nephilim begann, und ich erschien auf der Tanzfläche. Rafa wußte nun, wo ich war, und er hatte genug getrunken, um auf mich zuzugehen. Leider hat sein Mut dann nicht mehr gereicht, um mich mit nach SHG. zu nehmen ...
Dafür habe ich dieses Mal etwas mehr von ihm bekommen als leere Versprechungen und dahergeschwatzte Ehrenworte. Ich habe die Uhr, und daß sie fehlt, wird Rafa immer dann merken, wenn er wissen möchte, wie spät es ist. Fast elf Jahre lang trägt er diese Uhr bereits am Handgelenk, und davor hat ihn sein Vater auch schon mit Uhren versorgt. Rafa ist an die Uhr gewöhnt. Und Gewohnheiten gibt er ungern auf.
Vielleicht ist Rafa auch schon an mich gewöhnt? Vielleicht gehöre ich schon so zu seinem Leben wie eine Uhr?
Ich möchte wissen, ob Rafa auch schon für andere Leute - insbesondere Frauenzimmer - die Uhr abgenommen hat. Dann nämlich würde es sich nur um eine Masche handeln, und es hätte keine besondere Bedeutung.
Wie dem auch sei - in Einem bin ich unerbittlich: ehe Rafa nicht sein Versprechen einlöst und ich ihn in ungebundener Form in SHG. treffe, bekommt er die Uhr nicht wieder.
Die Uhr liegt friedlich vor mir auf dem Schreibtisch. Sie geht eine Minute nach, und Datum und Wochentag stimmen auch nicht. Außerdem täte ihr eine Reinigung beim Juwelier ganz gut.
Am Montag rief ich abends um halb acht bei Rafa an, weil er selbst nicht angerufen hatte. Die Mutter meldete sich:
"Dawyne?"
"Guten Abend, hier ist Hetty. Ich würde gern Rafa sprechen."
"Wer ist da?"
"Hetty."
"Ich gucke."
Sie läuft zu seiner Tür und ruft:
"Rafa! Telefon!"
Sie muß nur einmal gegen die Tür hauen, da kommt er schon.
"Halloo!" ruft er nett und aufgedreht ins Telefon.
"Na?"
"Na?"
"Und?" frage ich. "Wie sieht's aus?"
"Du wolltest mir meine Uhr noch wiederbringen."
"O.k., wann wollen wir uns denn treffen - bei dir?"
"Morgen?"
"Ja, das paßt mir sehr gut. Und? Ist alles klar?"
"Ja, null Zeit. Aber sonst - alles klar."
"Bist du solo?" frage ich kurz und scharf.
"Na - ja."
"Ah, das ist sehr schön", bin ich wieder freundlich. "Wann soll ich sie dir denn in SHG. wiederbringen?"
"Ja - morgen."
"Und um wieviel Uhr?"
"Sechzehn Uhr."
"Oh, das paßt mir sehr gut", meine ich. "Gut, dann komme ich morgen um sechzehn Uhr nach SHG. Holst du mich denn dann von Bahnhof ab?"
"Mit welchem Zug kommst denn du?"
"Ich hole nochmal eben den Fahrplan."
"Nee, brauchst nicht holen, ich hab', wie gesagt, null Zeit. Ich weiß die Züge aus dem Kopf."
"Welcher Zug ist dir denn recht?"
"Ja, Moment, mal überlegen ... da fährt einer um ... da fährst du los um ... 15.08 oder ... ähm ... 14.53 oder ... Moment ..."
"Du, ich hole mal eben den Fahrplan, das dauert ... ähm .. zehn Sekunden. Bin gleich wieder da."
Ich ziehe den Fahrplan aus dem Regal und eile zurück ans Telefon.
"Hallo?" sage ich.
"Ja?"
"Bin wieder da", teile ich mit. "Ich hab' jetzt den Fahrplan ... mal gucken bei 'H. - Abfahrt' ... ja, da fährt einer um 15.08 in H. ab und kommt um 15.38 in SHG. an. Ist dir das recht?"
"Na - ja."
"Gut, dann bin ich um 15.38 in SHG. Und du holst mich vom Bahnhof ab."
"Ja."
"Und was ist, wenn du mich nicht vom Bahnhof abholst?"
"Naa ... was soll dann sein?"
"Ja, was ich dann mache. Was mache ich dann, wenn du mich nicht abholen solltest?"
"Wieso fragst du?"
"Ich wollte nur wissen, was ich mache, wenn ich ankomme, und du bist gar nicht da."
"Na ja, du kommst zu mir."
"Ja ... aber ich hoffe doch schon, daß du mich vom Bahnhof abholst."
"Ja, wieso fragst du überhaupt?"
"Na ja, ich weiß es ja jetzt, ich komme dann zu dir, und ich würde mich sehr freuen, wenn du mich vom Bahnhof abholen würdest. O.k. dann, ne - alles klar?"
"Na - ja."
"O.k., dann bin ich morgen um 15.38 in SHG. auf dem Bahnhof. Tschüß dann."
"Tschüß."

.






.

Der Dienstag war strahlend sonnig, aber sehr kalt. Reif lag auf den Feldern, und Eisbrocken lagen in den Straßen.
Als ich in SHG. aus dem Zug stieg, sah ich Rafa zuerst nicht. Ich ging ein paar Schritte, und da entdeckte ich ihn; er wartete am Ende des Bahnsteigs, wo eine Treppe hinuntergeht zur Unterführung. Ich lief zu ihm und legte meine Arme um seine Schultern.
"He!" rief er lächelnd. "Du stürmst ja auf mich zu wie so'n ..."
Er hatte die schwarze Jacke mit den Schößchen an und dazu eine enge schwarze Hose. Er trug Creolen in den Ohren. Wie am Samstag ließ er seine Haare offen herunterhängen; allerdings schien er sich seit dem Wochenende nicht rasiert zu haben. Infolgedessen wirkte er etwas schlampig.
Rafa wollte sich nicht umarmen lassen. Ich merkte schnell, daß er am heutigen Tage sperrig und widerspenstig war.
Als wir in die Unterführung hinunterstiegen, sagte ich zu ihm:
"Ich habe auch deine Uhr dabei."
"Das ist schön."
"Bist du denn auch noch solo?"
"Ja."
"Es ist schön, daß du solo bist. Sonst hättest du nämlich die Uhr nicht wiedergekriegt."
"Wieso hätte ich die Uhr nicht wiedergekriegt?"
"Weil wir das so verabredet hatten."
"Das hatten wir überhaupt nicht verabredet", meint Rafa. "Wir hatten verabredet, daß du mir die Uhr wiederbringst, sonst nichts."
"Nein", widerspreche ich. "Jedenfalls finde ich es schön, daß du mich vom Bahnhof abholst."
"Na, ja", sagt Rafa kurz und achselzuckend.
Wir unterqueren die Gleise. Rafa läuft mit mir seitlich ums Bahnhofsgebäude herum.
"Ach, dann kannst du mir ja gleich meine Uhr geben", fällt ihm ein. "Ich guck' da echt am Tag tausendmal drauf. Da fehlt echt was."
Ich hole die Wertsache aus meinem Pompadour und gebe sie Rafa zurück. Er macht sich die Uhr um. "So", sagt er erleichtert, "fühlt sich gleich besser an. Ah, fühl' ich mich gleich wieder wohler."
"Siehst du? Ist ganz unversehrt geblieben."
"Ja, aber ... sie ist kalt", beklagt sich Rafa. "Hättst du in einem Wärmebehälter mitnehmen müssen."
"Ach, du meinst wohl, an meinem Handgelenk."
"Ich sagte 'Behälter'."
"Ah, ja. Ein Thermobehälter. Na ja, wenn man sie elf Jahre ununterbrochen am Handgelenk hat, gewöhnt man sich schon sehr dran."
"Was heißt 'ununterbrochen am Handgelenk'? Ich mach' die schon manchmal ab. Zum Duschen mach' ich sie meistens ab. Außerdem habe ich noch mehr Uhren. So ist das nicht."
"Ja, ich weiß. Du hast eine wie die, mit der die ersten Astronauten zum Mond geflogen sind. Davon gab es vor einiger Zeit eine Replik."
"Das war nicht die Uhr, das war nur das Werk. Und das war halt ein Werk von Omega, und wenn das eins ist, was sie den Astronauten geben, dann muß es ja ein Zeichen dafür sein, daß es eine ziemlich gute Uhr ist."
"Ja."
"So, und was jetzt?" fragt Rafa, als wir die Bahnhofsstraße hinuntergehen.
"Was du willst", antworte ich ruhig. "Wir können zu dir gehen ... wir können spazierengehen ... was du willst."
"Also, ich find's hier saukalt."
"Ja, gut, dann gehen wir zu dir."
"Ich hab's aber noch gar nicht geschafft, aufzuräumen", gesteht Rafa. "Bei mir sieht's voll chaotisch aus. Ich habe es gerade noch geschafft, das Bett zu machen. Echt, das sieht aus wie beim Sockenschuß."
"Das glaube ich nicht, daß es so widerlich und dreckig aussieht."
"Na ja, da stehen halt zehn leere Bierkisten 'rum ..."
"Warum stehen da zehn leere Bierkisten 'rum?"
"Na ja, erst steht da nur eine Kiste, dann zwei, dann sind es noch zu wenig, um sie 'rauszubringen. Und irgendwann stehen vier da, und dann sind es schon zu viele; dann wartet man, bis ein paar Freunde kommen, die einem helfen."
"Warum fällt es dir denn so schwer, aufzuräumen?"
"Also, meistens habe ich dafür keine Zeit. Und wenn ich mal Zeit habe, dann habe ich keine Lust."
"Wie lange herrscht in deinem Zimmer denn schon so ein Chaos?"
"Seit einer Woche."
"Daß meine Wohnung jetzt so ordentlich und durchgestylt ist, liegt unter anderem an dir."
"An mir?"
"Als ich vor drei Jahren hier war, sah dein Zimmer ja superordentlich aus, durchgestylt wie ein Gesamtkunstwerk", erinnere ich mich. "Und da habe ich gedacht, was der kann, kann ich auch. - Ja, Siddra, wenn die bei dem blöden Jaranek ist, da macht die dann noch sauber ... und warum? Weil sie sich dann selbst wohler fühlt. Aber ist natürlich verkehrt, das zu machen."
"Wer ist Siddra?"
"Die kennst du. Die ist mal mit Luisa befreundet gewesen; die müßtest du eigentlich kennen."
"Ja, jetzt weiß ich, wen du meinst."
"Siddra ist jetzt mit dem blöden Jaranek zusammen."
"Und wer ist Jaranek?"
"Das ist ein Kumpel von U.W."
"Wer ist das?"
"Ach, der ist vor allem dick."
"Ah ja, von dem habe ich meine Rheingold-CD's."
Wir kommen zu dem Haus mit der Galerie. Rafa hält mir die Haustür auf und sagt:
"Soo ... bitte sehr."
Da ist es wieder, das mit netten Bildchen und anderen freundlichen Kunstwerken verzierte Treppenhaus. Rafas Mutter verziert alles. Rafa verziert auch alles, aber bei ihm ist das viel düsterer.
Im Treppenhaus und oben in der Wohnung ist es noch fast so, wie ich es in Erinnerung hatte.
"Da geht's nicht 'rein", bremst Rafa, als ich mich der Tür seines "Wohnzimmers" zuwende. "Es geht nur da 'rein."
Er öffnet die Tür zum "Schlafzimmer".
Man sieht dort noch die Reste von dem, was das Zimmer einst war - ein Gesamtkunstwerk. Die von Lichterketten umrahmten Spiegel sind da noch, der Kronleuchter auch. Aber der Anstrich der Wände wirkt mitgenommen. Der PVC-Boden im Schachbrettmuster ist reinigungsbedürftig. Ein Tisch ist hinzugekommen, ein runder Acryltisch mit einem Acrylstuhl. Der Tisch ist voller Geschirr, Aschenbecher, Zettel und anderem Krimskrams. In einer Ecke steht ein stählernes Werkzeugregal mit Videokassetten; solch ein Regal habe ich auch, nur ist meines höher. Im obersten Fach von Rafas Regal sehe ich meine Kassetten liegen. Ich betrachte sie oft, komme aber nicht auf den Gedanken, sie einzustecken. Auf Rafas Videoregal lagert ein Monitor, der altertümlich aussieht. Ich frage ihn, ob das ein Computermonitor ist und was genau für einer.
"Das ist ein ganz normaler Monitor", erklärt Rafa. "Den kannst du für alles nehmen."
Beim Regal sind die zehn leeren Bierkisten aufgestapelt, von denen Rafa erzählt hat.
Das Bett ist ganz niedlich gemacht; das Kopfkissen liegt als auf der Spitze stehendes Quadrat über der Decke. Es ist bedruckt mit einem Mond und Sternen. Ansonsten ist die Bettwäsche schwarz. Am Fußende des Bettes steht ein vollgehängter Kleiderständer, und unter dem Ständer liegen auch noch Haufen von Sachen. Die Jacke mit den Schnallen hängt an einem Scharnier zwischen den beiden Zimmern, dort, wo irgendwann eine Tür war. Rechts und links von dieser Türöffnung hängen kitschige Portraits, die aussehen, als kämen sie vom Flohmarkt. Rechts hängt ein leidender Jesus und links eine leidende Maria.
Ich mache einen Schritt in das angrenzende "Wohnzimmer". Dieses ist endgültig zum Studio geworden. Die Grabsteine mußten in die Ecken ausweichen. An den Wänden sind lauter Keyboards befestigt und andere Geräte und auch Computer. Davor steht ein Schemel. Es ist dunkel in dem Raum. Nur ein Monitor leuchtet. An der Decke hängen Papierlaternen, die mich an Rafas Version des Kinderliedes "Laterne" erinnern.
"Hat tolle Geräte und macht nur Mist", hat Derek einmal über Rafa gesagt. "Übernimmt nur Klänge, macht nichts selber."
"Das könnte hinkommen", denke ich.
An der Wand mit den Keyboards hängt als letzte Grabeszier noch ein großes Kreuz, das mit Todesanzeigen beklebt ist.
Ich möchte mich ein wenig in dem "Studio" umschauen, doch Rafa läßt es nicht zu.
"Nun los", sagt er ungeduldig und zeigt aufs Bett, "nun los, nun setz' dich schon hin."
Er hat sich die Jacke ausgezogen und sitzt auf dem Acrylstuhl, der etwa eineinhalb Meter von dem Bett entfernt steht. Rafa trägt ein T-Shirt mit "W.E"-Aufdruck, das schon sehr verwaschen und auch nicht ganz sauber ist.
"Er will richtig ätzend sein", denke ich.
Es ist noch sonnig draußen, und ich möchte gern das Tageslicht sehen, bevor es dunkel wird.
"Darf ich die Jalousie hochziehen?" frage ich und greife nach der Schnur.
"Nein!" verbietet Rafa. "Ich mache die Jalousie nie hoch."
"Kann ich wenigstens die Gardine ein bißchen wegschieben?"
"Nein!"
"Warum machst du die Jalousie denn nie hoch?"
"Weil ich tagsüber meistens sowieso nur schlafe, und nachts habe ich hier meine eigene Sonne, und um das da draußen brauche ich mich nicht mehr zu kümmern. Ich mache die Nacht zum Tage."
"Das ist schon ein depressives Verhalten", sage ich nachdenklich. "Ich meine, ich habe ja auch meistens meine Jalousien unten. Hast du ja gemerkt."
Bevor ich Rafas Wunsch folge und mich aufs Bett setze, bitte ich ihn:
"Setz' dich doch zu mir."
"Nein, ich sitz' auf dem Stuhl."
"Da ist aber der Abstand zu groß."
"Das ist genau der richtige Abstand zu dir."
"Du bist trotzig", stelle ich fest. "Du bist widerspenstig, halsstarrig und starrsinnig."
"Ja, ich bin trotzig."
"Süß, wie du das sagst."
"So, und was jetzt?" fragt Rafa, als ich sitze. "Willst du was trinken?"
"Ja, was hast du denn da?"
"Cola ... oder Tee."
"Cola. Bring' mir doch Cola."
Rafa bringt ein Glas und schenkt mir Cola ein. Sich selbst gießt er ebenfalls etwas ein.
"Nein, wie beim Sockenschuß sieht's bei dir nicht aus", finde ich. "Das Zimmer vom Sockenschuß war vermüllt, und deines ist lediglich ramschig. Das geht noch. Da ist noch Struktur drin; da sieht man, da wird noch was gemacht, was hergestellt, was gebastelt. Beim Sockenschuß, da war alles nur noch Junk. - Warum räumst du eigentlich die Bierkisten nicht weg?"
"Ich sage ja - entweder ich habe keine Zeit, oder ich habe keine Lust."
"Der Raum war dein Gesellenstück. Du hast ihn also 1992 gestaltet. Als ich dich damals besucht habe, war das Ganze noch relativ neu. Jetzt ist es doch schon ziemlich abgebraucht."
"Tja, das ist ja auch kein Museum. Das sind Zimmer, in denen gelebt wird."
Ich bin der Meinung, daß zum Leben auch Licht, Wärme und Ordnung gehören. Allerdings glaube ich nicht, dem Rafa das jetzt schon vermitteln zu können.
"Los - erzähl' mal was", fordere ich ihn auf.
"Was soll ich erzählen?" fragt er. "Ich weiß nicht, was ich erzählen soll."
"Ja, gut, dann erzähle ich was. Heute hat einer zweitausendsiebenhundert Mark Geldstrafe bekommen, zuzüglich der Kosten des Verfahrens, weil er mich durch einen Flur geschmissen hat."
Rafa erkundigt sich, wie das passiert ist, und ich schildere es ihm.
"Es verschafft mir doch eine gewisse Genugtuung", sage ich abschließend. "Das wäre jetzt das Neueste."
Als Nächstes erzähle ich von einer Doku über Vampirismus, die ich unlängst im Fernsehen angeschaut habe. Rafa hat diese Doku ebenfalls gesehen, und so können wir besonders gut darüber sprechen. Ich erzähle ihm, daß mich der Anblick der verwesenden Leichen noch immer sehr belaste.
"Du hast doch in deinem Zimmer selber so Sachen, die auch nicht viel anders aussehen", gibt Rafa zu bedenken.
"So ein schwarzes Gummiskelett ist doch viel weiter weg vom Leben als so eine verwesende Leiche, der man das Leben noch ansieht", meine ich. "Infolgedessen ist dieses Skelett für mich viel weniger belastend."
"Ja, das paßt zu dir, daß du Sachen magst, die weit vom Leben weg sind!"
"Es belastet mich auch, daran zu denken, daß jeder mal irgendwann so aussieht, es sei denn, er läßt sich feuerbestatten. Und wenn sich jemand feuerbestatten läßt, dann kommt gar nicht alle Asche in die Urne, sondern nur ein Teil; der Rest kommt auf die Kippe. Und ich will doch nicht auf der Kippe beerdigt werden."
"Das ist doch völlig einerlei, wo man beerdigt wird", findet Rafa. "Das kann dir doch egal sein."
"Ja, aber Friedhöfe sehen doch nicht wie Müllkippen aus. Die sind doch schön gemacht, dekoriert mit Grabsteinen und so weiter."
"Ja, für die Lebenden. Aber den Toten kann das doch egal sein."
"Ja, aber das bedeutet doch was. Stell' dir vor, dir stirbt jetzt ein Mensch weg, den du sehr liebgehabt hast, und dann beerdigst du den und denkst daran, daß der mal so furchtbar aussieht."
"Wenn einer tot ist, dann läßt du den doch nicht im Wohnzimmer 'rumliegen. Die Leute haben sich ihre Pestleichen ja auch nicht in die Wohnung gehängt."
"Trotzdem würde mich das belasten, wenn ich daran denke, wie ich als Leiche aussehe."
"Du und das Aussehen!" seufzt Rafa. "Immer dieses Aussehen! Dir ist das Aussehen immer zu wichtig! Guck' mal - wenn alle so aussehen - und wir sehen die längste Zeit so aus -, dann kann es einem doch auch egal sein."
"Wenn das Aussehen nicht wichtig ist, was ist dann wichtig?"
"Ja - das innen drin, die Gefühle."
"Wenn ich mir selber gefalle, dann fühle ich mich auch gut. Also hängt es doch schon zusammen, das Aussehen und die Gefühle."
"Na, wenn ich jetzt zum Beispiel ins Bodybuilding-Studio gehen würde ..."
"Oh nein, mach' das nicht!" rufe ich entsetzt. "Du siehst gut aus, so, wie du bist! Ich will dich gar nicht anders!"
"Mensch, ich will doch gar nicht ins Bodybuilding-Studio gehen", beruhigt mich Rafa. "Ich nehm' das doch nur als Beispiel."
Er wird geschäftig:
"So, willst du ein Glas Tee?"
"Ja, gerne."
"Aber ohne Zucker, ohne alles", warnt Rafa. "Schmeckt völlig ätzend."
"Ach nee, dann doch nicht. Mir reicht die Cola."
Er holt sich Tee aus der Küche und setzt sich wieder.
"Ich weiß, was wir noch machen könnten", sagt er. "Ich müßte noch ein paar Sachen einkaufen. Wir könnten noch einkaufen gehen."
"Ja gut, dann machen wir das doch."
"Ah, das hat noch Zeit."
"Erzähl' mal was", bitte ich.
Er mag nichts erzählen; also frage ich:
"Warum warst du denn nicht bei der Halloween-Party?"
"Da war ein Konzert ... ach, nein - da war ich im 'Limited'."
"Warum warst du denn nicht im 'Exil'?"
"Wieso, ich muß doch nicht auch noch im 'Exil' 'rumhängen, wenn ich frei habe."
"Ja, aber es war doch auch Kappas Geburtstagsparty."
"Der Geburtstag war doch am Montag. Da bin ich auch bei Kappa gewesen."
"Manchmal legst du ja auch im 'Contrast' auf, wie ich gehört habe."
"Ja - warum nich'?"
"Ja, kannst du ja ruhig."
Rafa nimmt einen Schluck Tee.
"Ach, der Tee schmeckt doch gar nicht so eklig", findet er. "Hab' ich was Falsches erzählt."
Ich gehe ins Bad. Es ist ordentlich, sauber und in Gelb gehalten. Die Tür ist sehr alt und aus dunklem, grobem Holz; das erinnert mich an Landhäuser und Fachwerkhäuser. In der Dusche liegt eine Flasche "Nivea for Men"-Pflege, ein Duschgel mit dem Duft, den Janssen verwendet. Als ich aus dem Bad zurückkomme, ist Rafa schon sehr ungeduldig geworden:
"Sag' mal, was machst du immer so lange im Badezimmer?"
"Ich muß halt auch immer nachschminken und Reparatur ... Ja, nun erzähl' du doch mal was."
"Warum soll ich was erzählen?" fragt Rafa patzig.
"Ich habe jetzt was erzählt, nun erzähl' du jetzt mal was."
"Nein."
"Und warum willst du nichts erzählen?"
"Das eine geht dich nichts an, das andere will ich nicht erzählen, und das dritte ist uninteressant."
"Ja ... besonders die dunklen Punkte in deinem Leben."
"Was für dunkle Punkte?"
"Na ja, deine zahlreichen Frauengeschichten."
"Wieso? Ich kann doch schlafen, mit wem ich will? Ist doch mein Recht? Ich bin doch ein freier Mensch?"
"Unter bestimmten Umständen aber nicht. Wenn du dich gebunden hast, kannst du das nicht mehr."
"Ich will mich aber nicht binden", behauptet Rafa. "Ich will mich überhaupt nicht binden. Das ist nur negativ."
"Aber eine Bindung ist das Wichtigste, was es gibt. Gefühle sind das Wichtigste, was es gibt."
"Gefühle sind nicht so wichtig", findet Rafa. "Heutzutage sind andere Dinge viel wichtiger. Was es heute gibt ... zehn Kriege auf einmal ... und die Atombombe ..."
"Gefühle sind das Wichtigste, was es gibt."
"Gefühle haben keinen Sinn."
"Das ist eine ganz depressive Haltung", sage ich nachdenklich. "Du glaubst nicht an die Liebe."
"Gefühle sind nicht wichtig", ist Rafa überzeugt. "Damit veränderst du die Welt nicht."
"Früher gab es auch schon Katastrophen. Früher gab es viele ebenso furchtbare Sachen. Da sind die Leute mit dreißig gestorben, und da gab es fürchterliche Bestrafungen und auch Tyrannei, und das hat es alles immer gegeben. Das äußere Gesicht hat sich gewandelt, aber das Prinzip ist gleich geblieben."
Ich erkläre meine Ansicht, daß ein Mensch nicht die ganze Welt verändern kann, daß er jedoch in einem begrenzten Rahmen dazu beitragen kann, die Welt zu verändern - selbst wenn sich dieser Rahmen auf seine Partnerbeziehung beschränkt. Ich stelle es als vermessen dar, die Welt umbiegen zu wollen, ohne das eigene Privatleben miteinzubeziehen.
"Jeder sollte zuerst vor seiner eigenen Tür kehren", fasse ich zusammen.
"Gefühle haben überhaupt keinen Sinn", wiederholt Rafa.
"Warum findest du, sie haben keinen Sinn?"
"Damit bewegst du doch nichts."
"Das heißt, du findest, Gefühle sind nur störende Nebeneffekte."
"Ja."
"Du wärst wohl am liebsten ein Mensch, der nur aus einem Computer besteht, wo Gefühle überflüssig sind."
"Ja."
"Vorhin hast du noch gesagt, Gefühle seien wichtig."
"Gefühle sind gar nicht wichtig."
"Was ist denn deiner Ansicht nach wichtig?"
"Die Energie."
"Was denn für eine Energie?"
"Daß man etwas macht, daß man etwas erschafft, daß man den Leuten etwas überbringt", beschreibt Rafa. "Daß man für jemand anderen da ist und der für einen, das ist überhaupt nicht wichtig, weil man damit nichts verändert. Damit bewegt man nichts."
"Damit bewegt man sehr wohl etwas - in dem anderen Menschen und in sich selbst."
"Wenn du immer nur für einen anderen lebst, dann hinterläßt du ja nichts."
"Doch, das tut man", versichere ich. "Man kann ja auch zu zweit etwas erschaffen."
"Und wenn die Beziehung vorbei ist, was hast du dann?"
"Die Liebe ist endgültig."
"Endgültig ist nichts, weil sich alles verändert."
"Ja, aber endgültig in dem Sinne, als sie bleibt."
"Liebe kommt und geht", meint Rafa.
"Liebe steht und wächst, wie ein Baum oder ein Strauch", übernehme ich die Gegenseite.
"Liebe! Wir sind im 20. Jahrhundert, fast im 21., und da ist das doch überhaupt nicht mehr angesagt, auch dieser ganze Ehequatsch", erwidert Rafa abfällig. "Das ist absolut unzeitgemäß."
"Aber das ist doch keine Sache der Mode."
"Wieso, das ist eben heute nicht mehr so, daß die Frau dann irgendeinen reichen Macker heiratet, der verdient und malocht, und sie ist zu Hause mit den Kindern. Das ist heute nicht mehr so."
"Ja, die Ehe als Wirtschaftsbündnis ist sicherlich überholt. Sie hat gewiß nicht mehr die Bedeutung, die sie im BGB hat. Die lehne ich selbst auch ab. Die Ehe hat jetzt halt eine andere Bedeutung."
"Was für eine Bedeutung?"
"Daß man sich ewige Treue schwört, ne?"
"Ewige Treue, wo gibt's denn das? Ewige Treue ist doch gar nicht mehr zeitgemäß."
"Aber es geht doch nicht um Moden, sondern um Menschen."
"Ewige Treue ist Stillstand", findet Rafa. "Außerdem, du weißt doch nicht, was morgen ist ..."
"Wenn man jemanden liebt, ist jeder Tag etwas Neues. Außerdem kann man auch ohne Trauschein glücklich sein."
"Glücklich sein ist kein Ziel."
"Warum ist das kein Ziel?"
"Weil das was Endgültiges ist. Außerdem gibt es richtiges Glück gar nicht."
"Was ist denn deiner Ansicht nach ein Ziel?"
"Etwas zu suchen!"
"Das Finden ist für mich das Entscheidende, das Ankommen."
"Das Finden ist keine Erfüllung. Nur das Suchen ist für mich erfüllend."
"Das Haben ist für mich das Schöne, das Genießen, daß man etwas hat, das ist das Schöne", halte ich dagegen. "Das, wonach ich mich im Innersten sehne, ist immer das Haben, das Ruhen, das Ankommen, das Gewinnen."
"Wenn ich am Ziel wäre, wäre ich tot", ist Rafa sicher. "Und ich will nicht sterben; vor dem Sterben habe ich Angst. Ich lebe nur, um zu suchen."
"Du hast Schwierigkeiten bei der Sinnfindung", vermute ich.
"Finden? Ich will nicht finden", behauptet Rafa. "Ich will nur suchen. Das Suchen ist für mich das Entscheidende. Wenn ich gefunden habe, was ich suche, kann ich auch sterben. Das ist ja dann nichts mehr; das ist perfekt. Das Suchen ist wichtig. Solange man sucht, sind noch alle Möglichkeiten offen. Alles ist offen. Zum Beispiel - das heißt immer so, wer Wunder was, Kaviar - und als ich es mal gegessen habe, fand ich das nur ätzend."
"Es gibt aber auch Sachen, wenn man die kennenlernt, dann wundert man sich, wie gut sie sind."
"Ich will aber gar nicht wissen, wie die sind. Das ist wie bei Weihnachtsgeschenken. Die sind für mich nur so lange interessant, wie ich sie noch nicht ausgepackt habe. Wenn ich sie ausgepackt habe, ach, dann weiß ich ja, was drin ist. Das ist es dann nicht mehr."
"Für mich ist es immer am Schönsten, wenn ich die Geschenke auspacke, und es ist etwas drin, was ich mir lange gewünscht habe."
"Wenn ich sie noch nicht ausgepackt habe, kann alles drin sein. Alles ist möglich."
"Ah ja, dann könnten wir es ja mal so machen: Wir machen jetzt ab, am nächsten Weihnachten packst du deine Geschenke einfach nicht aus."
"Weihnachtsgeschenke muß man auspacken. Du hast das echt noch überhaupt nicht verstanden. Dein Horizont ist so eingeengt; du hast mich überhaupt nicht verstanden."
"Du könntest dir ja Holzwolle schenken lassen."
"Wenn Holzwolle drin wäre, dann wüßte ich ja, daß Holzwolle drin ist. Dann wäre ja nicht mehr alles möglich."
"Ja, Mensch, wenn das so ist mit den Weihnachtsgeschenken ... dann müßte eine Frau ja auch nur so lange interessant für dich sein, wie du mit ihr noch nicht geschlafen hast", folgere ich. "Wenn du mit ihr geschlafen hast, dürfte sie nicht mehr für dich interessant sein. Dann müßte ich ja gerade deshalb für dich interessant sein, weil du nicht mit mir schlafen kannst. Das heißt, ich will mit dir schlafen, aber ich kann es nicht, zumindest nicht so ohne Weiteres. Und wenn du mit mir schlafen würdest, dann wäre es das gewesen, dann könntest du mich ja in die Mülltonne werfen."
"Sex und Weihnachtsgeschenke!" entrüstet sich Rafa. "Du bringst wieder unmögliche Vergleiche! Das kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen! Sex ist jedesmal anders, auch wenn ich mit derselben Frau schlafe."
"Dann ist ja eine feste Beziehung doch nichts Langweiliges oder Totes, weil es doch jeden Tag wieder etwas Neues ist."
"Was für eine Religion meinst du?" fragt Rafa.
"Religion?"
"Was für eine Religion meinst du?"
"Das Wort 'Glaube' gefällt mir besser."
"Aber 'Religion', das ist sowas Mystisches", findet Rafa. "Das gefällt mir viel besser. Das ist ein tolles Wort."
"Aber 'Glaube' sagt es doch direkter. Oder - 'Weltbild' ..."
"'Weltbild' - was ist ein Weltbild?"
"Im Grunde ist es eine Begriffsfrage. Es hängt davon ab, welchen Begriff man lieber verwendet."
"Ich will nie mit anderen einer Meinung sein", erklärt Rafa sein Verhalten. "Ich bin oft nur anderer Meinung, um anderer Meinung zu sein. Ich provoziere auch deshalb so gerne, weil ich dann sehen kann, wie sicher einer sich selbst ist."
"Das finde ich sehr interessant, diese Aufgaben, die du mir dadurch stellst, und die Übung im Kontern, die ich dadurch gewinne", bemerke ich. "Deine Provokation regt mich dazu an, meine eigenen Vorstellungen zu hinterfragen."
Ich schaue ihn schweigend an.
"Warum lächelst du?" fragt Rafa.
"Ach ..."
"Ja, warum?" drängelt er. "Warum?"
"Ach, ich weiß es selbst nicht so recht."
"Ja, aber das mußt du doch wissen!"
"Ich muß immer lächeln, wenn ich dich ansehe. Es liegt wohl an deinen Augen. Ich will dir mal einen Traum erzählen, den ich hatte."
"Auf Träume gebe ich nichts, wie du weißt."
"Träume haben sehr viel mit der Wirklichkeit zu tun."
"Natürlich, man kann das auch so verinnerlichen, daß man das nachher in der Wirklichkeit umsetzt."
"Du meinst Suggestion", vermute ich. "Das ist aber von dir ausgegangen, was nachher in der Wirklichkeit passiert ist."
"Träume sind doch gar nicht vom Menschen gemacht. Sie sind nichts Kreatives."
"Träume können einen inspirieren. Sie können Kreativität wecken."
"Da kann man doch genausogut bewußtseinserweiternde Drogen nehmen."
"Das mit den bewußtseinserweiternden Drogen ist medizinisch Unsinn."
"Das ist belegt, daß LSD das Bewußtsein erweitert."
"Träume werden vom Unterbewußtsein hergestellt. Sie sind also schon etwas Kreatives."
"Tagträume, die kann ich beeinflussen. Das ist Kreativität."
"Das Unterbewußtsein ist aber auch ein Teil von einem selbst", gebe ich zu bedenken. "Also hat man sie schon selbst gestaltet - wenn auch nicht bewußt."
"Das ist doch nur so, wie wenn ein Betrunkener zwischen Schubladenschränken hindurchgeht, darin liegen Papierblätter, das sind die gespeicherten Erinnerungen im Gehirn, und der würde die einfach wahllos 'rausreißen, und das, was da zusammenkommt, das sind die Träume. Die sind doch nur dazu da, die Wirklichkeit zu verarbeiten; o.k., dafür sind sie vielleicht wichtig. Aber sie erlauben keine Prophezeiungen."
Ich kündige an, den Traum nun zu erzählen. Rafa meint, daß ich ihm den nicht zu erzählen brauche, da er ohnehin nichts aussage.
"Du wehrst dich dagegen, daß ich dir den Traum erzähle", folgere ich.
"Nö!" ruft er wegwerfend. "Von mir aus kannst du ruhig erzählen. Aber ich hör' nicht hin."
"Eben - du wehrst dich dagegen, daß ich ihn dir erzähle. Ich erzähle ihn dir aber trotzdem."
"Kannst ihn mir ja auch ruhig erzählen. Ich denke währenddessen einfach an was anderes. Ich höre in Gedanken Musik. - Ach ja, Musik!"
Rafa geht in sein Studio hinüber und macht Musik an. Dann setzt er sich wieder und fragt mich, wie ich das Stück finde.
"Kitschig", sage ich aufrichtig.
"Du hast das Lied doch noch gar nicht gehört", tadelt mich Rafa. "Weißt du überhaupt, was das ist?"
"Was ist es denn?"
"Hubert Kah."
"Ich sag' ja - kitschig. Aber laß' ruhig an. Laß' ruhig an. Ist schon o.k. so."
Rafa beschreibt mir, wie einfach man seiner Ansicht nach ein Industrial-Stück herstellen kann. Ich gebe zu bedenken, daß er bislang noch keines gemacht hat.
"Industrial kommt sowieso nicht an", meint er.
"Wenn im 'Elizium' De Fabriek kommt, ist das echt der Kracher", erwidere ich. "Das hast du ja gesehen."
Rafa findet, Musik ohne Melodie sei keine Musik. Erst durch die Melodie werde sie dazu.
"Atonale Musik ist durchaus Musik", entgegne ich.
"Industrialmusik ist zu simpel", wertet Rafa ab.
"NDW ist für mich zu simpel", werte ich seine Lieblingsmusik ab. "Industrialmusik ist eine vielschichtige Musik. Industrial ist hintersinnig und subliminal. Es ist unterschwellig."
"NDW ist die Königin der Musik", lobt Rafa seine Lieblingsmusik in höchste Höhen. "Die Musik überhaupt."
"Du magst Industrial nicht, willst aber trotzdem mit Blackhouse auftreten."
"Woher willst'n das wissen?"
"Das hast du ja selbst gesagt."
"Wer hat das gesagt?"
"Du selber."
"Wann habe ich das gesagt?"
"Na, vor zwei Tagen."
"Wenn ich mit irgendwem zusammen auftrete, ist nicht entscheidend, was ich mag. Ich meine, ich spiele auch Musik, die ich hasse."
"Save me" von Suicide Commando gefällt ihm aber, und von Blackhouse mag er "Totally gone"; dies sei, so findet er, eine Ausnahme, da es noch eine Melodie habe.
Rhythmus, Melodie und Text müssen nach seiner Ansicht immer alle drei zusammenkommen. Alles auf einmal sei besser als nur eines allein.
"Aber allein kommt der Rhythmus viel besser heraus", halte ich dagegen. "Er wird viel mehr hervorgehoben. Das ist ja auch beim Portrait so, daß man nur das Gesicht ganz besonders betrachtet, während man bei der Totalen ... wenn wir jetzt das Abendmahl nehmen mit allen zwölf Jüngern und so weiter, hat man halt den Eindruck der Totalen. Wenn man aber nur das Portrait von Jesus herausnimmt, dann sieht man nur Jesus alleine, und das hat dann einen ganz anderen Effekt."
"Aber in der Totalen findet man alles. Da ist das Portrait ja dann auch mit drin. Ich will immer alles auf einmal."
"Ja, ja - warum eine Frau, wenn man alle haben kann?" frage ich zynisch.
"Ooh, du wieder mit diesen unmöglichen Vergleichen!" stöhnt Rafa.
"Ist doch klar, Mensch", haue ich noch einmal in die Kerbe, "wieso nur eine Frau? Man kann doch alle haben, ne?"
Jetzt will ich aber doch endlich zu dem Traum kommen.
"Ich sagte schon, auf diese Prophezeiungen darf man nichts geben", baut Rafa an seiner Mauer.
"So, du willst es nicht hören", vermute ich. "Du hast Angst davor, es zu hören."
"Echt - du bist ganz schön unverschämt."
"Du lächelst, wenn du das sagst", bemerke ich. "Du scheinst es faszinierend zu finden."
"Nein."
"Und warum lächelst du dann?"
"Um das harte Wort etwas abzuschwächen."
"Um das harte Wort etwas abzuschwächen."
"Wenn ich lächle, klingt das nicht so hart", erklärt Rafa. "Dann ist das flauschiger."
"Dann ist das flauschiger ...", wiederhole ich belustigt.
Ich erzähle Rafa den Traum mit dem Fahrstuhl, in dessen blau glitzerndes Inneres ich nur allein durch meinen Willen hineinkommen konnte.
"Nur durch den schieren Willen ist es mir gelungen", betone ich. "Und weißt du, was das Fenster in Augenhöhe war? Das waren deine Augen. Ich hatte dir nämlich erst kurz vorher sehr lange sehr tief in die Augen geguckt."
"So, und daraus leitet Fräulein Hetty jetzt ab ..."
"Allein durch die Kraft meines Willens habe ich es geschafft, dich zu erreichen."
"Du kannst ja in deinen Träumen mit mir zusammen sein", schlägt Rafa vor. "Da man ja fast ein Drittel des Lebens schläft, soviel ich weiß, hättest du ja dann eine ganze Menge Zeit mit mir."
"Ich will aber in der Wirklichkeit mit dir zusammen sein."
"Das gibt's nicht!"
"Am letzten Samstag hast du noch etwas ganz anderes erzählt."
"Das war. Das war."
"Am Samstag hast du erzählt, es wäre dir wichtig, mit mir etwas anzufangen."
"Das hat sich aber gewaltig geändert."
"Ach so - in zwei Tagen."
"Nein, wir kennen uns doch nicht erst zwei Tage."
"Am Samstag sah das jedenfalls noch ganz anders aus."
"Am Samstag war ich betrunken", will Rafa sich herausreden. "Du darfst das nicht auf die Goldwaage legen, was ich sage, wenn ich betrunken bin."
"Es wirkte aber ziemlich echt."
"Am Samstag war ich besoffen, und ich hab' das nicht so gemeint, wie ich's gesagt habe. Wenn ich besoffen bin, meine ich das nicht, wie ich das sage."
Es stört mich, daß Rafa sich nicht zu mir setzen will. Ich gehe zu ihm und greife nach seinem Arm.
"Nein! Nein, nein!" ruft er und wehrt mich ab. "He, nein, nein, nein, nein, nein! Ich will das nicht!"
Er schaut mich eindringlich an und wiederholt:
"He! Ich will das nicht!"
Ich setze mich wieder aufs Bett und bemerke:
"Du bist ja wirklich starr wie Marmor."
"Ja, Marmor, Stahl und Eisen bricht ..."
"... aber unsere Liebe nicht", nicke ich.
Rafa will mir immer noch nicht glauben, daß ich ihn liebe. Ich halte aber fest daran:
"Ich liebe dich und nur dich."
"Dann wird's echt mal Zeit, daß du dich nach einem anderen umguckst."
"Nein. Körperliche Kontakte kann ich nur zu jemandem haben, den ich liebe. Das wäre sonst dieser 'Konservensex', wie ich es nenne. Und den will ich nicht."
"Sex ist die Krönung von Nähe."
"Du hast aber auch schon mit Frauen geschlafen, die du gar nicht liebst und zu denen du gar keine innere Nähe hattest."
"Sex hat doch auch nicht unbedingt was mit Liebe zu tun."
"Du schläfst ja auch mit allen Möglichen", halte ich Rafa vor. "Du läßt dich doch auch mal nur für eine Nacht buchen. Und wie du die Bardame umarmt hast, das war auch nicht mehr so ganz toll."
"Wieso, sa' mal - da ist doch nichts dabei, wenn ich jemanden umarme. Ich kann doch umarmen, wen ich will! Ich bin volljährig und muß mich nicht rechtfertigen."
"Nehmen wir mal an, du würdest jetzt jemanden lieben. Und der würde jetzt auf einmal mit jemand anderem etwas haben. Was würdest du dann tun?"
"Bin ich mit dem zusammen, oder bin ich mit dem nicht zusammen? Das ist nämlich der große Unterschied."
"Nicht zusammen."
"Na, wenn ich mit jemandem nicht zusammen bin, kann es mir doch egal sein, was der macht. Da kann er doch mit dem schlafen, mit dem er will."
"Wenn man jemanden liebt, ist es einem aber nicht egal."
"Warum nicht? Ich kann dem das doch nicht verbieten?"
"Man kann auch innerlich an jemanden gebunden sein, mit dem man nicht zusammen ist."
"Ich binde mich nie an jemanden", stellt Rafa klar. "Wenn ich gebunden bin, dann bin ich an mich selber gebunden."
"Aber eine feste Bindung heißt auch Geborgenheit."
"Geborgenheit - wozu brauchst du Geborgenheit?"
"Das ist doch ein Urbedürfnis. Jeder braucht Geborgenheit."
"Was ist das Gegenteil von Geborgenheit?"
"Verlorenheit."
"Also, wenn man sich verloren fühlt, braucht man Geborgenheit. Aber ich fühle mich nicht verloren. Ich bin geborgen in mir selber."
"Das glaube ich nicht. Jeder Mensch braucht andere."
"Ich bin mir selbst genug", ist Rafa überzeugt. "Ich brauche andere Menschen nicht. Ich bin eben so geworden, durch meine Erziehung - vor allem durch meine Mutter. Ich bin frei."
"Du bist nur in dir selbst gefangen. Du erfährst nie die ganze Bandbreite deiner Gefühle. Es bleibt immer nur bei oberflächlichen Beziehungen, es geht nie in die Tiefe."
"Das will ich ja auch gar nicht. Ich will meine Freiheit."
"Das ist eine trügerische Freiheit, die in Wirklichkeit ein Gefängnis ist."
"Ich fühle mich ganz wohl in meinem Gefängnis."
"Du bist ja doch gefangen hinter deinen Gitterstäben."
"Wieso, das Gefängnis ist ein Haus; das ist auch Geborgenheit."
"Ja, aber aus einem Haus kann man frei 'rausgehen und wieder 'rein - und aus einem Käfig nicht; da ist man gefangen."
"Jeder sitzt in einem Käfig, von Geburt an."
"Nein, das ist nicht so", bin ich sicher. "Die Welt außerhalb des Gefängnisses macht dir Angst. Da hättest du keine Gitterstäbe mehr, um dich dran festzuhalten."
"Du bist echt ganz schön unverschämt."
"Warum findest du, daß ich unverschämt bin?"
"Du bist unverschämt, weil du die Religion vertrittst, daß Geborgenheit ein Grundbedürfnis von allen Menschen ist. Du sagst ja, man soll zuerst vor seiner eigenen Tür kehren ..."
"Ich will das nicht als Dogma sehen, aber ich denke, daß jeder Mensch Geborgenheit braucht. Und von mir selbst weiß ich, daß ich Geborgenheit brauche."
"Ja, dann brauchst du sie, aber ich brauche sie nicht."
"Echt, du bist für mich die absolute Herausforderung ... Ich will Nähe, und du willst Distanz."
"Au ja, ich spiel' dir jetzt mal ein Lied vor, das ich vor drei Tagen gemacht habe."
"Ja, spiel' mir das mal vor."
Rafa macht den Sound an, setzt sich wieder auf den Stuhl und spricht zu dem Sound den Text. Er rezitiert mit erhobenem Kinn und stößt die Wörter einzeln hervor, so daß es verächtlich klingt.
"Wir lieben kalt" heißt das neue Stück, und es richtet sich gegen Gefühle:
"Wir lieben kalt ... Wir brauchen keine Sonnenstrahlen ... wir woll'n nicht in den Süden fahren ..."
"Wenn du das so sagst, dann sieht man die Sonnenstrahlen in deinen Augen", stelle ich fest. "Du nimmst dich in gewisser Weise selbst auf die Schippe. Das gibt dem Stück Wärme."
Der Sound hat für mich nichts Überraschendes; es ist eben eines jener harmlosen Liedchen. Der Text aber hat etwas Lyrisches, eine geschliffene Sprache, wie ich sie bislang von Rafa noch nicht kannte. Er wird deswegen von mir gelobt. Ich lobe auch den Zynismus, den ich in dem Stück finde.
"Das Stück klingt, als wäre es nicht frei von Selbstironie", bemerke ich. "Du spielst arrogant."
"Das ist toll, arrogant zu spielen."
"Das ist es ja, du spielst eben nur arrogant, ohne es zu sein. Du wirkst gern arrogant."
"Arrogant zu sein finde ich nicht so toll. Ich kenne ein Mädchen, die ist wirklich arrogant; mit der kann ich nicht viel anfangen. Aber arrogant zu spielen finde ich toll ... diese Maske zu tragen ist toll."
"Findest du, daß ich arrogant bin?" möchte ich wissen.
Rafa denkt nach und meint schließlich:
"Ein bißchen."
Die Mutter kommt heim. Ich höre sie in der Küche hantieren. Nur die Tür trennt sie von uns. Ich fühle, daß ich schon lange nicht mehr die Nerven habe, einen anderen Menschen in meiner Wohnung zu dulden, der nicht mein Partner oder mein Kind ist. Wie Rafa das erträgt, verstehe ich nicht. Vielleicht ist er innerlich so unreif, daß er die Nähe und Verfügbarkeit der Mutter braucht.
"Es ist furchtbar kalt hier drin", klage ich. "Könntest du nicht heizen?"
"Nein!"
"Und was kann man dann gegen die Kälte tun?"
"Ich hab' das Fenster ja schon zugemacht."
"Was mache ich denn gegen die Kälte? Hast du vielleicht einen Pullover? Oder soll ich meinen Mantel anziehen?"
Rafa steht auf und will zum Kleiderständer gehen, doch er kehrt vorher um und setzt sich wieder.
"Zieh' doch lieber deinen Mantel an", sagt er, "das ist näher."
Ich ziehe mir den grauen Mantel über. Rafa fragt:
"Und nu'? Was machen wir jetzt?"
"Du wolltest doch einkaufen."
"Nö."
"Ach so, jetzt auf einmal nicht mehr."
"Nein. Also - was machen wir jetzt?"
"Was du möchtest."
"Mit welchem Zug willst du nach Hause fahren?"
"Das weiß ich noch nicht. Ich bin da flexibel."
"So, jetzt können wir mal ein bißchen Licht machen."
Rafa schaltet die Lämpchen ein, die seine Spiegel umrahmen. Außerdem zündet er auf dem Tisch eine Kerze an.
"He! Du trinkst ja deine Cola gar nicht!" tadelt er. "Los, trink' deine Cola aus!"
"Ich trinke sie schon noch", sage ich und nehme einen Schluck.
"Sag' mal - habe ich dir eigentlich meine 'Laibach'-Tassen schon gezeigt?" fragt Rafa. "Ja, ne?"
"Nein, die habe ich noch nicht gesehen."
Er holt seine beiden "Laibach"-Tassen. Sie sind weiß und mit schwarzen Motiven der Neuen Slowenischen Kunst bedruckt.
"Rate mal, wo ich die her habe", fordert er mich auf.
Ivo Fechtner hat sie ihm mitgebracht von einem Laibach-Konzert in HI.
"HI., da komme ich doch schlecht hin", erzähle ich.
"Wieso, da fahren doch Züge."
"Aber zurück komme ich nachts nicht mehr. Nachts um halb eins fährt kein Zug mehr."
"Taxi."
"Sehe ich aus wie jemand, der achtzig Mark einfach mal so überhat?"
"Wenn's einem richtig wichtig ist ..."
"Na ja, so wichtig war mir das dann auch nicht. Für Esplendor Geometrico hätte ich das gemacht, aber die habe ich ja in L. gesehen. Das war ein rhythmisches Erlebnis. Das war so geil ... mit Dive und Winterkälte ... ich habe nur getanzt. Und auch Dirk I. hat nur getanzt. Der war nachher klitschnaß. Der lief mit einem Handtuch um die Schultern 'rum."
"Wir sind auch schon mit Laibach zusammen aufgetreten", erzählt Rafa stolz, "auf der Burg in Qu."
"Ja, ich habe von dem Konzert in Qu. gehört."
"Da waren auch Die Form ..."
"So, wie ich tanze, habe ich dich nie tanzen sehen - obwohl du es könntest."
"Will ich aber nicht."
"Ich glaube, du traust dich nicht, so zu tanzen wie ich", vermute ich. "Du gehst ja beim Tanzen auch nicht richtig aus dir heraus."
Tanzen findet Rafa nicht so wichtig. Musik machen findet er wichtiger.
"Ich denke, es ist nicht so, daß man eine Kunstform als besser oder schlechter betrachten kann als die andere", meine ich. "Ich schreibe zum Beispiel irrsinnig viel, und damit kann man auch eine Menge sagen."
"Ja, aber ich habe den Text und die Musik, und da habe ich ja doch mehr Ausdrucksmöglichkeiten."
"Ja, aber du hast im Text weniger Worte."
"Mit weniger Worten, mit denen man mehr sagt ..."
"Ja, aber dann kann man beim Tanzen auch mit Gesten noch mehr sagen als mit Worten."
"Tanzen ist aber nicht so kreativ."
Tanzen vergleicht Rafa mit dem Einnehmen von Drogen. Die Droge sei in diesem Falle die Musik.
"Tanzen ist aber doch etwas Kreatives, etwas Eigenes", erwidere ich. "Und das vernichtet einen nicht. Drogen vernichten einen."
"Na ja, wenn man sieht, wie du tanzt, dann denkt man schon, daß da irgendwas in dir kaputtgeht ... in deinem Gehirn."
"Video killed the Radio Star" läuft in Rafas Kassettendeck.
"Das ist schön", finde ich," das ist Buggles."
"Ja, das ist auch ein bißchen mehr industrialhafter; das hat weniger Melodie."
"So, ich muß dich jetzt einfach mal umarmen", sage ich entschlossen und gehe zu ihm.
Ich will meine Arme um Rafa legen, da hält er sie weg und sagt nachdrücklich:
"He! Ich will's nicht! He! Ich will's nicht!"
Ich schaffe es nur so eben, über den nackten Arm des sich Wehrenden zu streicheln.
"Ich muß dich aber mal umarmen", sage ich.
"Ja, ich will's aber nicht", sagt Rafa noch einmal. "Ja? Kapiert? Verstanden? Ich will's nicht!"
"Das ist ein depressives Wellental. Das hast du immer, wenn du glaubst, daß du dich zu weit vorgewagt hast."
Ich bleibe vor ihm stehen.
"Ey, Mann, setz' dich doch mal hin", fordert Rafa mich nach einer Weile auf. "Mensch, jetzt setz' dich doch mal hin! Soo, komm', jetzt setz' dich mal hin ... nun setz' dich doch mal hin, Mensch - das macht mich echt ganz hibbelig, wenn du da stehst!"
"Und mich macht es hibbelig, wenn ich dich nicht streicheln kann."
"Jaa, ja, nun setz' dich schon! Nun setz' dich schon! Sei doch mal flauschig ... bitte ..."
Ich setze mich wieder und bemerke:
"Das ist aber nicht ausgewogen, wenn du deinen Willen hast und ich meinen nicht."
"Wir können doch nicht immer alles verrechnen", meint Rafa.
"Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit sind für mich schon wichtig", entgegne ich. "Du hast Hemmungen mir gegenüber, eben weil du starke Gefühle für mich hast."
"Ist nicht. Ich will nichts von dir."
"Das hörte sich am Samstag aber noch ganz anders an."
"Hör' mal, da war ich besoffen!" windet sich Rafa. "Das habe ich dir schon immer wieder gesagt. Das habe ich gar nicht so gemeint, wie ich das gesagt habe. Außerdem - das war, und das ist heute nicht mehr!"
"Ich weiß, du willst gern ungeschehen machen, was du getan hast, indem du behauptest, du hättest das nicht so gemeint."
"Ich hatte getrunken."
"Du willst das am liebsten vergessen. Du willst so tun, als hätte es das nie gegeben."
"Weißt du überhaupt, mit wem ich die Nacht zum Sonntag verbracht habe?"
"Ja, du hast dir da die Bardame genommen und mit der geschlafen ... ein One-Night-Stand ... "
Rafa entgegnet, mit der Barfrau sei er nie zusammengewesen.
"Ach, du hast gar nicht mit der geschlafen?" vergewissere ich mich.
"Nö."
"Warum hast du mir dann erzählt, du hättest mit ihr was gehabt?"
"Das war nur, weil mir im letzten Moment noch aufgegangen ist, daß das nicht gut ist, mit dir nach SHG. zu fahren und dir falsche Hoffnungen zu machen."
"Warum hast du mich dann überhaupt kommen lassen?"
"Weil du mir leid tust. Weil ich das nicht mitansehen kann, wie du immer neben der Tanzfläche stehst und mich anstarrst und anhimmelst. Echt - such' dir doch mal jemand anderen ..."
"Nein, ich liebe dich und nur dich. Es gibt keinen anderen für mich."
"Ja, das hatte ich auch mal, ganz früher", will Rafa die Liebe als jugendliche Schwärmerei abtun. "Als ich zwölf war, da hatte ich eine Freundin, die war drei Jahre älter als ich, die war fünfzehn. Das war da noch ein ziemlicher Altersunterschied. Später verläuft sich das ja; wenn man dreißig ist und hat eine Freundin, die ist vierzig, das ist ja dann egal. Mit siebzehn hatte ich eine Freundin, die war einunddreißig. Aber damals eben, das war noch ein ziemlicher Unterschied, und da dachte ich auch, echt, das ist sie. Ich bin nachts um ihr Haus geschlichen und habe ihr Liebesbriefchen geschrieben und so weiter. Da war ich dann echt fertig, als das vorbei war. Da war ich echt fertig."
"Du willst dich nie festlegen", deute ich. "Du willst dich nie für jemanden entscheiden."
"Mit Luisa bin ich fünf Jahre zusammengewesen."
"Es waren drei, und es gab mehrere Unterbrechungen."
"Woher willst du das wissen?"
"Du hättest sonst nicht schon 1988 ein Stück wie 'Sinnlos' schreiben können. Das hast du für Luisa geschrieben, als du gerade von ihr getrennt warst; das hast du mir selbst erzählt. Du hast dich also mindestens einmal zwischendurch von ihr getrennt. Außerdem hast du sie dauernd verletzt und betrogen, auf übelste Art, und sie hat sich nicht gewehrt, weil sie nicht gewußt hat, wie sie sich wehren soll."
Rafa möchte nie mehr den "Fehler" machen, sich ganz und gar an einen einzigen Menschen zu binden. Flüchtige Bekanntschaften wie die mit der Barfrau sind ihm angeblich viel lieber.
Rafa erzählt, er habe sich mit der Barfrau eine Nacht lang bestens unterhalten. Am Morgen habe sie noch Kaffee gekocht, und das sei alles so schön gewesen. So toll habe er sich schon lange nicht mehr unterhalten.
"Das kannst du mit mir nicht", werfe ich ein, "weil, es fällt einem immer leichter, mit einem zu reden, den man nicht liebt. Mit jemandem, den man liebt, ist das viel schwerer. Liebe ist anstrengend, schwer und dunkel."
"Ich liebe dich nicht."
"Ja, ja, das kennen wir schon. Das kennen wir alles schon."
"He! Ich liebe dich nicht!"
"Warum hast du dann am Samstag gesagt:
'Am Dienstag steht uns die Welt offen! Hetty, deine Chance!'
... und so weiter ... Warum hast du das dann gesagt?"
"Das ist verkehrt!" dreht Rafa seine Worte vom Samstag zurecht. "Ich wollte sagen, die Welt steht dir offen, dir und mir, aber nicht uns beiden gemeinsam; da habe ich mich wohl versprochen. Ich wollte dir nur mitteilen, daß es jetzt Zeit für dich ist, dich von mir zu lösen."
"So, und du küßt mich, um mich von dir zu lösen?"
"Ja, wenn man jemanden küßt, kann man ihn ja auch verletzen, nicht?"
"Ach, so! Du hast mich nur geküßt, um mich zu verletzen!"
"Ja, damit du es endlich einsiehst, daß es mit uns beiden nie was werden wird! Ich sitze hier in der Wohnung, und du stehst unten vor der Haustür. Und du kommst niemals 'rein. Aber du stehst auch immer draußen, und ich weiß immer, du stehst draußen, und damit will ich jetzt endlich mal klar Schiff machen. Da will ich endlich mal Schluß machen mit. Du sollst endlich erkennen, daß es mit uns beiden nie was wird."
"Und warum hast du dann gesagt, es sei dir wichtig, etwas mit mir anzufangen?"
"Das war Provokation."
"Ja gut, und das, was du jetzt sagst, ist auch Provokation."
"Ich liebe dich aber nicht", wiederholt Rafa. "Tessa, die habe ich geliebt."
"Und du hast sie schlecht behandelt."
"Ja, ich habe sie manchmal schlecht behandelt."
"Du hast auf ihr 'rumgetrampelt."
"Wir hatten so schöne Zeiten miteinander", schwärmt Rafa.
"Ja, und sie hat alles mit sich machen lassen", ergänze ich. "Sie konnte dir nichts entgegensetzen."
"Hast du eine Ahnung! Hast du eine Ahnung!"
"Ihr habt euch nur andauernd gestritten."
"Das ist ganz normal in einer Beziehung, daß man sich streitet und sich dann wieder verträgt, daß man Probleme gemeinsam löst ... und darüber wird die Beziehung immer fester ..."
Ich denke bei mir:
"Sie wird so fest, daß es innerhalb von zwei Jahren zu neun Trennungen kommt und schließlich einer der Partner in die Techno-Szene abtaucht."
"Die ist dir in den Streits immer unterlegen gewesen", gebe ich Rafa heraus. "Die war dir gar nicht ebenbürtig. Ich bin dir ebenbürtig."
"Sag' mal, woher willst du das alles wissen? Woher willst denn du das alles wissen?"
"Daria hat mir von so einem Streit erzählt, und das sprach Bände. Du konntest selbst entscheiden, wann du mit Tessa Streit haben wolltest und wann wieder Schluß sein sollte. Sie hat das nicht gerafft, wann du Streit haben wolltest und wann nicht. Sie war nicht imstande, zu verhindern, daß es Streit gab. Du hattest sie vollkommen unter Kontrolle."
"Hast du eine Ahnung!"
"Du konntest sie lenken."
"Wie kannst du nur so über jemanden reden, mit dem du noch nie ein Wort geredet hast?" fragt Rafa aufgebracht. "Du hast sie doch immer nur für ein paar Stunden im 'Elizium' gesehen. Du hast doch nie ein Wort mit der geredet. Du kennst die doch überhaupt nicht."
"Ich kenne die gut genug, um die nie näher kennenlernen zu wollen."
"Haha", lacht Rafa vor sich hin, "das fand ich echt cool, schmeißt die Frau dich da fast die Treppe 'runter ... hahaha, das fand ich echt cool."
"Das hat dir gefallen, ne?" mutmaße ich anteilnehmend. "Daß die mich die Treppe 'runtergeschmissen hat, ne? Das fandst du toll, ne?"
"Ja, ich fand das cool, zu sehen, wozu Frauen fähig sind."
"Na ja, ich hätte der ja auch am liebsten ins Gesicht getreten. Aber du hast dich ja immerhin auch genug geschämt, um dich zu entschuldigen dafür."
"Ich habe mich ... äh ... für sie entschuldigt, weil ... das ist ja nun doch nicht so ganz ... die Art, wie ..."
"Allerdings. Das ist ein abscheuliches, primitives Verhalten. Die war dein Wachhund. Du hast dir die nur genommen, um mich abzuschrecken."
"Das mit Tessa und mir hat nichts mit dir zu tun."
"Das war eine reine Zweckbeziehung. Du hattest die nur, damit du nicht an mich denken mußt."
"Ich will nicht mit dir schlafen."
"Du hast aber schon oft den Wunsch geäußert."
"Das war. Das war."
"Dann kann das ja auch irgendwann wieder anders sein."
Rafa stellt klar, daß es ihm an Verehrerinnen nicht mangelt:
"Ich habe jede Menge Freundinnen."
"Ach - bist du gar nicht solo?"
"Ist doch nicht gesagt, daß ich mit einer von meinen Freundinnen zusammen bin."
"Bist du denn jetzt solo?"
"Ja, ich bin solo."
"Ah, ja. Das ist gut; sonst wäre ich nämlich gegangen."
Rafa läßt zwischendurch Sätze und Satzbruchstücke fallen wie "Mein Freund war hier" oder "Wenn mein Freund hier sein wird ...". Es hört sich an, als rede er von seinem Liebhaber. Vielleicht meint er Dolf, und Dolf ist sein Liebhaber.
Ich beschreibe mein Verständnis von Ordnung im Gefühlsleben:
"Für mich gibt es Partner oder Kumpel oder Bekannte, aber nicht alles in einem."
"Wieso, das ist doch alles das Gleiche."
"Nein, das ist eben nicht alles das Gleiche."
"Das kann man doch gar nicht trennen."
"Das muß man sogar trennen."
"Das kann man nicht trennen", behauptet Rafa. "Das geht doch sowieso alles ineinander über. Da gibt es doch gar keine Trennlinien. Wenn man das trennt, engt man sich doch nur wieder so ein."
"Das ist unreif, sowas nicht zu trennen."
"Liebst du deine Schwester?"
"Ja, aber das ist doch eine ganz andere Ebene als die Ebene, auf der sich Partner lieben."
"Doch, das ist dieselbe! Das ist genau dasselbe!"
"Nein, das ist überhaupt nicht dasselbe."
"Liebe ich meine Schwester?"
"Du hast doch gar keine Schwester. Du hast einen Bruder."
"Tessa und ich, wir haben so viel zusammen gemacht ... der Sex war gar nicht so das Entscheidende. Wir haben einfach so viel miteinander unternommen und Zeit verbracht, Tessa und ich, und wir waren einfach nur glücklich."
"Ja, du hast einen Hang dazu, alles zu beschönigen."
"Das hatte gar nicht so mit Sex zu tun, das war auf der Ebene, und das war voll die Liebe, und das war so schön."
"Das war aber eine sehr unreife Liebe, wenn das nur auf der Ebene abgelaufen ist. Die reife partnerschaftliche Liebe hat einen ganz eigenen Stil. Das ist keine reife Liebe gewesen. Das ist was ganz Unreifes gewesen. Eine Liebe zwischen Partnern ist etwas ganz anderes. Das liegt auf einer ganz anderen Ebene."
"Woher willst du denn wissen, wie die Beziehung gewesen ist?" fragt Rafa tadelnd. "Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Was Daria oder so erzählt, das sagt überhaupt nichts aus."
Ich bin nicht imstande, Rafa nach Einzelheiten aus seinem Verhältnis mit der Sängerin zu fragen. Die ganze Geschichte ekelt mich so, daß ich sie nur aus einer gewissen Entfernung ansprechen kann, mit der Müllzange sozusagen. Wenn ich zu nahe an das Bettleben von Rafa und der Sängerin heranträte, riefe das noch mehr Wut in mir hervor, so starke Wut, daß ich sie nicht ertragen könnte.
"Ich war mit Tessa vierundzwanzig Stunden am Tag zusammen", erzählt Rafa in einem überheblichen Tonfall.
"Das ist ja wohl absolut tödlich für eine Beziehung, vierundzwanzig Stunden am Tag aufeinanderzuhängen", bemerke ich.
"Das ist eine Erfahrung, die du noch nie gemacht hast!"
"Du läßt es ja auch nicht zu, daß wir vierundzwanzig Stunden zusammen sind."
"Wieso, ich laß' doch was zu", meint Rafa. "Ich laß' doch was zu ... dieses Gespräch, zum Beispiel ..."
"Das ist nicht viel."
"Das sind zwar nicht vierundzwanzig Stunden, aber ..."
"Ja, eben. Du läßt es ja nicht zu."
"Du gibst mir nichts."
"Du läßt dir ja auch nichts von mir geben. Du läßt mich ja gar nicht an dich heran."
"Die Fassade, die habe ich nur wegen dir! Anderen gegenüber habe ich die Fassade nicht."
"Ja, diese Schlampe hast du an dich herangelassen, weil du nichts für die empfunden hast und sie dich deshalb auch nicht enttäuschen konnte."
"Du bist völlig egoistisch", beschwert sich Rafa. "Du nimmst überhaupt keine Rücksicht auf meine Gefühle. Du nimmst keine Rücksicht darauf, daß ich Tessa geliebt habe."
"Du hast sie nicht geliebt", bin ich sicher. "Und sie hat dich auch nicht geliebt."
"Was hast du für eine Ahnung ... Tessa würde alles für mich tun!"
"Was würde sie denn tun? Erzähl' doch mal was."
Rafa erzählt, er sei einmal nachts in irgendeiner Stadt hängengeblieben, und sie sei nach seinem Anruf sofort mit dem Auto gekommen, um ihn zu holen. Und dann habe sie einmal nachts einen Unfall gehabt und habe mit dem kaputten Auto nicht weiterfahren können, und da habe er sich für hundertfünfzig Mark ein Taxi genommen und sie abgeholt.
"Das ist Liebe", meint Rafa. "Das sind Taten! Und Taten sind das, was zählt!"
"Das beeindruckt mich überhaupt nicht", erwidere ich. "Das ist für mich noch nicht Liebe. Das ist Ergebenheit. Ihr wart einander ergebene Diener. Sie ist dressiert wie ein Hund. Sie folgt wie ein Hund. Und sie hat sich vor dir im Staub gewälzt, und du hast ihr dafür die Stöckelschuhe abgeleckt. Und sie hat dir die Stiefel abgeleckt und was sonst noch alles. Diese verfluchte Schlampe - das kannst du mir nicht erzählen, daß du die liebst; du hast die nie geliebt. Du kannst die nicht ausstehen. Du kannst die gar nicht leiden. Das ist nur, weil sie dir ergeben ist. Das ist eine sadomasochistische Abhängigkeitsbeziehung."
"Also - also, wenn du meine Freundin noch einmal beleidigst, dann fliegst du aber 'raus!"
"So, sie ist also deine Freundin?"
"Ja, meine ehemalige Freundin."
"Ah, ja. Wenn's deine Freundin gewesen wäre, wäre ich nämlich gegangen. - Ich bin wütend. Und die Wut muß ich äußern. Das ist echt eine Wut, die könnte einen Hochofen heizen. Die ist wie ein Feuersturm, der alles niederbrennt. Und diese Dreckschlampe, diese widerliche Dreckschlampe ..."
"Also, daß du meine Freundin als Schlampe bezeichnest, das ist absolut asozial und primitiv."
"Ich äußere nur meine Gefühle."
"Deine Äußerungen sind absolut subjektiv."
"Ja, Gefühle sind ja auch subjektiv."
"Du bist echt sowas von unverschämt ..."
"Ach - ich bin unverschämt ..."
"Du bist unverschämt, egoistisch und ein bißchen arrogant."
"Das Problem ist ein dreieckiges Konstrukt", will ich erklären.
Rafa redet mir dazwischen und ist nur schwer zum Zuhören zu bewegen.
"Weil ich dich liebe, bin ich wütend auf dich", sage ich zu ihm, als er endlich ruhig ist. "Und weil ich dich aber liebe, kann ich dich auch nicht so bestrafen, wie ich dich bestrafen müßte."
"Wie willst du mich bestrafen?"
"Zum Beispiel ... dich in den Fahrstuhlschacht schmeißen ... dir den Schädel einschlagen ... dich an die Wand nageln ... dich erwürgen ... dich aufhängen ..."
"Ach, und das willst du alles machen."
"Ja, aber ich kann es eben nicht, weil ich dich liebe. Ich kann dich nicht in den Fahrstuhlschacht schmeißen. Ich kann dich nicht an die Wand nageln. Ich kann dich nicht erwürgen. Ich kann dich nicht aufhängen ... weil ich dich liebe."
"Das ist dein Problem", sagt Rafa kalt.
"Ja, das ist mein Problem", bestätige ich. "Und ich muß es lösen."
"Ey, Mann!" seufzt Rafa. "Wann sagst du endlich mal, daß es sinnlos ist?"
"Gar nicht. Ich gehe meinen geraden Weg und bilde einen Gegensatz zu deinem Chaos."
"Und wenn ich dann in dreißig Jahren wieder zu dir komme, mit meiner Ehefrau, die ich dann wahrscheinlich habe, und meinen beiden Kindern, dann sagst du vielleicht, ach, wäre doch besser gewesen, ich hätte mir jemand anderen gesucht."
"So, du willst also doch eine dauerhafte Beziehung haben?"
"Ja, ich suche nach meiner Traumfrau. Ich suche nach einer Frau, die auf meiner Ebene liegt. Und du liegst tief drunter."
"Warum bist du überhaupt auf mich zugegangen?"
"Am Anfang bin ich einfach neugierig auf dich gewesen."
"Ja, wenn man das 'neu' wegstreicht, dann kommt es ungefähr hin."
"Wir treffen uns nie. Wir sind zwei Züge, die auf völlig anderen Gleisen fahren. Wir treffen uns nie."
"Wir haben uns doch getroffen", wende ich ein. "Hier."
"Ja, aber wir haben uns nicht innerlich getroffen, nicht wirklich."
"Warum hast du dich überhaupt mit mir getroffen?"
"Um dir eine Möglichkeit zu geben, zu erkennen, daß es mit uns nie etwas werden wird."
"Warum gehst du denn überhaupt immer wieder auf mich zu? Du kannst doch ganz einfach Abstand halten und dich nicht mehr um mich kümmern."
"Ja ... aber ... du tust mir leid. Du tust mir eben leid."
"Du kannst dieses Treffen gar nicht verwenden, um mich von dir wegzubringen, weil ich mich mit jedem Wiedersehen fester an dich binde."
"Auch mit diesem?" fragt Rafa.
"Ja, auch mit diesem."
"Du lügst, aber du willst es nicht zugeben."
"Nein, es ist so."
"Du willst nur nicht zugeben, daß es nicht so ist."
"Es ist für dich irgendwann mal wichtig gewesen, Gefühle zu verleugnen und zu verdrängen und zu verstecken. Du hast wohl in deiner Vergangenheit Enttäuschungen erlebt. Und daher hast du das; das hast du beibehalten."
"Gefühle sind wichtig!" erklärt Rafa nun. "Gefühle sind überhaupt das einzig Sinnvolle!"
"Vorhin hast du noch genau das Gegenteil behauptet. Du hast dir da schon wieder total widersprochen."
"Da habe ich nur provoziert."
"Du hast gesagt, Gefühle seien eine Nebensächlichkeit, eine störende Nebensache."
"Ich will widersprüchlich sein."
"Wenn du Sachen sagst, die einander widersprechen, dann muß eines von beidem gelogen sein."
"Ich würde nie meine Freunde belügen."
"Doch, du belügst dich selbst, also belügst du auch deine Freunde. Widersprüche können nicht nebeneinander bestehen."
"Natürlich können Widersprüche nebeneinander bestehen."
"Zwei Sachen, die einander widersprechen, können nicht nebeneinander bestehen. Da würde sich immer eine Spannung ergeben."
"Spannung ist gut!" findet Rafa. "Spannung ist geil! Spannung ist das, was das am Leben hält, das Ganze."
"Das ist wie ein Zug, der gleichzeitig in zwei Richtungen fahren will."
"Tja, du denkst eben nur zweidimensional", urteilt Rafa. "Ich denke dreidimensional. Wenn ich hier stehe und sage, Rußland liegt im Westen, dann stimmt es genauso, wie zu sagen, Rußland liegt im Osten. Denn wenn man einmal um den Erdball 'rumgeht, liegt es eben doch im Westen ... Du wirst mich nie verstehen. Du wirst mich nie erreichen. Wir sind zwei völlig verschiedene Menschen. Tessa hat mich erreicht! Die ja! Tessa hat mich erreicht!"
"Die hat dich nie begriffen."
"Du hast überhaupt keine Ahnung. Du weißt überhaupt nicht, was du redest. Echt - du kennst die doch überhaupt nicht. Woher willst du das wissen, was du über die sagst?"
"Ich habe es an ihrem Verhalten beobachtet. Die ist gefühllos, oberflächlich, primitiv und berechnend. Die hat sich doch nur an dich 'rangeschmissen. Die war billig und willig. Die hat doch sehr wahrscheinlich bloß ihre Freude daran gehabt, dich mir wegzunehmen."
"Vielleicht war das auch richtig so", meint Rafa. "Vielleicht mußte man mich dir auch wegnehmen."
"Ich finde die so widerlich; ich kann gar nicht sagen, wie widerlich ich die finde", sage ich schaudernd. "Ich finde die so widerlich wie den Sockenschuß, wenn nicht noch widerlicher."
"Wie du redest, das ist schlichtweg Dummheit ... echt, du rangierst auf so einer niedrigen Ebene, dahin zurück will ich nie wieder."
"Die Ebene, auf der ich rangiere, ist so hoch, daß du dich einfach nicht traust, dahin zu kommen", provoziere ich.
Rafa denkt kurz nach und sagt dann sein Schlimmstes und Härtestes:
"Echt - du bist - tot. Du bist - tot."
"So ... man ist also tot, wenn man ein schlagendes Herz hat und eine Wut im Bauch?"
"Du bist sozial tot", ergänzt Rafa. "Wenn ich mit dir zusammen wäre, das wäre echt - Perlen vor die Säue werfen."
"Das wäre Perlen vor die Säue werfen."
"Ja. Du bist es überhaupt nicht wert."
"Du bist eine echte, absolute Herausforderung für mich, weil du eine scheinbar glatte, scheinbar undurchdringliche Fassade vor dir herträgst und es meine Aufgabe ist, diese Fassade zu zertrümmern." "Du willst mich ändern! Mich ändern!"
"Nein, es geht nur um Entwicklung, daß wir uns aneinander weiterentwickeln und aufeinander zu."
"Ich will mich aber überhaupt nicht entwickeln."
"Ach so, und das willst du dann deinen Kindern vermitteln - falls vorhanden -, daß sie nie erwachsen werden sollen, he?"
"Ich will so bleiben, wie ich bin, und mir geht's gut damit", behauptet Rafa. "Ich will nicht anders sein. Ich fühle mich wohl, so, wie ich bin."
"Das ist die klassische Fassade. So kenne ich es schon von dir. So ist es im Sommer '93 auch schon gewesen."
"Ich habe alles, was ich brauche ... Ich habe super Freunde ..."
"Das denke ich nicht."
"Woher willst du das wissen?" entrüstet sich Rafa. "Du kennst die doch gar nicht ..."
"Das kann ja schon sein, daß ein paar von deinen Freunden gut sind", lenke ich ein. "Aber es sind sicherlich auch viele weniger gut ... wenn man dein oberflächliches Leben mal sieht ... Das glaube ich nicht, daß es dir damit so gut geht. Du hast mit dir gerungen, du hast mit dir gekämpft, um auf mich zuzugehen. Du hast eine große Anstrengung in Kauf genommen. Du hast dir gezielt Mut angetrunken, um auf mich zugehen zu können."
"Weil ich ja auch wußte, daß ich dich treffe", sagt Rafa hämisch.
"Na, du hast ja zu mir gesagt, 'Ich muß mich besaufen'."
"Weil ich ja auch wußte, daß ich dich treffe."
Er meint, er habe sich nur auf mich zugekämpft, um mir zu helfen:
"Du tust mir leid. Ich wollte dafür sorgen, daß du endlich von mir Abstand nimmst."
"Du mußt dich doch einfach nur nicht mehr um mich kümmern", rate ich ihm. "Du gehst deiner Wege und kümmerst dich nicht mehr um mich; das reicht doch aus."
"Nein, das kann ich nicht, weil ich immer daran denken muß, daß du vor meiner Haustür stehst ... weil ich immer weiß, daß du da stehst."
"Dein Verhalten steht im Widerspruch zu dem, was du sagst."
"Ich widerspreche mir immer. Ich will dich provozieren."
"Ich provoziere dich auch."
"So schlecht siehst du doch gar nicht aus", unterstreicht Rafa mit einem aufgesetzten Kompliment sein provokant-beleidigendes Verhalten. "Es gibt doch bestimmt einen Jungen, der dich gerne haben würde."
"Ja, aber ich will die alle nicht, weil ich die nicht liebe."
"Oh, Mensch, es gibt sechs Milliarden Menschen auf dieser Welt ... und du kennst die doch noch gar nicht alle ..."
"Aber ich kenne dich. Auf der ganzen Welt gibt es keinen wie dich."
"Dein Horizont ist so klein und eng ... du bist völlig eingeengt ... du bist überhaupt nicht offen für jemand anderen ... du kommst über deinen Horizont nicht 'raus. Du bist gefangen in dir selbst. Und in irgendeiner Art von Torschlußpanik greifst du nach mir. Sieh' dich doch endlich mal nach einem anderen um."
"Das kann ich aber nicht aktiv suchen. Ich kann mich nicht entscheiden, jemanden zu lieben. Das ist keine aktive Entscheidung. Entweder ich liebe jemanden, oder ich liebe ihn nicht. Und in diesem Fall liebe ich halt dich. Du bist der Mensch, über den ich mit weitem Abstand am meisten nachdenke. Ich habe noch nie über jemanden so viel nachgedacht wie über dich."
"Echt, deine ganzen Rafa-Analysen, die sind sowas von unerotisch ..."
"Heute sperrst du dich aber auch sehr gegen jede Art von Nähe."
" ... und in deinem Liebeswahn bildest du dir ein ..."
"Das ist kein Liebeswahn. Das stützt sich auf dein Verhalten."
"Wenn ich sage, ich liebe dich nicht, dann ist das eine Lüge, hä?"
"Ja."
"Ahh ... wenn ich sage, ich liebe dich, dann ist es eine Lüge. Das ist eine Lüge."
"Ich merke das aber an deinem Verhalten, daß du mich liebst. Du verhältst dich so."
"Dein Verhalten ist ein einziger Hilferuf."
"Ja, dein Verhalten ist ein Hilferuf, weil du nicht aus deinem Gefängnis 'rauskommst."
"Ich sitz' ganz gern in meinem Gefängnis."
"Am Samstag sah das aber ganz anders aus", erinnere ich Rafa. "Da hast du gesagt:
'Ich will dich kennenlernen. Willst du mich auch kennenlernen?'
- und:
'Die Welt steht uns offen für uns zwei! Am Dienstag steht für uns die Welt offen!'"
"Mensch, du darfst das doch nicht auf die Goldwaage legen, was ich sage, wenn ich besoffen bin! Wenn ich besoffen bin, weiß ich nicht, was ich tue, und das, was ich sage, meine ich dann nicht."
"So redest du dich gerne heraus - indem du einfach sagst, du seist dann halt betrunken gewesen. Aber in vino veritas!"
"Was heißt das?"
"In vino veritas!"
"Sag's nochmal."
"In - vino - veritas."
"Was heißt denn das?"
"Daß im Wein die Wahrheit liegen kann."
"Wer sagt denn das?"
"Das ist ein Sprichwort, eine Volksweisheit."
"Ach, so ... 'Wenn der Bauer übers Feld rennt ...'"
Rafa plappert Bruchstücke aus Wetterregeln herunter; anscheinend verwechselt er sie mit Sprichwörtern.
"Nein, das ist mehr", versuche ich zu erklären. "Das heißt, daß, wenn man betrunken ist, daß es einem dann leichter fällt, die Wahrheit zu sagen, als wenn man nüchtern ist."
"So, du willst also, daß ich immer betrunken bin, hä?"
"Nein, ich möchte, daß du es eines Tages lernst, die Wahrheit zu sagen, auch ohne betrunken zu sein."
"Und was soll die Wahrheit deiner Meinung nach sein?"
"Daß du mich liebst."
"Aus was für einem Grund sollte ich dich lieben?"
"Weil ich ich bin."
"Ja, aber warum? Soll ich dich lieben, weil du meine Freundin verletzt?"
"Du verletzt mich ja auch."
"Ich verteidige meine Freundin."
"Und ich verteidige mich."
"Aah, soll ich Fräulein Hetty lieben, weil sie immer sagt, Auge um Auge, Zahn um Zahn?"
"Das ist es nicht. Es geht einfach um den Menschen an sich, um die Persönlichkeit. Du liebst mich meinetwegen. Um meinetwillen. Weil ich eben ich bin."
"Ja, Tessa habe ich geliebt ... die habe ich geliebt ..."
"Nein, du hast die überhaupt nicht geliebt. Du konntest die nicht ausstehen. Du konntest die Frau nicht leiden."
"Ich liebe sie immer noch!"
"Diese Dreckschlampe, diese widerliche Dreckschlampe ... ich bin froh, daß die endlich verschwunden ist. Die soll sich bloß nie wieder sehen lassen."
"Na - wer weiß, ob das so bleibt!" droht Rafa. "Wer weiß!"
"Ja, ja, dann fang' du nur noch dein zehntes Mal mit ihr was an."
"Dich, dich liebe dich nicht."
"Weil du mich liebst, sagst du, daß du mich nicht liebst."
"Ja, Tessa, die habe ich geliebt. Und ich würde mich freuen, wenn sie eines Tages zu mir zurückkäme. Das ist die absolute Frau, echt ... die liebe ich so ... Warum sage ich denn, daß ich sie liebe?"
"Weil du sie nicht liebst. Du liebst sie nicht; deswegen fällt dir das auch so leicht, zu behaupten, daß du sie liebst. Du hast eben nur oberflächliche Gefühle für sie."
"Hee, ich hab' geheult wie ein Schloßhund wegen der! Ich hab' geheult wie ein Schloßhund!"
"Du hast geheult aus Selbstmitleid oder aus Mitleid mit ihr, weil du sie so schlecht behandelt hast, weil du so auf ihr 'rumgetrampelt bist und weil sie so ein armseliges Geschöpf ist."
"He - ich liebe sie, auch jetzt noch."
"Unsinn."
"Echt, du machst dir gar keine Mühe, über meine Gefühle nachzudenken", beklagt sich Rafa.
"Ich merke an deinem Verhalten, daß du Gefühle für mich hast", erwidere ich. "Und weil ich dich liebe, muß ich es einfach schaffen, dich zu gewinnen."
"Das schaffst du nicht. Ich liebe dich nicht."
Ich schaue ihn schweigend und nachdenklich an.
"Was 's' los?" fragt Rafa. "Was 's' los? Hast du die Sprache verloren?"
"Nein."
"An was denkst du?"
"Ich frage mich, weshalb du damals gesagt hast, du würdest testen wollen, wie ich auf deine Selbstmordabsichten reagiere", antworte ich. "Du hast gesagt, so, ich schneid' mir die Pulsadern auf, und später hast du gemeint, du wolltest da nur testen, wie ich darauf reagiere. Warum hast du das testen wollen?"
"Das weiß ich nicht mehr."
"Ah, ja ... Wie war das denn nun mit den Suizidversuchen? Du hast dir ja schon öfter sehr widersprochen. Einmal hast du behauptet, du hättest schon drei Suizidversuche hinter dir, und einmal hast du behauptet, das wäre gelogen. Aber was ist denn nun wahr?"
"Wenn ich dir sage, das ist wahr oder das ist nicht wahr - woher willst du denn wissen, daß das dann wahr ist?"
"Na ja, je mehr Aussagen ich von dir bekomme, desto eher kann ich daraus die Wahrheit zusammenpuzzeln."
Rafa lenkt ab zu Theorien über Wahrheit und Wirklichkeit.
"Synapscape, die Band aus HF. ... die sagen: 'Reality is an illusion.'", ergänze ich dazu. "Das ist auch ein Spruch von dir."
"Ich habe gesagt: 'Realität ist die perfekte Illusion.'", berichtigt Rafa.
Als die Mutter nicht mehr in der Küche ist, gehe ich noch einmal zum Bad hinüber. Die Wohnzimmertür steht offen. Ich höre die Mutter telefonieren. Die Badtür hat sie ebenfalls offengelassen. Ich husche ins Bad, und als ich herauskomme, lasse ich die Tür auch wieder offen.
Durch die offenen Türen leben Rafa und seine Mutter fast so eng beieinander wie in einer Einzimmerwohnung. Wenn Rafa ein Mädchen mit ins Bett nimmt, kann die Mutter bei allem zuhören. Ich verstehe nicht, wie Rafa und seine Mutter das aushalten.
"Echt, was machst du nur immer so lange im Badezimmer?" fragt Rafa, der ungeduldig auf seinem Acrylstuhl sitzt. "Und daß du immer gleich die ganze Tasche mitnimmst ..."
"Tja, ich brauche die eben."
"Wo soll das denn alles hinführen?" fragt Rafa. "Soll das ewig so weitergehen? Wann gibst du denn endlich auf?"
"Gar nicht."
"Gar nicht?"
"Nein, gar nicht."
"Du hast verloren. Verstehst du? Verstehst du mich? Du hast verloren. Du hast verloren in einem Spiel, in dem du nicht gewinnen kannst."
"Du bist wirklich perfekt in dem Bau deiner Fassade und in deiner Fähigkeit, mich zu verunsichern."
Rafa möchte wissen, aus welchem Grund ich mein "verlorenes Spiel" immer noch weiterspiele.
"Um dir zu beweisen, daß ich recht habe", erkläre ich betont siegesgewiß. "Gegessen wirst du am Ende; das steht schon fest."
"Was?"
"Du wirst am Ende gegessen. Das steht schon fest."
"Ne-he-hein!" sagt Rafa und schüttelt wild den Kopf.
Er hat genug für heute.
"Das Gespräch mit dir bringt nichts", findet er. "Habe ich dich jetzt verletzt?"
"Ich sage nichts dazu. Ich sage nichts."
"Du willst es nicht wahrhaben ... du weißt es eigentlich ... Schutzengel - sag' Hetty:
'Hier geht dein Weg nicht hin! Hier nicht! Woanders hin, irgendwoanders hin, aber hier nicht!'
Das ist verschwendete Zeit. Das sein Sackgasse! Du dann wieder zurücklaufen müssen, wenn wieder 'rauswollen. Das kostet dich nur Zeit. Kümmere dich nicht um mich; das kostet dich nur Zeit."
"Willst du nicht, daß man sich um dich kümmert?"
"Du sollst dich nicht um mich kümmern!" erklärt Rafa. "Also - welchen Zug willst du nehmen?"
"Das mußt du wissen. Du willst mich ja loswerden."
"Ich sag' ja nicht, daß ich dich loswerden will", lenkt Rafa ein. "Ich sag' ja nur, daß es keinen Sinn mehr hat, wenn wir hier weiterreden."
"Ja, dann sag' mal einen Zug", fordere ich ihn auf. "Ich weiß ja den Fahrplan nicht."
"19.18, glaube ich, oder vielleicht auch 19.16."
"Wie spät ist es jetzt?"
"Fünf vor sieben."
Rafa steht auf und zieht sich seine Jacke über.
"Ich bin nett, nicht?" sagt er. "Ich bring' dich noch zum Zug."
Als ich ebenfalls aufstehe, winkt er mich zurück:
"Ja, bleib' doch sitzen! Wir haben doch noch fünf Minuten! Na ja, drei Minuten ..."
"Jetzt will ich dich aber doch nochmal umarmen", sage ich entschlossen und gehe zu ihm.
Rafa weicht zurück und hebt abwehrend die Arme.
"Nein!" ruft er. "Nein, nein! Nein, nein, nein, das gibt's nicht! Nein, nein, das gibt's nicht!"
Er schiebt mich weg.
"Du willst nicht von mir angefaßt werden, weil du dich davor fürchtest", vermute ich. "Du erstarrst vor Furcht."
"Ich will nicht von dir angefaßt werden ... ich fühle nichts ..."
"Ja, das ist auch klar, weil du von der Angst gelähmt bist. Da merkst du dann auch nichts. Das ist das depressive Wellental; da merkst du tatsächlich nichts mehr. Das hatten wir auch schon öfter. Du hast Angst davor, daß ich dich berühre, weil das Gefühle in dir auslöst, die dich unsicher machen."
"Und wenn es so wäre?" fragt Rafa mit der herausfordernden Miene eines in die Enge getriebenen, der seine Haut so teuer wie möglich verkaufen will.
"Du hast Angst vor Gefühlen", fahre ich fort.
"Und wenn es so wäre?"
"Das Ding ist ja so - du hast dann auch gleichzeitig Sehnsucht nach Gefühlen. Du kannst dich dann selber nicht erreichen, weil du halt Angst davor hast."
"Und wenn es so wäre?"
"Es ist so", bin ich überzeugt. "Es ist so."
Als ich den schwarzen Mantel überziehe, zupft Rafa ihn noch zurecht.
"So?" sagt er dabei. "Nein, so. So ist es richtig."
Dann verlassen wir die Wohnung.
"Du hast immer diese Schleife", bemerkt Rafa, als wir die Treppe hinuntergehen.
"Ja", sage ich nur.
"Ist das jetzt was ... Hetty-typisches?" möchte er wissen.
"Ja."
"Du siehst immer gleich aus."
"Ja."
"Findest du das gut, immer gleich auszusehen?"
"Ja."
"Ich finde das langweilig, immer gleich auszusehen."
"Ich nicht", sage ich ruhig. "Ich finde das schön, immer gleich auszusehen."
Wir gehen den Bürgersteig hinunter. Ich versuche, mich bei Rafa einzuhaken, doch er sträubt sich und schüttelt meinen Arm weg.
"Was hast du jetzt gehabt?" fragt er. "Was hast du jetzt davon?"
"Nun ja - du hast es geschafft, mich zu dir einzuladen. Du hast es geschafft, mich vom Bahnhof abzuholen. All das hast du geschafft - um den Preis, daß du mir gegenüber abweisend warst. Du kannst eben nicht alles auf einmal, sondern du kannst immer nur in kleinen Schritten vorwärtsgehen."
"Mensch, jetzt such' dir doch endlich mal einen anderen ... such' dir doch mal irgendeinen anderen ... Mensch, du hast noch nie Sex gehabt ... such' dir doch mal nur einen, um das kennenzulernen!"
"Nein, ich kann mit keinem zusammen sein, den ich nicht liebe. Ich kann nur mit jemandem zusammen sein, den ich liebe, und das bist in diesem Fall du."
"Ja, wieso - mußt du den denn gleich lieben?"
"Mein Weg ist gerade", erkläre ich. "Ich bin mir selbst treu."
"Ja, sag' mal ... haben deine Freunde nie zu dir gesagt, Mensch, der Rafa ist ein A...loch, laß' ihn sausen, und sowas ..."
"Nein, meine Freunde haben das nie gesagt."
"Und deine Schwester, hat die das nie gesagt?"
"Nein, die hat gesagt:
'Oh, ich würde mich so freuen, wenn du endlich mit Rafa zusammenkommen würdest'.
Und: 'Er braucht dich', und so weiter. Die findet, ich muß dir helfen und dich unterstützen ... und ich muß auch was tun, um dich endlich in den Griff zu kriegen."
"In den Griff zu kriegen! Du willst mich willenlos machen!"
"Nein, ich will dich dir selbst näherbringen. Ich möchte dich mit deinen Gefühlen zusammenstoßen lassen. Ich will dir helfen, dich zu entwickeln."
"Ich will mich aber gar nicht entwickeln!" sagt Rafa mit Nachdruck. "Und wenn du mich veränderst, da ... gibt das so eine Explosion, das ist wie eine Supernova."
Wir gehen ein Stückchen schweigend, und mir fällt noch mehr ein:
"Merle hat gesagt:
'Du mußt dich um ihn kümmern, du mußt ihm helfen, du mußt ihn unterstützen, du mußt für ihn sorgen. Er braucht dich.'"
"Dann wirst du dir wohl nie einen Freund zulegen."
"Nein."
"Das ist echt erbärmlich mit deinen Gefühlen - da wirst du ja ewig drauf sitzenbleiben."
"Ich bleibe mir halt treu. Ich bleibe ich selber."
Am Bahnhof schaut Rafa nach den Gleisen und sieht einen Zug abfahren.
"Ach, ist das dein Zug?" fragt er und liest den Abfahrtplan auf einer Tafel. "Ach ja, 19.13 ... ah, wir gehen ins Café. Der nächste ... mal sehen ... 19.53."
Wir kommen in die Halle.
"Ein Ticket hast du?" fragt Rafa.
"Nein, das müßte ich mir am Automaten holen."
"Ja, dann hol' dir das schnell."
Rafa paßt es gut, daß wir noch ins Café gehen.
"Da kann ich nämlich gleich mal auf den Pott", sagt er.
"Ja, ich gehe auch auf den Pott."
"Ja, dann gehen wir beide auf den Pott."
Wir kommen in das Café, das eher nach einem Jägerstübchen aussieht.
"Wir setzen uns da hin", sagt Rafa, zeigt auf einen Tisch und verschwindet in der Toilette.
Ich lege meine Sachen auf eine Bank und setze mich. Dann kommt Rafa zurück. Ich gehe und bitte ihn, für mich Schokolade mit Sahne zu bestellen.
Es gelingt mir nicht, die Toilettentür mit einem Fünfziger zu öffnen. Ich hole die Frau an der Bar, die sie mir öffnet. Ich fürchte, so viel Zeit zu verlieren, daß ich den Kakao nicht mehr trinken kann und mit Rafa nicht mehr reden kann. Ich bin aber dann doch beizeiten fertig.
Rafa hat sich gegenüber der Bank hingesetzt; er dachte sich wohl, daß ich auf der Bank sitzen möchte, und er kann weit weg von mir sitzen. Ich nehme aber auf einem Stuhl Platz, der über Eck zu seinem steht. Rafa rückt weg, schlägt die Beine übereinander und sucht den größtmöglichen Abstand. Mit herausfordernder Miene schaut er mich an.
"Was 's' los?" fragt er.
Es beschäftigt ihn immer noch, daß mir nicht alle Welt von ihm abrät.
"Hat echt keiner von deinen Leuten jemals gesagt, das ist ein A...loch, laß' ihn sausen?" fragt er.
Ich denke nach und antworte:
"Nein."
"Und Carl? Der hat doch eigentlich eine gute Meinung."
"Ja, Carl mag dich", erzähle ich. "Der hat gesagt, du bist echt ein schwieriges Kind ..."
"Hoho."
"... und man müßte dich erziehen."
"Und wer soll mich erziehen? Du?"
"Na, sicher."
"Und wer erzieht dich?"
"Ja, du."
"Das geht doch gar nicht."
"Doch, man erzieht sich gegenseitig. Das ist das A und O in der Partnerschaft. Jeder von uns hat im seelischen Bereich das, was dem anderen fehlt und kann es ergänzen."
"Das Seelische von dir würde einen ins Irrenhaus bringen."
"Nein, das kann einen da 'rausholen", gebe ich zurück. "Nein ... von dir abgeraten, das haben nur Bekannte von mir, nicht meine wirklichen Freunde. Zum Beispiel U.W."
"Wer?"
"Der dicke U.W."
"Ach, ja."
"Der hat zum Beispiel gesagt:
'Das ist ein A...loch, vergiß'n.'
Der hatte aber ein Auge auf mich geworfen. Das waren meistens Leute, die ein Auge auf mich geworfen hatten und das deshalb gesagt haben."
"Auf mich? War der schwul?"
"Nein, der hatte ein Auge auf mich geworfen."
"Ach, so."
"Ivo Fechtner hat das auch gesagt. Der hat über dich gesagt:
'Der soll bloß wegbleiben, die dreckige Sau.'"
"Haa ...", grinst Rafa.
"Ivo Fechtner hatte auch ein Auge auf mich geworfen. Leider."
"Ivo Fechtner und Malda sind verlobt, nicht?"
"Ja, aber zwischenzeitlich waren sie auch schon wieder getrennt", kann ich berichten. "Jetzt sind sie so halb und halb zusammen, aber verlobt sind sie nicht mehr."
"Mit dieser Malda ... verstehst du dich doch ganz gut, nicht?"
"Ja; wir sind befreundet."
"Was hältst du eigentlich von Malda? Zähl' mal drei Eigenschaften auf."
"Sie ist etwas schwach, sie ist sehr warmherzig und sanftmütig, und sie wirkt auf mich sehr aufrichtig."
"Hältst du sie für besonders intelligent?"
"Nein, aber sie hat etwas sehr Aufrichtiges an sich."
"Mit Laura hast du jetzt auch nichts mehr groß am Hut, was?"
"Mit der habe ich schon seit Ewigkeiten nichts mehr zu tun."
"Die Laura, die finde ich echt immer netter."
"Das ist ein mieses, durchtriebenes kleines Miststück."
"Das finde ich ja gerade gut", behauptet Rafa. "Mies ist gut."
"Ja, ich weiß, du magst miese Leute."
"Was heißt hier 'mies'?"
"Du umgibst dich gern mit miesen Leuten. Du magst miese Leute. Mit denen bist du ja auch neunmal zusammen oder zeugst Kinder mit denen. Du magst miese Leute sehr."
"Kennst du meine neue CD?" erkundigt sich Rafa. "Nein, ne?"
"Doch."
"Wo gibt's die denn?"
"Na, ja ..."
"Ja, wo denn?"
"In den Plattenläden, da steht sie doch 'rum."
"Ah ... hast du sie dir gekauft?"
"Ja."
"Oh-ooh ...", stöhnt Rafa.
"Ja, wieso?" frage ich unschuldig. "Jetzt konnte ich sie ja kaufen, weil diese rotgefärbte Punkt - Punkt - Punkt nicht mehr dabei war. Ihr Fehlen hat auch der Band gutgetan. Zinnia singt wirklich sehr schön."
"Zinnia ist aber nur Gastsängerin."
"Zinnias Stimme spricht zu einem, die hat Farbe; das muß man ihr lassen. Nicht wie dieses Geröchel von dieser rotgefärbten Punkt - Punkt - Punkt, dieses fade, dünne Geröchel ..."
"Hast du dir die CD richtig angehört?"
"Ja."
"Welches Lied gefällt dir denn am besten?"
"Zinnias Lied."
"Ah, ja. 'Traum der Einsamkeit'. Und wie gefällt dir mein Commodore 64-Stück 'Wer hat uns umgebracht'?"
"Ach, ganz niedlich."
"Und wie gefällt dir 'Amerika'?"
"Aach ... das fand ich etwas plastillin", meine ich. "Du bist kein Amerikaner."
"Oh, ich find' das voll schick", entgegnet Rafa und rezitiert einige Verse aus dem Lied. "Und wie fandest du 'Monique Martinot'?"
"Na ja, das ist eine dieser Balladen mit dem Hauch Melancholie, wie 'Der strahlende Held'. Ist nicht schlecht."
"Weißt du überhaupt, wer das ist, Monique Martinot?"
"Ja, das stand doch in einer Szenezeitschrift. Das war doch diese Gattin von diesem französischen Wissenschaftler, konserviert irgendwie bei minus 90 Grad ..."
Rafa erzählt, daß die Frau an Krebs gestorben ist und daß ihr Ehemann sie in der Hoffnung eingefroren hat, daß sie eines Tages wieder zum Leben erwacht. Rafa wirkt sehr beeindruckt davon.
"Das ist eine richtig schöne, moderne Science Fiction-Liebesgeschichte", findet er.
Er weiß von einer Vereinigung von Leuten in Amerika, die sich alle einfrieren lassen wollen, weil sie glauben, daß sie eines Tages wiedererweckt werden können. Gegen leisen Widerstand erkläre ich Rafa, daß der Hirntod den Untergang der Hirnzellen bedeutet und daß ein Toter nur eine funktionsunfähige Masse im Kopf hat, nur zermanschte Reste; man könnte sagen, nichts.
"Das Einfrieren müßte man eher als Mumienkult sehen", fasse ich zusammen.
Rafa schlägt daraufhin vor, den Toten ein neues Gehirn einzubauen - ähnlich wie Frankenstein.
"Dann sind es aber nicht mehr dieselben Menschen", entgegne ich. "Da kannst du auch gleich einen neuen Körper nehmen. Da kannst du auch gleich ein Kind zur Welt bringen; da hast du mehr getan."
Rafa erzählt, daß der Wissenschaftler auch für sich selbst eine Kühltruhe aufgestellt hat, in einem Nebenraum. Ich äußere die Vermutung, daß der Wissenschaftler die Tatsache verdrängt, daß der Hirntod endgültig ist.
"Es ist der Glaube an die mögliche Wiederauferstehung", sagt Rafa. "Der Glaube hält ihn am Leben."
Wir stimmen in dem Punkt überein, daß der Mumienkult dem Wissenschaftler eine seelische Hilfe ist und daher gutgeheißen werden kann.
"Wie fandest du unser Interview?" möchte Rafa zu dem Artikel in der Szenezeitschrift wissen.
"Ganz gut, nur wurde diese rotgefärbte Punkt - Punkt - Punkt ein bißchen zu oft erwähnt", antworte ich. "Dieser Text von 'Tanz' dich in mein Herz' ist ja wirklich so mit das Primitivste, was ich überhaupt jemals gehört habe. Siri und ich standen nur da, in HB., und haben das angehört und gedacht, oh Gott, wie primitiv. Da sagte Siri auch:
'Oh, Mann! Die kann doch überhaupt nicht singen!'
Und da habe ich gesagt:
'Allerdings, die kann auch nicht singen.'"
"Wie gefällt dir 'Laterne'?"
"Na ja, irgendwie ... süß. Irgendwie abgefahren. Ich habe das Gefühl, daß du da an deine Kindheit gedacht hast, an etwas Verlorengegangenes, das du wiederfinden möchtest."
"Warum soll denn das nur für Kinder sein, das Lied?" fragt Rafa. "Warum nicht auch für Erwachsene?"
"Ach, du meinst, Lieder, die als Kinderlieder gelten, können durchaus auch was für Erwachsene sein."
"Das Lied ist völlig in Vergessenheit geraten."
"Aber das kennt doch jeder."
"Ja, die erste Strophe kennt jeder - aber die beiden anderen nicht. 'Und morgen kommen wir wieder ...', das hat sowas Hymnisches an sich ... findest du nicht?"
"Ja, das hat schon was Hymnisches an sich."
Danach gefragt, wie ich die CD insgesamt finde, antworte ich:
"Du läßt deine Stimme jetzt mehr schwingen; du hast eine größere Bandbreite. Du singst mal hoch, mal tief ... oder leiser ... und vielseitiger. Ich meine, im Großen und Ganzen ist die Musik für mich nicht hörbar; die ist mir zu seicht, zu kitschig."
"Ach, die ist geil!"
"Ich meine ... es hat durchaus einen Markt, und es gibt Leute, die genau das hören wollen."
"Jawoll."
"Von daher hat diese Musik durchaus ihre Berechtigung. Ich kann also nicht global sagen, die ist schlecht."
"Hast du sie noch jemand anderem vorgespielt?"
"Nein ... ach ja, klar - dem Derek", fällt mir ein. "Und der hat gemeint: 'Und sowas verkauft der?'"
Rafa scheint das lustig zu finden.
"Wahrscheinlich willst du peinlich wirken", vermute ich. "Was ich peinlich finde, was ich wirklich peinlich finde ... warum hast du eigentlich das Wörtchen 'out' in einer Fußnote erklärt?"
"Das hast du nicht verstanden?"
"Na ja, als Constri das gesehen hat, hat die nur gemeint:
'Der will die Leute vera...en. Ha, das meint der doch nicht ernst.'"
"Also, das ist so: Wir haben mal gesagt, wir wollen ja deutsche Musik machen", erzählt Rafa. "Also - kein Wort englisch."
Dann hat Rafa aber einen Reim gebraucht auf das Wort "Haut", und da paßte "out" nun gerade so schön. Er nahm das englische Wort in den Text auf, machte es aber kenntlich durch die Fußnote. Keiner sollte ihm nachsagen können, daß er sich nicht an sein Versprechen hielt, nur deutsch zu singen.
"Ja, das weißt du", erwidere ich, "aber die Hörer der Musik und die Leser der Texte, die wissen das nicht. Die haben das Gefühl, du willst die für dumm verkaufen, wenn du dieses Wörtchen, das jedes Kind schon mit fünf Jahren kennt, in einer Fußnote erklärst."
"Die freuen sich doch, wenn sie wissen, ah, das Wort kenne ich."
"Nee, nee, die denken, du willst die für dumm verkaufen", bin ich mir sicher. "Warum darf in deiner Musik eigentlich kein Wort deutsch sein?"
Rafa meint, erstens wolle er sein Versprechen halten und sich nicht unglaubwürdig machen, und zweitens gebe es schon viel zu viel Musik mit englischen Texten, und man müßte unbedingt mehr Musik mit deutschen Texten machen.
"Sonst geht die deutsche Kultur ja voll in den A...", sagt er.
"Ja, was ist denn das auch für ein Wort?" tadele ich.
"Was für ein Wort?" gibt Rafa sich harmlos.
"'A...', das ist doch wirklich Gossensprache."
"Ja, aber es ist deutsch", hält Rafa dagegen. "Genau wie 'f...en'."
"Mein Gott, was für ein häßliches Wort."
"Oder 'F...'."
"Oh, was für ein fürchterliches Wort!"
"Ja, aber ist alles deutsch."
"Aber man muß doch nicht alles kultivieren, auch das Schlechte. Man muß doch nicht alles Deutsche kultivieren, nur weil es deutsch ist."
Rafa ist mit seiner CD zufrieden. Ich hänge mehr an seinem Frühwerk:
"'Ganz in Weiß' finde ich aber immer noch am schönsten."
"Ja, damals ... da habe ich noch fast keine Geräte gehabt", erinnert sich Rafa. "Da habe ich das Letzte aus den Geräten 'rausgeholt, um das hinzukriegen."
"Jetzt hast du ja viel mehr Geräte."
"Ja, W.E ist stärker geworden", freut sich Rafa.
"Auch wenn ich den Namen immer noch nicht leiden kann", wende ich ein. "Ich finde den furchtbar kitschig. 'Feindsender' fand ich besser und ernstzunehmender."
"Aach ... 'Feindsender' war viel zu radikal; das war doch nichts. 'W.E' ist viel mystischer. Ich fühle mich auch wie ein Radio ... ich bin das auch 1924 schon gewesen. Ich mag den Vergleich - wie ein Radio etwas auszusenden."
"Du willst der Menschheit was senden", weiß ich. "'Der strahlende Held' mag ich auch gerne ... Du hast aber jede Menge Rechtschreibfehler im Textheft."
"Ich mach' den Satz nicht."
"In diesem Heft jetzt ist das ja auch besser. In dem Text von 'Der strahlende Held' hast du übrigens einen grammatischen Fehler. Es müßte eigentlich nicht heißen 'von dem strahlenden Held', sondern 'von dem strahlenden Helden'. Aber wenn man das korrekt machen würde, würde es Schwierigkeiten geben mit dem Reim."
Ich schaue auf den Tisch und sage in Gedanken:
"Ich weiß, daß ich mir wieder Sorgen machen werde um dich."
"Wann machst du dir Sorgen um mich?"
"Wenn ich im Bett liege und nachdenke."
"Und was machst du dir für Sorgen?"
"Das ist die Sache mit dem AIDS, mit der Ansteckungsgefahr."
"Da will ich mich jetzt nicht drum kümmern", sagt Rafa wegwerfend. "Da will ich nicht drüber nachdenken. Wenn's mich erwischt, erwischt's mich halt."
"Ja, und wir wissen auch ganz genau, wie diese Krankheit aussieht, nicht? Wir wissen ganz genau, wie diese Krankheit ist, nicht, Herr Dawyne?"
"Das will ich jetzt gar nicht wissen, Fräulein Hetty."
"Also, ich möchte diese Krankheit nicht haben. Das ist kein Sterben, das ist Verrecken, das Sterben an AIDS. Ich habe mal ein paar Jahre auf einer AIDS-Station gearbeitet. Das ist ein Verrecken. Das ist widerwärtig."
"Ha, dann würdest du mich wohl nicht mehr so toll finden, was?" lacht Rafa. "Was würdest du dann machen, hä?"
"Dich pflegen."
"Ouu!" staunt Rafa. "Mich pflegen!"
"Ja, sicher, was denn sonst? Das ist doch selbstverständlich."
"Ou ..."
"Aber es muß unter allen Umständen verhindert werden, daß du krank wirst."
"Wenn dir das so wichtig ist, kannst du mir ja ein Päckchen Kondome zum Geburtstag schenken", schlägt Rafa vor. "Der ist ja bald."
"Ach, nee", winke ich ab. "Kondome kannst du dir selber kaufen. Der Wille ist hier entscheidend."
"Na ja, das könnte vielleicht ein kleiner Anstoß sein."
"Ja, aber du kannst mich zu deinem Geburtstag gar nicht einladen", entgegne ich.
"Ich habe schon ewig keine Leute mehr zu meinem Geburtstag eingeladen", behauptet Rafa. "Ich habe schon seit vier Jahren keine mehr eingeladen."
"Mich hast du aber mal eingeladen, und das war vor drei Jahren", erinnere ich ihn. "Hast du denn gar keine Gäste? Du hast doch sonst immer Parties gegeben."
"Die Leute kommen von selber. Die wissen doch, wann ich Geburtstag habe. Meine Freunde, die kommen von selber."
"Dann kann ich ja nicht kommen", folgere ich. "Ich bin ja keine Freundin von dir. Ich bin ja eine Feindin."
"Nein, du bist keine Feindin."
"Ich bin aber auch keine Freundin."
"Nein."
"Ja, bitte, dann kann ich ja doch nicht kommen. Dann wär's das. Dann hätte sich das erübrigt. Außerdem kann es sein, daß du dann schon wieder irgendeine Ische hast. Ich meine, ich würde dich auch gerne zu meinem Geburtstag einladen, aber das wird ja dann auch nicht gehen."
"Warum würde das nicht gehen?"
"Weil du dann wahrscheinlich schon wieder gebunden bist. Du dürfstest dann nicht gebunden sein, nur an mich."
"Gebunden bin ich immer", erklärt Rafa, "und zwar an mich."
"Ich würde dich ja liebend gerne einladen, aber das wird dann wohl nicht gehen. Ich feiere übrigens am 03. Februar; das ist der erste Samstag im Februar."
"Wassermann."
"Ja. Geboren bin ich am 31.01., aber ich feiere immer am ersten Samstag im Februar, es sei denn, mein Geburtstag selbst ist ein Samstag."
"Und wenn dein Geburtstag ein Sonntag ist?"
"Dann feiere ich 'rein. Dann feiere ich am 30. Das war 1993 so. Da bin ich einen Tag nach meinem Geburtstag, am 01.02., hierher gefahren und habe dich besucht."
"Ah, ja?"
"Ja. Das war am 01.02.93."
"Ja?"
"Ja. Und das war ein trauriges Erlebnis für mich."
"Warum?"
"Weil ich da gemerkt habe, daß ich dich - leider - liebe."
"'Leider' ist der richtige Ausdruck."
"Da hast du mir 'Auf nach Golgatha' aufgenommen. Das hattest du da gerade hergestellt."
"Ja?"
"Ja, ich habe die erste Version von dem Stück, die existiert. - 'Auf nach Golgatha' gefiel mir auch auf der CD."
"Die CD-Version ist nicht so besonders."
"Na ja, die alte gefiel mir auch besser. Da hast du so mehr klagend gesungen, und hier brüllst du mehr, und ich finde das schöner, wenn du das mehr klagend singst."
Rafa sieht auf die Uhr.
"So - du mußt zum Zug!" stellt er fest.
"Ich muß aber noch bezahlen."
"Ich hab' schon bezahlt."
"Ach, für mich auch?"
"Ja."
"Oh, das ist aber nett."
"Oh, jaa - bin immer nett."
Rafa hält mir die Tür auf. Als wir durch die Unterführung gehen, sage ich zu ihm:
"Du bist wohl glücklich so, wie du jetzt lebst - aber wohl nur deshalb, weil du das, was du sonst noch erleben könntest, gar nicht kennst."
"Das will ich ja auch gar nicht kennenlernen."
"Das, was du sagst, ist voller Widersprüche. Ich hätte dich gern so, wie du wirklich bist."
"Ich bin widersprüchlich."
"Du hast dich wieder völlig in dich selbst zurückgezogen."
Wir kommen auf den Bahnsteig. Rafa liest den Plan, der dort hängt.
"So, mal ein paar Züge auswendiglernen", sagt er.
Dann gehen wir weiter, und ich ermahne ihn noch einmal:
"Aber mit dieser Geschichte mit den Kondomen, da mußt du dir echt noch was überlegen."
"Das laß' meine Sorge sein", sagt Rafa ärgerlich. "Laß' uns mal woanders hingehen."
Er zieht mich ein Stück weit abseits von den wartenden Fahrgästen, dem Ende des Bahnsteigs zu.
"Du scheinst den Sommer auch nicht gerade zu mögen", vermutet er. "Oder?"
"Ich kann jeder Jahreszeit etwas abgewinnen."
"Und was findest du schön an dieser Jahreszeit?"
"Ich finde es halt schön, wenn die verschneiten Felder so daliegen."
"Wir haben aber noch nicht Winter. Was findest du am Herbst schön?"
"Ach ... ich weiß nicht ..."
Ich wuschle ihm durch die ebenholzfarbenen Haare, und er wehrt sich.
"Hast du die schwarz gefärbt?" erkundige ich mich.
"Ich hab' sie mal schwarz getönt", erzählt Rafa, "aber das ist auch schon eine Ewigkeit her. Das ist schon fast wieder 'rausgewaschen. Das dürfte also schon fast wieder meine normale Haarfarbe sein; ich habe ja sehr dunkle Haare."
"Ja, sehr dunkle", wiederhole ich, und ich bin versucht, zu schwärmen.
Ich will ihn in die Arme schließen. Er wehrt ab.
"Am Samstag wolltest du das", erinnere ich ihn.
"He, ich war besoffen", entgegnet Rafa. "Ich war besoffen. Und jetzt bin ich stocknüchtern."
"Ja, das weiß ich."
Ich sehe ihn an, und er fragt seufzend:
"Was 's' los?"
"Ich liebe dich."
"Liebe!" ruft er verächtlich. "Ha! Ich liebe Tessa!"
Er will nicht ernst nehmen, was ich sage:
"Und nur, weil du zum ersten Mal solche Gefühle kriegst, denkst du gleich, das sei Liebe!"
"Ich habe diese Gefühle schon seit drei Jahren", gebe ich zu bedenken.
"Ja, aber das war auch das erste Mal, daß du die für jemanden hattest", ergänzt er.
"Na ja, es gibt für mich ja auch nur dich."
"Weißt du, was Tessa zu mir gesagt hat, als sie sich von mir getrennt hat?" möchte Rafa mich beeindrucken. "'Ich werde dich immer lieben! Es geht jetzt nicht mehr mit uns, wir können nicht mehr zusammen sein jetzt, aber ich werde dich immer lieben!' Und das - das bleibt hängen, das vergesse ich nicht!"
"Die liebt dich nicht. Die ist ordinär und primitiv."
"Das sein tolles Frau."
"Das ist ein widerliches Weib."
"Das sein tolles Frau."
"Das ist ein widerliches Weib."
"Los, komm! Der Zug!" ruft er, als die Ansage über den Bahnsteig schallt.
Wir nähern uns dem einfahrenden Zug. Erst jetzt wehrt Rafa sich nicht mehr dagegen, daß ich mich bei ihm einhake.
"Das glaub' ich dir nicht, daß du nichts für mich empfindest", sage ich bestimmt.
"Ich empfinde was für dich", entgegnet er herablassend. "Ich empfinde für alle Menschen ein bißchen was."
"Jaa, jaa ..."
"Also - wir sehen uns!" verabschiedet sich Rafa. "Und schönen Dank dafür, daß du mir die Uhr zurückgebracht hast. - War gut, nicht?"
"Was war gut?"
"Ja, der Spruch eben, nicht?"
"Na, ja ..."
"Oh, jetzt haben wir die Videokassetten vergessen", fällt Rafa ein.
"Oh, nein, die Videos!" rufe ich entsetzt. "Oh, wir müssen die unbedingt noch holen!"
"Nein, ich hab' jetzt auch sowieso keine Zeit. Ich bringe sie dir mit."
"Mensch, bei dir liegen zwanzig Videokassetten, und ich habe keine mitgenommen!"
"Los, steig' ein, sonst verpaßt du deinen Zug!"
"Aber wir müssen noch die Videokassetten holen! Ich muß die mitnehmen!"
Die Zugtüren fallen ins Schloß. Ich stehe reglos davor. Rafa reißt eine der Türen wieder auf. Er schiebt mich in den Zug mit den Worten:
"So - los, 'rein da - und tschüß!"
Die Tür fällt hinter mir zu.
"Was kann ich dafür, daß ich ihn liebe?" denke ich. "Ich habe mir nicht ausgesucht, ihn zu lieben. Ich liebe ihn, leider, und das ist es. Liebe kann man nicht an- und abschalten wie eine Maschine."
Ich kann nicht so tun, als wäre Rafa mir gleichgültig. Ich kann nicht mich selbst belügen. Ich kann mich auch nicht dazu zwingen, Rafa nicht mehr zu lieben. Und ich kann mich nicht dazu zwingen, einen anderen zu lieben.
Man müßte mir schon den Kopf abschlagen, damit ich mich nicht mehr nach Rafa umdrehe.
Rafa unternimmt Einiges, um zu verhindern, daß ich mich von ihm löse. Er kommt immer wieder an; er kann es nicht lassen. Seit zweieinhalb Jahren bin ich nicht mehr auf ihn zugegangen. Er mußte ankommen und bitten. Manchmal habe ich ihn sogar weggeschickt.
Es ist immer noch so, daß ich mir abwechselnd sicher und unsicher in ihm bin. Es ist ein Hin- und Herkippen wie in einer Schiffsschaukel. Ich will mich aber nicht mehr von Rafa verschaukeln lassen. Ich will die Schaukel anhalten.
"Doppelsinnigkeit des Wesens" habe ich das einmal genannt, was ich bei Rafa finde. Mal ist er empfindsam, offen, sehnsuchtsvoll, zärtlich und vertrauenerweckend - und mal ist er kalt, stur, kindisch, höhnisch, abweisend und langweilig. Die unterschiedliche Dosierung des Alkohols hilft ihm, zwischen den beiden Persönlichkeiten hin- und herzuwechseln.
Noch hat Rafa von seinem Verhalten zu viel Gewinn, als daß er einen Anlaß hätte, es zu ändern. Es geht ihm "zu gut". Sein Zustand ist ein stabiles Gleichgewicht aus Widersprüchen.
Rafa wird nur etwas verändern wollen und können, wenn er unter seiner Widersprüchlichkeit unerträglich leidet.
Constri meint, ich muß daran glauben, daß das, was ich mit Rafa erlebe, irgendeinen Sinn haben muß, einen Sinn, den ich noch nicht kenne.
Im Booklet von Rafas neuem Album steht auch der Text von "Auf nach Golgatha". "Schleppt ihn zum Altar" heißt es darin, wie ich es Rafa empfohlen habe, als er mir das Stück im Februar 1993 bei meinem ersten Besuch in SHG. vorspielte.
Malda und Siddra waren bei mir zum Kaffee. Malda ist schon wieder mit Ivo Fechtner verlobt. Sie erzählte, daß zwischen ihr und Ivo sadomasochistische Spielchen stattfinden.
Siddra hat mir erzählt, daß sie Rafas Mutter schon gesehen hat.
"Der hat so ein liebes Muttchen", meinte Siddra.
Die Mutter soll im Hausfrauenkittel herumlaufen und wellige hellbraune Haare haben. Sie soll normal groß sein und nicht ganz schlank. Lieb, fürsorglich und ordentlich soll sie sein.
Luisa soll auch immer lieb sein. Sie soll nie wild und böse werden. Sie soll nicht schimpfen können und deshalb auch nicht fähig gewesen sein, sich gegen Rafas Frechheiten zu wehren. Rafa soll Luisa wirklich furchtbar schlecht behandelt haben. Eine Zeitlang soll Rafa nicht nur seine Haare, sondern auch seine Nase so hoch getragen haben, daß niemand mehr mit ihm reden wollte.
Dolf soll Luisa früher immer geärgert haben, indem er sie "Pumuckl" nannte, wegen ihrer langen roten Haare.
Siddra mag Luisa gern; die Sängerin Tessa aber konnte sie von Anfang an nicht leiden. Sie fand die Sängerin immer widerlich. Einmal stand Siddra neben der Sängerin vor dem Spiegel in der Damentoilette des "Nachtlicht". Beide schminkten sich nach. Siddra stellte fest, daß sie keinen Kajalstift dabeihatte. Sie wollte die Sängerin aber nicht um einen Kajalstift bitten. Als zwei Mädchen in die Toilette kamen, fragte Siddra die Mädchen:
"Habt ihr mal einen Kajal?"
Da sagte die Sängerin in einem recht aggressiven Ton:
"Hättst auch mich nach einem Kajal fragen können!"
Das tat Siddra aber nicht.
Übrigens soll Daphne hinter Rafa her sein, wie Velvet. Viktoria soll schon ein Techtelmechtel mit Rafa gehabt haben.

In einem Traum band ich Luisa in meine Forschungen über Rafa ein. Ich gab ihr auf, Gespräche mit Rafa zu führen, die ich später auswerten wollte.

Ende November gab es die nächste "Crucifiction"-Party in HB. Vorher war ich bei Ciril und dessen Freundin Marianna, wo Mariannas 20. Geburtstag gefeiert wurde. Ich hatte von den Leuten den Eindruck, daß sie meine Gesellschaft schätzten. Sie wollten mich gar nicht weglassen.
Bei "Crucifiction" spielte Sareth viel Rares, Abgründiges und sehr Tanzbares. Leider trieb sich auch der Sockenschuß dort herum. Wenigstens hielt er Abstand zu mir.
Ich unterhielt mich mit Dag über die Frage, inwieweit das, was ein Betrunkener tut, ernstzunehmen ist. Dag meint, Rafa hat eine Neigung für mich, der er folgt, wenn er getrunken hat. Ist er nüchtern, hält er Abstand von mir, und dies ist auch das, was er eigentlich will - Abstand. Dag glaubt, daß eine Neigung etwas Bleibendes ist, daß Rafa sie also auch weiterhin für mich haben wird. Dag meint, daß Rafa keine Liebe für mich empfindet, da Liebe sich dadurch auszeichne, daß sie vorübergehe. Dag nimmt an, daß der jetzige Zustand zwischen Rafa und mir von Dauer ist, weil er Rafa insgesamt ganz recht ist und weil ich mich nicht von Rafa lösen kann.
Ich halte es für möglich, daß Rafa sich aus der Szene völlig zurückzieht, mich dann auch nicht mehr sehen muß und sich von mir löst.
Außer dem Sockenschuß gab es dieses Mal bei "Crucifiction" noch ein anderes aufdringliches Mannsbild. Es handelte sich um einen gewissen Freddy. Er warb auf eine plumpe Art, und ich hielt ihn auf Abstand. Dag erzählte, daß Freddy demnächst wegen Kreditbetrugs vor Gericht muß. Dag haßt Freddy so sehr, daß er sich ekelt, wenn er Freddy nur streift.
Es wurde vier Uhr, und ich hätte losgehen müssen zum Bahnhof. Vorher mußte ich aber herausfinden, ob der Sockenschuß ebenfalls den Zug um 4.21 nehmen wollte. Der Sockenschuß schien darauf zu achten, wann ich meine Sachen holte. Um zehn nach vier zog ich mich an, und da erst zog der Sockenschuß sich auch an. Ich war gewarnt. Er hatte vor, mich auf dem Weg zum Bahnhof oder im Zug anzugreifen. Ich wartete, bis der Sockenschuß gegangen war. Dann ging ich mit Dag weg - aber zu Dag. Wir tranken Cola, und es gab Schokolade zum Essen und Musik zum Hören und Aufnehmen.
"Wenn ich euch nicht hätte, dann hätte ich gar nicht gewußt, was ich machen soll", sagte ich dankbar zu Dag.
Sareth hat mir ebenfalls angeboten, mich für die Morgenstunden mitzunehmen. Und er sagte, er würde sich sehr freuen, wenn ich am 09.12. zu seiner Tanzveranstaltung in die "Ruine" komme.
In der folgenden Nacht war ich im "Elizium" und traf dort Macro vom "Exil". Macro versucht, im "Exil" das Innovative durchzusetzen gegen das eingefahrene Programm von Rafa und Kappa.
"Rafa hält die Neue Deutsche Welle für das Innovativste, was es gibt", konnte ich erzählen. "Rafa und Kappa klammern sich an diese Kindermusik. Wahrscheinlich handelt es sich hier um ein Reifungsproblem."
"Wenn Rafa und Kappa in der 'Halle' aufgelegt haben, hatte man echt das Gefühl, man kommt in den Kindergarten", erinnerte sich Macro.
"Es stellt sich die Frage, ob es den beiden an Lernbereitschaft oder an Lernfähigkeit mangelt", meinte ich.
Macro kicherte.
"Bei Kappa denke ich, daß eher die Lernbereitschaft das Problem ist", vermutete er. "Bei Rafa ... liegt es wohl an der Lernfähigkeit."
"Von Rafa weiß ich, daß er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, erwachsen zu werden."
Ich empfahl Macro, im "Exil" ruhig die seltsamsten Industrial-Hits zu spielen und Rafa und Kappa vorzuführen, daß außergewöhnliche Musik ankommt.
Im "Elizium" kommt außergewöhnliche Musik an, das konnte man wieder einmal feststellen. Luie spielte Sachen aus dem Avantgarde-Bereich wie "Leave the nest" von Jack or Jive, Mittelalterliches wie "Saltarello" von Corvus Corax und den Elektro-Klassiker "Memories" von Klinik.
In der Damentoilette gab es zu später Stunde eine Art Konferenz. Elsa wußte nicht, was sie mit ihren Haaren machen sollte und ließ sich von Nora und mir beraten. Ich empfahl Elsa, sich die Haare hochzustecken - allerdings ordentlich, nicht schlampig.
"Wenn du es schlampig machst, sieht es nach Freudenmädchen aus", warnte ich und dachte an die unordentlichen Frisuren der Sängerin Tessa.
Lillien hat am Telefon erzählt, sie habe gehört, daß Rafa zu einer Runde von Leuten von der Treue gepredigt hätte.
"Gerade er", meinte Lillien. "Er und Treue ..."
Lillien erzählte außerdem, einige Leute würden über Velroe verbreiten, Rafa wolle mich nur ins Bett ziehen und dann fallenlassen.
Mal hat am Telefon erzählt, daß er die Betonmischer-Industrial-Band Whitehouse für sich entdeckt hat. Er mag besonders eine neuere CD von Whitehouse, auf der schwermütige Klänge überwiegen.
Mal hat auch erzählt, daß er vor Jahren einmal mit Dolf über Industrial-Musik gesprochen hat. Dolf redete Mal sehr nach dem Mund; er soll gesagt haben, Industrial sei die Musik, und Industrial hier, Industrial da ... und jetzt wirbt er für NDW-Revivals. Deswegen findet Mal, daß Dolf beschränkt und opportunistisch ist.

In einem Traum kämpfte Rafa mit sich, mir und anderen wegen seines Vorhabens, mich einzuladen. Er behauptete, es fehle mir an "Farbe", und das sei der Grund, weshalb er mich einlade. Er schickte mich dann auch unter merkwürdigen Kämpfen und mit merkwürdigen Begründungen wieder weg.

In einem anderen Traum glaubte Rafa, wenn er sich mit mir einließe, könnte er sich ebensogut mit dem Teufel einlassen.

Im Institut wurde ich neulich von Rutger gefragt:
"Kennst du Elektro-Betty?"
"Ich bin das", gab ich überrascht zur Antwort.
Es stellte sich heraus, daß eine Bekannte von Rutger mit einigen Kommilitonen vor Kurzem einen Thekenbummel unternahm ("ein paar Studenten vom Lande wollten lästern gehen"). Dabei gerieten sie auch ins "Elizium". Dort wurde ihnen Elektro-Betty gezeigt. Ich weiß allerdings nicht, ob sie über mich gelästert haben.



Am ersten Freitag im Dezember war ich abends beim Professor, wo einige Leute aus dem Institut ein Essen gaben. Ich häkelte an einer Scheibengardine und tratschte mit einer Kollegin über schlimme Chefs und Bauchschmerzen, die nur weggehen, wenn man die Stelle wechselt.
An der Haltestelle traf ich Clara; die will das "Exil" immer noch meiden, wegen ihrer Enttäuschung mit Velroe.
Als Nächstes fuhr ich zu Malda. Sie zeigte mir eine Rezension über Rafas neue CD. Die CD wird gelobt, auch die weiblichen Vocals werden gelobt. Der Rezensent schrieb, er habe schon öfters mit Rafa und Dolf gezecht.
Zinnia ist an die Stelle der Sängerin Tessa getreten, doch ich kann mich immer noch unendlich über Tessa aufregen. Weil ich mich so furchtbar aufregte, schenkte Malda mir einen kleinen Sandsack.
"Der ist rot", sagte Malda, "das ist die Sängerin. Den kannst du jetzt an die Wand schmeißen."
Also warf ich den Sandsack einige Male an die Wand.
Übrigens erzählte Malda, daß Ivo Fechtner und sie sich gegenseitig verdreschen.
Fürs "Exil" weihte Malda ihr neues Cocktailkleid ein, das ein Schleifchen an der Taille hat. Ich war auch wieder ganz schick; ich hatte den Taftrock mit der Schärpe an - jetzt ganz neu aus echter Seide - und dazu das Oberteil, das an den Seiten und auf den Schultern offen ist und mit vielen kleinen Riegeln zusammengehalten wird. Eine Haarsträhne hatte ich mit stoffumhüllten Gummis hochgebunden. Am Hals trug ich ein Samtband mit Kreuz und an den Armen die langen Handschuhe. Malda fand mich furchtbar süß und nannte mich "Zuckermaus".
Im "Exil" lief sogleich etwas zum Tanzen - erst "Saltarello" von Dead can Dance und dann "Bloodmoney" von Dive. Und ich wurde von vielen Leuten begrüßt - Lillien, Toro - und, als Überraschung, Ted mit Marvin und Cyan. Ted und Marvin waren nach H. gekommen, um Cyan zum Geburtstag zu besuchen.
Auch Sasch war da, außerdem Daphne, Onno, Dimitri, Velroe und Jesco, der mich im Vorübergehen zu seinem 30. einlud.
Rafa stand fast die ganze Zeit am DJ-Pult, ohne weibliche Gesellschaft.
Die burschikose Bardame war nicht im "Exil". Statt ihrer war Sharon da.
Rafa trug sein Haar wieder offen; es war etwas toupiert und verwuschelt. Er hatte ein weißes Rüschenhemd an und die Jacke mit den Schnallen auf den Ärmeln.
"So ... ich wünsche euch einen wunderschönen Abend", sagte er durchs Mikrophon. "Und wer weiß, von wem das Kufstein-Lied ist, kann mal zu mir kommen."
"Da müßte ich mal meinen Vater fragen", sagte einer von den Leuten, mit denen ich gerade im Gespräch war. "Der kennt das nämlich in- und auswendig."
Mir wurde ganz seltsam zumute. Kannte Rafas Vater das Kufstein-Lied vielleicht auch? Ist das Lied für Rafa eine Erinnerung an den Verstorbenen?
Ich kenne das Lied nicht.
Einmal kam Rafa kurz an die Bar und stellte sich zu Malda. Sie berichtete mir danach, er habe sie gegrüßt:
"'n Abend!"
Rafa gab sich Mühe mit der Musik. Ted wünschte sich öfter etwas, das Rafa dann auch spielte, soweit er es dahatte; viele CD's soll Rafa laut Ted nicht dabeigehabt haben.
Unter den Titeln, die er spielte, waren "Motorbike" von Sheep on drugs, "Totally gone" von Blackhouse, "Save me" von Suicide Commando, "Don't tame your soul" von Leæther Strip, "Dead and buried" von Alien Sex Fiend, "Devil dance" von den Invisible Limits und "Love missile" von Sigue Sigue Sputnik.
Freilich konnte Rafa es nicht lassen, auch sein C64-Stück "Wer hat uns umgebracht?" zu spielen. Und er spielte noch etwas von sich - seine Verballhornung von "Gothic Erotic" von Umbra et Imago. Ich bin mir inzwischen sicher, daß diese Version von Rafa stammt, denn ich erkenne seine Stimme. Hoffentlich kann Rafa mir diese Version eines Tages aufnehmen.
Als "49 second romance" von P1/E begann, kam Rafa dicht neben mich auf die Tanzfläche. Ich legte schnell die Arme um ihn und streichelte ihn. Dann ließ ich ihn tanzen und tanzte selbst auch weiter. Während des Tanzens aber sorgte ich dafür, daß wir uns berührten an Händen und Armen, und ich streichelte ihn mehrmals. Vor dem Ende des Stücks lief Rafa wieder hoch zum Pult, weil die CD gewechselt werden mußte.
Saara und ich zogen uns später an ein ruhiges Tischchen zurück, um uns auszutauschen. Ich erzählte ihr von Rafas Gefühlsausbrüchen im "Exil" am frühen Sonntagmorgen vor zwei Wochen und von seinen Versuchen am darauffolgenden Dienstag in SHG., alle Zärtlichkeiten ungeschehen zu machen und alle Geständnisse zu widerrufen. Saara hat übrigens gesehen, daß Rafa die burschikose Bardame an jenem Sonntagmorgen nicht nur umarmt, sondern auch geküßt hat - nachdem ich schon fort war. Vielleicht wollte Rafa dadurch ungeschehen machen, daß er soeben mich geküßt hatte.
Saara hat von Rafas Mutter erzählt. Als sie bei Rafa zu Besuch war, begegnete ihr die Mutter, und Saara grüßte artig:
"Hallo. Ich bin Saara."
Die Mutter soll sehr erstaunt darüber gewesen sein, daß Saara sich ihr vorstellte. Rafa fing an, laut zu lachen. Verunsichert fragte Saara:
"Hab' ich was falsch gemacht?"
Da lachte Rafa noch mehr und wollte gar nicht aufhören zu lachen.
Laut Saara soll Rafas Mutter "wie eine nette Omi" aussehen und "ganz lieb" sein. Das unterstreicht, was Siddra über die Mutter gesagt hat.
Rafa hat Saara bei ihrem Besuch in SHG. gefragt, ob sie mit ihm für eine Woche an die Nordsee fahren wollte; freilich lehnte sie ab. Es kann sein, daß Rafa sie das gefragt hat, weil er nicht möchte, daß ich die Einzige bin, die er so etwas gefragt hat.
Rafa ließ Saara damals ungern weg. Er wollte für sie noch einen Kaffee kochen, bevor sie ging. Er stellte die Kanne aber dreimal hintereinander auf die falsche Platte, und dadurch konnte er ungefähr eine Stunde Zeit schinden.
Saara berichtete, daß Kappa sie zu sich eingeladen hatte. Ich riet Saara, Kappa nur an sich heranzulassen, wenn er sich gegen Genna entschied.
Als es im "Exil" leerer wurde, wollten Dimitri und Velroe Saara und mich ins "Elizium" mitnehmen. Sie umarmten uns als Bündel und baten und flehten. Wir wollten aber nicht mitkommen. Also blieben wir alle im "Exil". Saara verriet mir, daß Rafa ganz böse zu mir herübergestarrt hat, als wir von Dimitri und Velroe umarmt wurden.
Rafa hat mir in SHG. vorgeworfen, ich würde ihn im "Exil" anstarren. Jetzt war bestimmt nicht ich diejenige, die starrte; ich schaute Rafa nur selten und flüchtig an. Er aber ... tat eben das, was er mir vorwarf.
Auf der Tanzfläche wollte Velroe mir Foxtrott beibringen. Ich machte mit; allerdings war es nicht einfach, Velroes Hände von meiner Oberweite fernzuhalten.
Was wird Rafa wohl gedacht haben bei all dem? Hat er sich vielleicht im Stillen gewünscht, auch einmal mit mir als Paar tanzen zu können?
Rafa bat Saara, Dimitri und Velroe, am 08.12. nach SHG. ins "Contrast" zu kommen. Er legt dort auf. Nach dem Tanz möchte er die Leute noch bei sich zum Kaffee einladen. Saara fragte mich, ob ich mitkommen wolle nach SHG. Ich entgegnete, das ginge nicht, denn es würde so aussehen, als wenn ich Rafa nachliefe. Er müßte mich selbst darum bitten, zu kommen.
Kurz vor vier ging ich heim. Ich fand es schade, daß ich mich von Rafa nicht verabschieden konnte. Er ging nicht auf mich zu, und ich wollte ihm nicht nachlaufen.
Lillien hat übrigens beobachtet, daß Rafa erst angefangen hat, EBM und härtere Elektronik zu spielen, als ich ins "Exil" kam. Vorher soll die Musik so leicht und seicht gewesen sein, daß Lillien nicht wußte, ob sie bleiben oder gehen sollte.
Lillien hat mir auch erzählt, sie hat von Talon gehört, daß die Mutter der Sängerin Tessa ein Bordell mit mehreren Mädchen unterhält. Dem wäre zu glauben, weil ich Talon oft mit der Sängerin habe sprechen sehen und sie ihm vertrauen dürfte. Wenn die Mutter ein Bordell hat und die Tochter nicht richtig arbeiten kann oder will, so wird die Tochter mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls in das Rotlichtgewerbe einsteigen - wenn sie es nicht längst schon getan hat. Wenn ich also zu Rafa sage, die Rotgefärbte ist eine Schlampe, so ist dieser Ausdruck in meinen Augen beinahe noch zu freundlich. Wenn die Sängern sich wirklich prostituiert, dann ist Rafa mit einer echten Hure zusammen gewesen, einer Hure, die er mir jetzt im Nachhinein als Heilige verkauft. Vielleicht schämt er sich dafür, daß er mit so einer etwas gehabt hat, und er möchte jetzt so tun, als sei sie das anständigste Geschöpf, das lebt.
Am Samstagabend waren Constri, Lillien und ich in HH. bei "Klangwerk". Lillien ließ sich von der Stimmung und der Musik anstecken und tanzte sogar zu dem düster-atonalen "To die" von Whitehouse.
Zu besonders rauhen, tiefgründigen Stücken tanzte ich manchmal nur allein mit einem großen, schweren Stiefelträger, der ganz schmuck aussieht und ganz nett lächeln und kichern kann. Ich nahm mir vor, ihn auf eine unverbindliche Art kennenzulernen.
Als ich für Alanna und mich "Gelöbnis" von P.A.L wünschte, entgegnete Mal, das könne er nicht spielen.
"In dem Lied kommt ein Blag vor, und ich hasse Blagen", erklärte er. "Das weiß auch Alanna!"
Er spielte dann von P.A.L "Shiftwork".
Constri sprach vorwiegend mit Leon und Sofie, und beide fanden sie nett und meinten, mit ihr könne man gut reden. Constri fand auch beide nett. Als ich ihr Mal vorstellte, hatte der gleich den Einfall, daß sie ihn besuchen könnte zum Planen gemeinsamer Projekte.
Carl ist in derselben Nacht im "Elizium" gewesen. Dort lief erst nur Dolf herum. Später kam auch Rafa ins "Elizium". Als Carl gerade tanzte, rief er nach ihm:
"Carl!"
Carl drehte sich um, und Rafa gab ihm die Hand.
Rafa trug eine Jacke mit Silberknöpfen, eine Reithose und die gewohnten spitzen Schuhe. Auf dem Kopf trug er seine Schirmmütze.
Im "Elizium" soll Rafa mit vielen verschiedenen Leuten geredet haben. Dies spricht für die Annahme, daß er zur Zeit keine Freundin hat.
Als Carl bei Violet stand, kam Rafa erneut auf ihn zu und verkündete:
"Ich sag' jetzt was zu dir, womit du nicht gerechnet hast! - Ich geb' dir einen aus!"
"Ich wollte eigentlich gerade gehen", entgegnete Carl.
Rafa bestand aber darauf, ihm etwas auszugeben. Carl wählte ein Bier.
"Ich komm' gleich wieder und bring' das Bier hierher und stell' das hier hin", versprach Rafa.
Es dauerte eine ganze Weile, ehe Rafa mit dem Bier zurückkam.
"Die Mark für das Glas mußt du mir irgendwann wiedergeben", sagte er.
Er stieß mit Carl an.
"Wo wohnst du jetzt?" wollte Rafa wissen.
Carl nannte ihm seine Adresse.
"Ist es da besser?" erkundigte sich Rafa.
"Ruhiger, aber nicht besser", antwortete Carl. "Ich muß wohl bald wieder umziehen."
Violet weinte viel, denn sie mußte immer daran denken, daß sie nicht den richtigen Mann findet. Viele Herren versuchten, sie zu trösten und aufzuheitern. Rafa versuchte das ebenfalls. Er sah ein tätowiertes Auge auf Violets Schulter und bemerkte:
"Violet hat ein Auge."
"Ist was damit?" fragte Violet.
"Nein."
Rafa machte Violet einen eigenartigen Vorschlag:
"Los, wir lästern jetzt über Carl und mich."
"Ich lästere nicht über Carl", erwiderte Violet. "Carl ist ein Freund von mir."
Schließlich sagte Rafa zu Violet:
"Lach' mal."
Das konnte sie aber nicht. Da regte Rafa sich sehr auf und predigte:
"Der Mensch ist doch nicht der Sklave seiner Gefühle!"
Carl fand es sehr süß, wie Rafa sich aufregte, und er mußte oft über ihn lächeln.
Rafa gab Violet ebenfalls einen aus.
"Dann mußt du aber lächeln", verlangte er als Gegenleistung.
Weil sie etwas Teureres wollte, fragte er Carl, ob dieser sich beteiligen könnte. Am Ende holte er das Getränk aber doch alleine. Als er es Violet brachte, lächelte sie sehr kurz. Dann entschwand Rafa. Später kam er noch einmal zu Carl und umarmte ihn. Und er sagte zu Carl:
"So schlecht ist der Rafa doch gar nicht, ne?"
Kurz darauf ging er.
Daß Rafa sich nach Carls Wohnverhältnissen erkundigt hat, werte ich als Hinweis dafür, daß er sich über das verlassene Zimmer in meiner Wohnung Gedanken macht. Rafa rechnet sich wohl aus, daß er derjenige ist, den ich in diesem Zimmer haben will.
Ich kann mir vorstellen, daß Rafa eifersüchtig ist auf Carl, weil dieser schon fünf Jahre mit mir zusammen gelebt hat. Vielleicht umgarnt Rafa den Carl unter anderem deswegen, um mich auf Carl eifersüchtig zu machen. Vielleicht möchte Rafa dadurch auch vermeiden, daß ich denke, daß Rafa mit Carl redet, um durch ihn mich zu erreichen.

In einem Traum war mein Kater Bisat als Patient auf einer Intensivstation, und er wurde genauso behandelt wie ein Mensch. Dann gab es eine Flutkatastrophe. Ich trieb neben einem Turm in einem großen Wasser, mit Bisat im Arm. Ich wollte Bisat vor dem Ertrinken retten. Ein Holzbrett erschien, auf das ich mit Bisat klettern konnte. Alsbald wurde aus dem Brett ein Boot, und schließlich kamen wir wieder auf festes Land. Bisat hatte mich sehr zerkratzt. Es hatte dem Kater nicht gefallen, daß ich ihn festhielt, um ihn vor dem Ertrinken zu bewahren.

Soll Bisat in diesem Traum für einen Menschen stehen, der mich verletzt, weil ich ihn retten will?

In einem anderen Traum wollte ich die Sängerin Tessa loswerden, aber ich wollte nicht, daß sie allein draußen in Dunkelheit und Regen stand und den Elementen ausgesetzt war.

Ich will wirklich nur meine Ruhe vor ihr haben; etwas Böses wünsche ich ihr nicht.

In einem anderen Traum machte mir ein ansehnlicher Herr den Hof, von dem ich aber nichts wollte. Der Herr war recht aufdringlich und verwischte mir die sorgsam gezeichneten Augenbrauen. Ich lief und suchte nach einem Spiegel, um meine Augenbrauen neu zu schminken. Da hatte ich endlich einen Anlaß, vor dem Herrn zu flüchten.

In einem Traum suchte Sanna vergebens nach Marilene. Sie kam in das Haus meiner Mutter, um sich von ihr Rat und Hilfe zu holen. Meine Mutter beriet Sanna so, wie sie auch ihre Schüler berät, wenn diese Probleme haben. Schließlich kam sie mit Sanna hinauf in mein Dachzimmer, in dem ich bis kurz nach dem Abitur gewohnt habe. Ich sah dem gefaßt entgegen. Sanna war aber ohne Feindseligkeit. Sie wirkte auf mich wie ein unreifer Teenager. Sie zeigte mir ein Buch, in das sie ihre Lieblingsbands, Lieblingssportler und dergleichen eintrug. Darin gab es eine Doppelseite mit Bildern von Depeche Mode, eine Doppelseite mit Bildern von Boris Becker und eine Doppelseite gegen Tierversuche.

Demnach wäre Sannas Abneigung gegen mich so zu werten wie die Abneigung meiner Klassenkameradinnen vor fünfzehn Jahren. Es stellt sich sogar die Frage, inwiefern es überhaupt eine Abneigung ist. Sannas Wesen scheint kindlich zu sein und ihre Gefühlsregungen flüchtig und oberflächlich.
Zu der Tanznacht, die Sareth in der "Ruine" veransteltete, fuhr ich mit Lenni und Lena. Es gab die bekannten "Crucifiction"-Hits zu hören wie "Stuttgart brennt" von New Dimension und "Nazis of the Night" von Club Moral Antwerpen ("Waiting for another-nother-nother-nother fight ...").
Siri war nach vorübergehender Trennung wieder mit Sareth zusammen. Sie bezeichnete es als "feige", daß Rafa dauernd Rückzieher macht, wenn es darangeht, mit mir eine Beziehung zu beginnen.

In einem Traum hatte ich mit Rafa ein zärtliches Stelldichein auf einem Friedhof. Ich fragte ihn endlich nach seiner Coverversion von "Gothic Erotic".
"Ich weiß, daß es von dir ist", sagte ich zu ihm, "ich kenne doch deine Stimme. Ich finde das so lustig; ich könnte mich totlachen."
Rafa sagte mir nichts Genaueres zu dem Stück; wir hatten aber auch nicht die nötige Zeit und Ruhe. Wir gingen schließlich zurück ins "Exil"; das war jetzt eine zweistöckige Discothek. Es wurde Morgen, und es waren nicht mehr viele Leute da. Rafa ging mit mir auf eine Bühne und unterhielt sich mit den Musikern, die ein Konzert gegeben hatten. Rafa und ich tauschten immer noch Zärtlichkeiten aus. Rafa nahm mir meine spitzen Schuhe weg, die ich bei dem Besuch in SHG. anhatte. Für die Schuhe ließ er mir seine Kleider. Ich hielt die Kleider so auf den Armen, als würde ich einen Menschen tragen. Ich suchte nach meinen Schuhen. Als ich Rafa danach fragen wollte, war er verschwunden. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß er wirklich nur mit T-Shirt und Shorts bekleidet nach Hause fuhr, und ich glaubte, daß er noch in der Nähe war und seine Kleider von mir wiederhaben wollte. Ich fand ihn aber nicht, auch im oberen Stockwerk nicht. Nur Constri, Derek und Carl fand ich da oben.

In einem Traum versuchte Rafa, mich mit silbernen und goldenen Schallplatten abzuschrecken.

Rikka hat die Aufnahmeprüfung bestanden und wird an derselben Hochschule studieren wie Constri; ihr Fach ist Kostümdesign. Die Prüfungskommission begeisterte sich besonders für eine Zeichnung, die Rikka 1991 gemacht hat. Rikka hat mir von dieser Zeichnung bislang nie etwas erzählt. Sie hat Rafa gezeichnet, wie er bei einem Festival in der "Halle" vor ihr herumtanzte, mit Talar und hochgestellten Haaren. Damals wußte noch keiner von uns, wer er ist und wie er heißt. Weil Constri damals auf Männersuche war, empfahl Rikka ihr:
"Nimm' doch den!"
Rikka will mir eine Kopie dieser Zeichnung geben. Ich bin sehr neugierig darauf.
Mitte Dezember will Ivo Fechtner ein Industrial-Festival in einer alten Fabrikhalle namens "La-Tekk's" veranstalten, die bisher kaum von der Avantgarde-Szene genutzt wurde. Es soll ihm sehr wichtig sein, daß auch ich auf dieser Party erscheine.
"Ohne die Industrial-Ballerina geht es nicht", soll er zu Malda gesagt haben.
Er ließ mir durch sie einen Flyer überreichen, den er mit meinem Namen versah. Mich erinnert das an die Briefe und Aufmerksamkeiten des Sockenschuß. Es hat etwas Vereinnahmendes an sich.
Ivo Fechtner soll Malda unter Druck setzen. Er soll Termine planen, an denen er sie in Lackgarderobe sehen will. Ich vermute, daß er gewisse Dinge nur kann, wenn er Lack sieht. Malda sagte, sie fühle sich behandelt wie ein Kleiderständer, wie das Objekt eines Fetischisten. Ich empfahl ihr, nur das zu tun, was sie auch wirklich will. Als der Sockenschuß sich an mich heranmachte, wollte er auch immer Termine für allerlei Dinge verabreden, wobei ich jedoch nicht mitmachte.

Ein Traum spielte in einer Winternacht in einem großen Landhaus, einer Discothek. Rafa sagte mir, er wolle mit mir für mehrere Tage weit weg fahren. Ich verabredete mich mit ihm für den ersten Zug, der neben dem Landhaus von einer kleinen Bahnstation abfuhr. Als es Zeit wurde, die Sachen zu packen, stellte ich fest, daß ich den Zug wahrscheinlich gar nicht schaffen konnte. Ich hatte zu sehr getrödelt und zu lange mit meinen vielen Bekannten geredet. Ich wollte Rafa sagen, daß wir eine halbe Stunde später fahren mußten, doch ich konnte ihn nicht finden. Ich ging mit einem meiner Bekannten hinaus; wir liefen durch den Schnee einen kleinen Feldweg hinunter, bis an die Gleise. Dann gingen wir langsam vor bis zur Bahnstation. Ich trug eine Tasche in der Hand, doch in dieser Tasche war nur ein Teil meines Gepäcks. Außerdem hatte ich mich noch gar nicht von meinen Leuten verabschiedet.
Der Zug fuhr ein. Es war ein schöner, moderner Zug, der sehr einladend aussah. Der Zug hielt auch recht lange. Rafa kam pünktlich zum Bahnsteig. Er trug seinen Koffer in der Hand. Alles stimmte ... alles war bereit für eine Fahrt durch das winterliche Land ... und ich war nicht fertig ... Ich hatte Schuldgefühle.
"Rafa, wir haben noch eine halbe Stunde Zeit!" rief ich ihm zu. "Wir nehmen den nächsten Zug!"
Ich kenne aber Rafa, und ich wußte, daß er diese halbe Stunde wahrscheinlich nicht durchhalten konnte. Er würde sich wieder in sich selbst zurückziehen und irgendeine Ausrede dafür finden, weshalb er nicht mit mir fahren konnte.
Der Zug fuhr ab, ohne Rafa und mich. Ob Rafa die halbe Stunde bis zum nächsten Zug überstand, bekam ich nicht heraus, weil ich vorher aufwachte.

Ich entnehme diesem Traum, daß ich Rafa bei seinen Versuchen, auf mich zuzugehen, so weit wie irgend möglich unterstützen muß und daß ich meine Aufmerksamkeit nicht von ihm wegwenden darf. Er verliert allzu leicht den Mut.



Am Freitag hatte sich in "Halle 1" fast die gesamte Szene versammelt. Sogar Xentrix war da; er wollte "sehen, was Kappa so macht".
Die Musik war mir zu seicht, und ich wollte hinaufgehen zum DJ-Pult, das sich in "Halle 1" auf der Bühne befindet. Man konnte jetzt nur noch über eine Leiter dorthin kommen, die am Geländer lehnte. Als ich die Leiter hochstieg, kam eine Blondine auf mich zu, und ich dachte erst, es sei Genna, die mich wegscheuchen wollte. Es war aber Blanda. Sie begrüßte mich und verlieh ihrer Freude darüber Ausdruck, daß wieder so viel los war in "Halle 1". Rick stand am Pult. Er hatte nichts von Leæther Strip, aber Kappa hatte etwas.
Nach dem Auftritt von Kappa, Lexx und deren Sängerin Vanessa sagte ich zu Lillien, Vanessa könne hübsch singen. Lillien erzählte, daß Rafa dieses Mädchen für Kappas Band besorgt hat. Vanessa lebt wie Rafa in SHG.
Saara berichtete, daß Rafa heute nacht im "Exil" Velroe ans Pult gestellt hatte. Das war die einzige Vertretung, die Rafa nach vielem Suchen bekommen konnte. Er wollte nämlich auch in "Halle 1". Dolf war schon vor ihm da. Ich fühlte mich von Dolf beobachtet.
Saara erzählte, daß sie am letzten Wochenende in der Nacht zum Sonntag bei Rafa war und mit ihm in seinem Bett schlief. Rafa lieh ihr ein himmelblaues Nachthemd, das Kappa in Marokko gekauft haben soll. Saara fand es wunderbar, Kappas Nachthemd tragen zu dürfen. Rafa wollte mit Saara kuscheln; die lehnte jedoch ab. Zum Schlafen löschte Rafa das Licht, ließ aber die Musik an. Er fragte Saara höflich, ob es ihr nicht zu laut sei. Sie fühlte sich von der Musik nicht gestört.
Rafa war recht fürsorglich. Saara klagte über Halsweh, und Rafa nötigte sie, eine Flasche "Becker's Bester" leerzutrinken:
"Du mußt das trinken! Das ist gesund!"
Rafa soll Saara unter anderem gefragt haben, ob sie denn wirklich nie im "Nachtlicht" war.
"Nein", entgegnete sie, "ich bin doch erst seit dem Frühjahr in der Szene."
"Und schon kennst du die ganzen Leute", wunderte sich Rafa, "Hetty und so ..."
Über mich sagte Rafa:
"Die habe ich kürzlich mit zu mir genommen, aber nach drei Stunden habe ich sie 'rausgeschmissen."
Da hat er etwas verdreht. Er hat mich nicht mitgenommen, sondern ich habe ihn besucht. Ich sagte Saara das und erzählte ihr auch, daß Rafa mir im Bahnhofscafé Kakao ausgegeben hat und immer zugänglicher wurde, je näher der Abschied rückte.
Rafa hat Saara ein Video gezeigt von einem seiner Konzerte. Die Sängerin war mit auf der Bühne. Saara fragte Rafa, ob er die Sängerin noch mag.
Ja, mögen würde er sie noch.
Saara hatte über die Sängerin bislang nur gehört, sie sei schüchtern und lieb. Von mir hörte Saara jetzt, daß die Sängerin reichlich aggressiv werden kann, daß die Mutter der Sängerin ein Bordell besitzt und daß es fraglich ist, womit die Sängerin ihr Geld verdient, wenn sie denn überhaupt etwas verdient.
Rafa hat Saara erzählt, er wolle abnehmen. Zum Frühstück stopfte er aber eine Schüssel Pudding in sich hinein. Saara erinnerte ihn an sein Vorhaben.
"Ich eß' ja auch nicht alles auf", behauptete Rafa.
"Stell' die Schüssel weg, sonst ißt du doch alles", riet Saara.
Er meinte, er könne sich auch so zurückhalten. Mit schuldbewußtem Blick aß er nach und nach doch die Schüssel leer.
Als Saara heimfuhr, gab Rafa ihr als Wegzehrung drei "Rafaello" mit.
Laut Saara soll auch Sarolyn schon etwas mit Rafa gehabt haben. Rafa soll dazu gesagt haben, "für zwanzig Minuten" hätte er mit Sarolyn etwas gehabt.
Dimitri scheint sehr hinter Saara her zu sein. Saara bezeichnet Dimitri als "zweite Wahl", während Kappa für sie die "erste Wahl" darstellt. Sie ließ sich in "Halle 1" von Dimitri umgarnen und umarmen, wie sie es auch schon im "Exil" getan hat.
Rafa tauchte gegen Mitternacht in "Halle 1" auf. Er hatte sich einen Pferdeschwanz gebunden und trug sein schwarzweiß gemustertes Tuch als Stirnband, ein Tuch, das schon seit Jahren ein wichtiger Bestandteil seiner Garderobe ist. Er hatte seine "Kuhhose" an und seinen Uniformmantel. Als ich einmal nicht in der Nähe war, gab er Saara die Hand und fragte sie so, daß die Umstehenden es hören konnten:
"Und? Bist du noch gut nach Hause gekommen von mir?"
Saara war deswegen sehr ärgerlich. Als sie mir davon erzählte, meinte ich, daß Rafa den Eindruck erwecken möchte, er habe mit Saara etwas. Vielleicht geht es ihm darum, mich eifersüchtig auf Saara zu machen. Vielleicht paßt es ihm nicht, daß ich etwas mit Saara zu tun habe und daß Saara mich auf dem neuesten Stand über Rafas Liaisons halten kann.
Rafa soll Saara öfters sehr anbaggern. Als er mit ihr einmal vom "Exil" ins "Elizium" gegangen ist - das war wohl in der Nacht zum ersten Advent, als Rafa auch Carl umworben hat -, da soll er in einem stillen Eckchen nach Saaras Hintern gelangt haben mit den Worten:
"Los, hier sieht uns doch keiner."
Saara will Rafa jedoch zu verstehen gegeben haben, daß er der Letzte ist, mit dem sie etwas haben möchte.
In "Halle 1" sah ich Rafa hin und wieder auf der Bühne mit Kappa sprechen. An mich wagte sich Rafa nicht heran. Er versteckte sich meistens in irgendwelchen Winkeln, wo ich ihn nicht sehen konnte. Einmal geschah es, daß ich aus der Toilette kam, und Rafa kam ebenfalls aus der Toilette. Ich ging sehr langsam weiter, blieb sogar kurz stehen, um ihm die Gelegenheit zu geben, mich anzusprechen. Rafa ging aber im Abstand von einem Meter an mir vorbei und tat, als sähe er mich nicht. Dann drehte er sich um, doch er blickte nicht mich an, sondern Dolf.
"Alles klar?" sagte er zu Dolf, der zu ihm hinlief und mit ihm weiterging.
Es kam mir vor, als wenn Rafa in Wirklichkeit sagen wollte:
"He, Hetty, siehst du, ich rede nicht mit dir; ich rede mit allen möglichen Leuten, aber nicht mit dir!"
Später in der Nacht wurde die Musik tanzbarer, mit "Torture" von Leæther Strip, "Love in chains" von Call, "Devil dance" von den Invisible Limits und "Enjoy the silence", das einzige Stück von Depeche Mode, zu dem ich auf die Tanzfläche gehe.
Rafa verschwand vor drei Uhr. Laut Saara mußte Rafa um drei Velroe im "Exil" am DJ-Pult ablösen. Dolf blieb in "Halle 1".
Kappa sagte nach dem zweiten Auftritt seiner Band an, daß es im "Exil" noch eine Aftershow-Party geben werde und daß jeder Gast einen Sauren bekomme. Ich fuhr mit Saara, Dimitri und einem von Dimitris Bekannten gegen halb vier zum "Exil". Es hatte bereits geschlossen. Wahrscheinlich lag das daran, daß alle Welt in "Halle 1" war.
Wir aßen im "Nachtbarhaus" Mozzarella mit Tomaten und Basilikum. Die Kellnerin, die uns bediente, ist eine Kollegin von mir. Sie sucht gerade eine AiP-Stelle.
Dimitri und Saara erzählten, daß sie nach einem langweiligen November-Donnerstag im "Contrast" mit zu Rafa gefahren sind, wo es Kaffee gab. Rafa soll erzählt haben, er wolle endlich solide werden und seine Traumfrau heiraten und treu sein und Kinder haben. Kinder seien überhaupt das A und O.
Dies predigte Rafa wenige Tage nach unseren Treffen in SHG. Als ich bei ihm war, waren seine Äußerungen weit weniger eindeutig gewesen. Abfällig hatte er von "Ehequatsch" gesprochen.
Ich glaube manchmal, eben weil ich meine Ansichten so bestimmt und überzeugt vortrage und mich durch Rafa auch nicht davon abbringen lasse, graben sich diese Ansichten bei ihm ein und überzeugen nach und nach auch ihn. Ich glaube, Rafa braucht einen "Vorbeter", jemanden, der ihm etwas beizubringen weiß und den er genügend achtet, um auf ihn zu hören. Achtung empfindet Rafa wahrscheinlich nur für jemanden, der sehr selbstsicher ist. Rafa will vielleicht meine Selbstsicherheit testen, um herauszufinden, ob er sich auf mich stützen kann und ich ihm Halt zu bieten kann.
Was mich in dieser Hinsicht bestätigt, ist Saaras Bericht von einem tönernen Blumenübertopf voller Kondome, den Rafa neben seinem Bett stehen hat. Den hat er Saara stolz gezeigt. Hat Rafa sich diesen Vorrat zugelegt, weil ich ihm so sehr ins Gewissen geredet habe wegen der AIDS-Gefahr?
Eine weitere offene Frage ist die nach der "Traumfrau" von Rafa. Wer soll das sein? Hat Rafa vor, sich wieder der Sängerin Tessa anzubieten, die ja - anscheinend - gar keine Kinder will, zumindest nicht von ihm?
Dimitri erzählte im "Nachtbarhaus", Velroe sei ein Prahlhans. Beim Armdrücken mit Rafa soll Velroe schon nach zwei Sekunden unterlegen sein. Laut Saara ist Rafa bislang nur von seinem Vater und von seinem Bruder im Armdrücken besiegt worden. Rafa müßte seine Statur demnach von seinem Vater geerbt haben.
Saara hätte fast mit Rafas Bruder Bekanntschaft geschlossen. Als sie in SHG. war, sah sie ihn in einem Zimmer vorm Fernseher sitzen. Sie ging aber nicht zu ihm hin.
Was das Armdrücken betrifft, so drängt sich mir der Verdacht auf, daß Rafa sich auf diese Weise an Velroe für den Foxtrott mit mir rächen wollte. Vielleicht wollte er Velroe aber auch bloßstellen, weil dieser im "Contrast" behauptet hatte, das Kick-Boxen zu beherrschen.
Laut Saara hat Rafa das Armdrücken in den Tagen nach der Prahlerei und dem Foxtrott sorgsam inszeniert. Er fragte Saara, ob am Samstag wohl genügend Leute ins "Exil" kämen. Als es dann so richtig voll war, ließ er die Tanzfläche für das Armdrücken räumen und Hocker aufstellen. Der widerstrebende Velroe wurde herbeigeschleppt und mußte gegen Rafa antreten, was zu einer schmählichen Niederlage führte. Velroe verlangte umsonst einen zweiten Durchgang. Trotz seiner Wut auf Rafa ließ er sich von ihm kurz danach überreden, seinen Platz am DJ-Pult einzunehmen, als alle Leute in "Halle 1" strebten, nämlich in der Freitagnacht, als Kappa mit seiner Band auftrat. Rafa verkaufte ihm das als "Chance, groß 'rauszukommen als DJ", und Velroe glaubte ihm das.
Am frühen Samstagmorgen gingen wir noch für zwanzig Minuten ins "Elizium". Dort traf ich Sasa und Elsa. In der Damentoilette hatten Elsa und ich eine kurze Konferenz. Elsa erkundigte sich nach Neuigkeiten. Sie äußerte die Vermutung, daß Rafa zu den Männern gehört, die Angst vor Frauen haben, die ihnen etwas entgegensetzen können und genug Verstand haben, um sie zu durchschauen. Ich teile diese Vermutung. Rafa hat wahrscheinlich bislang nur Freundinnen gehabt, die ihm unterlegen waren und die ihn nicht durchschaut haben.
Elsa hat in der letzten Woche gehört, daß Rafa eine neue Freundin hat mit dem Namen Greta Hesse. Saara sagte mir später dazu, auch sie habe so etwas gehört über eine gewisse Greta. Als sie Rafa allerdings am vergangenen Samstag darauf ansprach, stritt er dies ab. Rafa sagte, nach der Trennung von Tessa im Frühjahr habe er "zwei große Fehler gemacht"; ansonsten habe er keine Freundin mehr gehabt. Wer diese "großen Fehler" gewesen sein sollen, bleibt im Dunkeln, scheint Rafa doch längst den Überlick über seine Bettgeschichten verloren zu haben.
Saara ist am 08.12. nicht im "Contrast" gewesen. Rafa will am 22.12. wieder im "Contrast" auflegen. Er soll Saara auch dieses Mal gebeten haben, zu kommen; nachher soll es wieder Kaffee geben. Rafa hat Saara sogar ein Weihnachtsgeschenk versprochen. Ich bin sehr neugierig darauf, was er ihr schenkt. Vielleicht ist es seine CD.
Am Samstagnachmittag war ich bei Jutta zu Besuch. Sie hat den Bauchtanz für sich entdeckt. Sie näht ihre Kostüme selbst. Die Kostüme sind ganz in Gold oder Rotgold gehalten, und ich finde sie viel hübscher und viel weniger aufdringlich als die orientalische Originalgarderobe. Jutta bezeichnet ihre Variante als die "europäische Variante".
Abends war im "Elizium" nur wenig los; das lag wohl an der Veranstaltung im "La-Tekk's". Xentrix versuchte das musikalisch auszugleichen.
Ein Mädchen namens Lessa erzählte mir, daß Esplendor Geometrico in MD. schon als "richtige Stars" gelten.
Dorgath klagte, in der "Szene-Prominenz" herrsche ein ständiges "Bäumchen wechsel dich". Ich fragte ihn, was er denn unter "Szene-Prominenz" verstehe.
"Na ja, die richtigen Grufts."
"Was ist denn ein richtiger Gruft?"
"Na ... das ist wohl eine Frage der Kultur."
"Was ist Kultur?"
"Ach", seufzte Dorgath, "das mag ich jetzt auch nicht so ausschweifend erklären."
"Brauchst du auch nicht", meinte ich. "Man kann's nämlich gar nicht erklären."
Ich hoffe, daß Dorgath aufhört, zu glauben, daß Leute, die sich selbst für wichtig halten, auch wichtig sind. Es fallen zu viele Leute auf langweilige, arrogante Wichtigtuer herein. Damit würde ich gern ein bißchen aufräumen.
Radiomoderator Ace hat wie im letzten Jahr ein Weihnachts-Wunschkonzert veranstaltet. Rafa hat ebenfalls dasselbe getan wie im letzten Jahr - er hat lauter Leute in und um SHG. dazu aufgerufen, Ace zum Wunschkonzert Karten mit ein und demselben Wunsch zu schicken - "W.O.L.F.". So kam es, daß Ace auch dieses Mal ein Stück von Rafa beim Wunschkonzert gespielt hat.
Bertine hat erzählt, daß sie und ihr Freund C.A.D. kürzlich den sinnlos betrunkenen Derek nach Hause gefahren haben, zu Constris Wohnung. Als sie Derek fragten, wo er wohne, antwortete er:
"Weiß ich nicht."
Und als sie ihn fragten, ob er denn noch mit Constri zusammenwohne, antwortete er wieder:
"Weiß ich nicht."
Als Rafa das nächste Mal im "Contrast" auflegte, fuhr ich mit Hendrik zu der Geburtstagsfeier von Charlene und Jason. Die beiden haben an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Geburtstag und feierten deshalb gemeinsam.
Charlene zeigte mir einen schönen blutroten Samtrock, den ich ihr abkaufen möchte.
Reesli erzählte noch ein bißchen von dem Festival, das im Frühjahr auf der Burg in Qu. stattfand. Reesli hat damals Rafa gebeten, "Cyberspace" zu spielen.
"Das geht nicht", erwiderte Rafa. "Wir haben keine Sängerin mehr."
Nach dem Grund gefragt, erklärte Rafa, die Sängerin sei 'rausgeflogen, weil sie unpünktlich gewesen sei:
"Wenn die keinen Bock hatte, hatte die keinen Bock."
Da hat er doch dem Reesli etwas ganz anderes erzählt, als er mir erzählt hat.
Violet lobte Rafa. Sie meinte, neuerdings sei er ihr richtig sympathisch.
"Komplimente machen kann er wirklich ...", schwärmte sie.
"Er ist ein sehr lieber Mensch", sagte ich. "Nur will er meistens verhindern, daß es jemand merkt."
Reesli erzählte Geschichten von einem Typen namens Hammer. Ich weiß nicht mehr, ob Hammer auch der war, der mit seiner Ratte die Frontscheibe seines Autos abwischte.
Charlene und ich lobten die Treue. Charlenes Bekannter Holthoff meinte, daß Treue nicht machbar und überhaupt unnötig sei.
"Also, wenn du meine Freundin wärst ...", wandte er sich an mich.
Holthoff fand mich wohl ganz nett; er verlieh seiner Freude darüber Ausdruck, endlich auch einmal mit mir ins Gespräch gekommen zu sein.
Tags darauf - kurz vor Weihnachten - traf ich Saara im "Exil". Sie ist am Vortag nicht im "Contrast" gewesen, wo Rafa auflegte. Bevor sie am heutigen Abend ins "Exil" kam, hatte sie mit ein paar Leuten noch etwas getrunken; Lennart Brehler soll auch dabeigewesen sein. Lennart erzählte über den Streit mit Rafa im "Nachtlicht", daß "Taschenverbot" gewesen sei, und Rafa habe einfach meine Tasche mit 'reingenommen. Unten habe Rafa zu ihm gesagt:
"Du bist ja nur ein kleiner, dummer Türsteher!"
Da habe er Rafa über eine Bank geschmissen. Daß ich Rafa verteidigte und daß Lennart mich dann auch noch angriff, scheint Lennart nicht erwähnt zu haben.
Eine Skinhead-Runde aus der "Halle" war auch im "Exil". Saara hörte von ihnen, Rafa sei im "Elizium". Es geht immer noch das Gerücht um, Rafa sei mit einer Greta Hesse zusammen; das Mädchen soll dunkelhaarig sein und gut aussehen.
Kappa redete nicht mit Saara; dafür umwarb er Lillien. Ich sagte Saara, daß Kappa bei Lillien keine Chance hat, und Lillien bestätigte mir, daß sie von Kappa nichts wollte. Lillien genoß es jedoch, von Kappa umgarnt zu werden. Als Saara schon fort war, brachte Kappa für Lillien, mich und sich Reagenzgläschen mit "Dracula's Blood", und wir stießen an.
Vor fast drei Jahren hatte ich "Dracula's Blood" zum ersten und bislang letzten Mal getrunken; das war in SHG. bei Rafa.
Ich sagte Kappa, wie überzeugend ich Macro als DJ finde.
"Der ist noch neu und unverdorben", meinte Kappa, "nicht wie wir alten Hasen, Rafa und ich, die lieber nur saufen und Frauen abziehen."
Ich fragte Kappa, ob er Xentrix die Platte von Fun Boy Three zurückgegeben hat.
"Ja, die hat er sich abgeholt."
"Ach, das ist ja schön!" freute ich mich. "Da habt ihr euch also wieder getroffen? Ist euer Verhältnis jetzt besser?"
"Das war nie schlecht."
Kappa ging zwischendurch zum DJ-Pult, um Lillien und mir einen Musikwunsch zu erfüllen - "The last Film" von Kissing the Pink. Der betrunkene Kappa kündigte den Wunsch durchs Mikrophon an:
"Ich habe hier zwei kleine Freundinnen ..."
Lexx war auch im "Exil". Kappa und Lexx beschrifteten für Lillien eine ihrer CD's und schenkten sie ihr. Kappa erzählte, daß er mit Lexx zehn Jahre lang zur Schule gegangen ist und gemeinsam mit ihm Abitur gemacht hat.
Die Hallenskins umgarnten mich ein wenig in ihrer plumpen Art. Als sie gingen, nahm einer von ihnen meine Hand und küßte sie.
"Ich hätte gern mit dir getanzt", sagte er, "aber ich bin leider nicht dazu gekommen."
"Ach, das kannst du doch immer noch machen."
Lexx und Kappa nahmen mich im Auto mit. Vorher ging ich noch zu Macro und sagte ihm, daß ich gern noch länger geblieben wäre, aber nun hatte ich eine Mitfahrgelegenheit.
Wir fuhren in dem Wagen von Lexx. Ich erkundigte mich, ob Kappa zuerst einen schwarzen und dann einen roten Porsche gehabt hat oder umgekehrt. Kappa antwortete, früher habe er einen schwarzen Porsche gehabt, und seit dem Frühjahr 1994 habe er einen roten. Rafa hat mich im Februar so seltsam nach der Farbe von Kappas Porsche gefragt, daß ich es jetzt einmal genau wissen wollte.
Wir waren noch kurz bei Kappa zu Hause. Er hat seinen Namen nicht am Klingelschild stehen. Seine Wohnung sieht so ähnlich aus wie eine Discothek. Im Wohnzimmer gibt es ein großes Wandregal voller CD's, das viele Halogenlämpchen trägt. Außerdem befindet sich dort ein gewaltiger Aufbau von Keyboards und Computern, ähnlich wie bei Rafa. Es ist seltsam - Derek hat viel weniger Geräte zur Verfügung und stellt doch Klänge her, die ich viel interessanter finde als die von Rafa, Kappa und Lexx.
"Es ist so schön, kreativ zu sein", sagte ich. "Ich kann zum Beispiel ohne meinen Computer nicht mehr leben."
"Machst du auch Musik?" fragte Lexx.
"Nein, ich schreibe."
"Was schreibst du denn?"
"An einem Roman, aber daran arbeite ich schon eine Ewigkeit. Jetzt habe ich endlich mal das Gefühl, eine gewisse Perfektion erreicht zu haben."
"Wovon handelt denn der Roman?"
"Es hat etwas Comichaftes an sich. Es sind zwei Figuren, eine weibliche und eine männliche, die sich dauernd in den Haaren liegen. Es geht darum, das so zu verpacken, daß die Leute das geil finden."
"Wem sagst du das!" seufzte Kappa.
Kappa und Lexx wissen aus eigener Erfahrung, daß es nicht nur darauf ankommt, Talent zu haben, sondern auch darauf, die Kunst, die man herstellt, zu verkaufen. Wir haben damit ein Thema, das uns alle betrifft.
Ich erzählte, daß ich kürzlich im Copyshop eine Farbkopie habe hängen sehen, die ich als Fehlkopie auf dem Kopierer liegengelassen hatte. Den Leuten im Copyshop hat das Bild wahrscheinlich gefallen. Es war ein Bild, das ich im letzten Jahr gemalt habe; darauf sieht man, wie Rafa mich von hinten umarmt.
Kappa schaltete den elektronischen Aufbau ein und klimperte Lexx und mir etwas vor. Ich schwärmte von Esplendor Geometrico, und als sich herausstellte, daß die beiden Herren diese Band gar nicht kennen, reichte ich Kappa die CD mit "Comisario de la Luz I", die ich zufällig bei mir hatte.
"Schön metallisch", meinten sie; sie bemängelten allerdings, daß "Comisario de la Luz I" zu "eintönig" sei.
"Die Musik ist repetitiv", erklärte ich. "Das ist der Stil. Man kann es mit einer Nahaufnahme vergleichen." Vor dem nächsten Stück warnte ich:
"Das ist nichts für euch; das vertragt ihr nicht."
Jetzt wollten sie es gerade hören.
"Zu simpel", fand Kappa. "Das ist nur eine Ansammlung von Geräuschen."
"Das Entscheidende an diesen Stücken sind die Feinheiten", sagte ich. "Es ist wie bei einem Text, wo man zwischen den Zeilen lesen muß."
Kappa meinte, daß er so etwas mit Leichtigkeit hinbekommen würde.
"Nein", entgegnete ich. "Dafür braucht man ein bestimmtes Feeling, und das hast du nicht."
"Wieso, willst du mir jetzt jegliche musikalische Begabung absprechen?"
"Nein. Du hast nur einen anderen Stil."
"Woher kennst du meinen Stil?"
"Na, ich kenne doch deine Band."
"Die Band, das sind Lexx und ich. Da weißt du doch noch nicht, wie ich alleine klinge."
"Na, aber ich weiß, was für Musik du gern magst."
Kappa erzählte, er habe früher viel Industrial gehört - wie etwa die frühen SPK.
Das "DJ-Prinzip" beschreibt Kappa folgendermaßen:
"Es geht darum, die Hits zu spielen, die die Leute hören wollen, und dazwischen muß man ihnen vorsichtig die neuen und besonderen Stücke unterjubeln."
Damit hat Kappa fast wörtlich das wiederholt, was ich unlängst zu Macro gesagt habe.
Kappa scheint auch von Rafa etwas abgeguckt zu haben. Einmal sagte er theatralisch-arrogant und von oben herab:
"Natürlich."
Er bringt den Tonfall schon beinahe so wie Rafa. Ob ihm klar ist, daß Rafa das genauso sagt?
Malda erzählte mir später, daß sie, während ich mit Saara, Lillien, Kappa und Lexx im "Exil" war, von elf bis zwei Uhr im "Elizium" gewesen ist. Rafa soll nicht dort gewesen sein.

In einem Traum begegnete ich Rafa. Er kuschelte sich an mich, und so, daß ich sein Gesicht nicht sah. Die unschuldigsten Zärtlichkeiten sind für Rafa die schwierigsten. Also wagte er sie erst, nachdem er weniger unschuldige Sachen mit mir angestellt hatte, und streichelte mir ganz schüchtern das Genick. Ich rührte mich nicht, damit er den Mut nicht verlor.

Till meint, die Geschichte von Rafa und mir hat etwas "Kulthaftes" an sich. Er glaubt nach wie vor, daß das mit Rafa und mir etwas werden kann.
"Wenn das so lange geht ...", sagte er. "Was lange währt, wird endlich gut."
Till hat Lust, Rafa auf diese Sache anzusprechen.
"Rafa sagt bestimmt, die Hetty bildet sich nur etwas ein", vermutete ich. "Der sagt bestimmt:
'Ich liebe nur Tessa!'"



Jesco erzählte auf seiner Geburtstagsfeier, daß er ein halbes Jahr lang mit Velvet zusammen gewesen ist. Über mich soll Velvet gesagt haben:
"Elektro-Betty kannste voll vergessen."
Ich erinnere mich noch daran, wie Velvet im "Nachtlicht" bei mir um eine Chance gebeten hat.
Einer der anwesenden Punks wußte Lepra-Witze:
"Was machen Leprakranke auf dem Fußballplatz? - Sie fowlen und fowlen!"
Ein anderer:
"Wenn der Leprakranke einen begrüßt, sagt er: 'Kannste behalten, die Hand.'"
Noch einer:
"Was machen Leprakranke in der Disco? - Sie tanzen, bis die Fetzen fliegen!"
Um zwei mußte ich aufbrechen zum "Exil"; man darf nicht zu spät hinkommen, weil dann nichts mehr los ist. Ein Punk, der meinte, ich sei so blaß, riet mir zum Abschied:
"Denk' an die Vitamine!"
Ich versprach, gleich am nächsten Tag einen Apfel zu essen.
Im "Exil" traf ich Sasch, Janssen, Sandro, Manitou, Luca und Saara. Saara will Velvet neulich gefragt haben:
"Na, hat Rafa dir erzählt, daß ich ihn nicht 'rangelassen habe?"
"Wieso?" entgegnete Velvet. "Ich denke, er hat dich nicht 'rangelassen."
Saara warf Rafa für diese Schwindelei eine Knallerbse hin. Sie wollte es sich nicht gänzlich mit ihm verderben, wegen des versprochenen Weihnachtsgeschenks. Rafa soll sich von allein daran erinnert haben, daß sie noch ein Weihnachtsgeschenk von ihm bekommt. Er hatte es aber nicht dabei.
Rafa scheint eine Erkältung erwischt zu haben. Er trug ein großes schwarzweißes Arafat-Tuch um den Hals. Sein Haar war mit einem schlichten Gummi zum Pferdeschwanz gebunden, und die Ponysträhnen hingen ihm lose ins Gesicht. Er hatte seine Augen nicht geschminkt, war aber ordentlich rasiert. Er trug einen schwarzen Anorak und seine Kuhhose.
Ich fand Rafa so süß, daß ich am liebsten einfach hingegangen wäre und ihn umarmt hätte.
Rafa wagte sich nicht an mich heran. Er lief manchmal aus dem Tanzraum und wieder zurück. Einmal wollte er eben eine CD wechseln und kam aufs DJ-Pult zu; da begann schon der nächste Track. Es war ein albernes Stück namens "Gaby gibt 'ne Party". Rafa ließ das Stück weiterlaufen und kehrte um. Er lächelte Luca und Manitou zu, die "Party!" riefen. Dabei begegneten Rafas lächelnde Augen versehentlich auch mir. Er sah schnell weg und lief wieder aus dem Tanzraum. Als er zurückkam, hielt er weiterhin Abstand zu mir.
Ein Mädchen, das seine Freundin hätte sein können, sah ich nicht. Viktoria hat jetzt Sasch und kann auf Rafa verzichten. Die kurzhaarige Barfrau kam einmal hoch zu Rafa und wechselte einige Worte mit ihm. Sie kam Rafa aber nicht "zu nahe". Rafa schaute sie auch kaum an; meist stand er aufrecht und sah aufs Pult.
Die Musik, die Rafa spielte, fand ich nicht schlecht. "Let your body learn" von Nitzer Ebb kam, "Love in chains" von Call, "Adrenalin rush" von Leæther Strip und "Entertain me" von Soft Cell.
Saara erzählte, einer von den Jungen, mit denen sie im "Exil" war, hatte sich Rafas Stück gegen Videospiele gewünscht. Rafa erwiderte, das Stück solle Kappa spielen; er wolle das nicht spielen. Saara klärte den Jungen darüber auf, daß Rafa zu der Band gehört, von der dieses Lied stammt.
Es ist seltsam, daß Rafa jetzt seine eigenen Stücke nicht mehr spielen wollte. Er hat es sonst immer getan.
Kurz vor Silvester war ich im "Elizium" und ließ mich von Luies Musik etwas aufbauen.

Silvester habe ich geträumt, daß Rafa wieder auf mich zuging und daß wir uns sehr lange und ausgiebig umarmten und küßten. Ich war erleichtert, weil ich mich danach so lange gesehnt hatte.

Am Silvesterabend gab mir Rikka mein Weihnachtsgeschenk - eine Laserkopie der Zeichnung, die sie 1991 von Rafa gemacht hat. Damals, als Rafa vor ihr und Constri herumtanzte, hat er sie dauernd mit seinen Haaren gestreift.
Das leere Zimmer in meiner Wohnung hatte ich für die Party herausgeputzt in Schwarz und Weiß, mit Schwarzlicht, Lichterkette und Grablichten; es war kaum zu sehen, daß mir und meinen Leuten die Renovierung nicht so recht gelungen ist.
Ich hatte vierzehn Gäste, nicht viel also, und es kann sein, daß es je mehr Krawall gibt, je weniger Leute da sind. Derek hat dann nämlich mehr Platz zum Spielen.
Kurz nach Mitternacht wurde geknallt. Derek schob dem nörgeligen älteren Herrn vom ersten Stock einen Chinaböller in den Briefkasten, und ich war sehr wütend. Kurze Zeit später sah ich schon wieder einen Knaller in dem Briefkasten stecken; der war aber nicht angezündet. Das lag daran, daß Constri Derek rechtzeitig weggescheucht hatte. Derek suchte sich ein neues Betätigungsfeld; er wollte die Müllcontainer anzünden. Ich lief mit dem Handfeger hinter Derek her, mit dem ich den Briefkasten zu reinigen versucht hatte. Ich jagte Derek wie ein störrisches Rindvieh, das sich verirrt hat.
Später zerlegte Derek die Küche. Er biß in die Butter, verbog zwei Gabeln, schlug einem Schokoladenweihnachtsmann den Schädel ein und begoß die Reste vom Salat mit der Blumenkanne. Dann warf er alles in die große Salatschüssel, was ihm in die Finger kam und nicht hineingehörte. Schwankend balancierte er die volle Schüssel auf einer Hand. Constri nahm sie ihm weg, damit sie nicht hinfiel und zerbrach. Derek gebärdete sich wie ein Kind mit Hirnschaden. Er gab wilde Laute von sich, schnitt Grimassen und zuckte eigenartig. Stets achtete er sorgsam darauf, daß ihm jemand zusah. Als er müde wurde, trat er gegen mein Bett und schlief irgendwann auf diesem Bett ein. Endlich mußte Constri nicht mehr auf ihn aufpassen und konnte sich in Ruhe mit Rikka die Kante geben.
Die beiden Mädchen vollführten auf dem mit Butter eingefetteten Küchenboden eine Art Eistanz. Sie sangen auf einem Ton und verzierten sich und den anwesenden Jungen die Köpfe mit Alufolie, Plastiktüten und einer Plastikschüssel. Dann spielten sie "Putzfrau" und fegten so emsig herum, daß die Telefonschnur zerriß. Ich mußte also nach dem morgendlchen Kaffeetrinken noch mit zu Constri und Derek kommen, um mir ihr Zweittelefon auszuleihen.
Zum Thema "Randale" kann ich allerdings bemerken, daß es auch etwas Beruhigendes hat, wenn andere Leute schlimmer sind, als man es je zu sein wagte oder es je sich hätte vorstellen können. Mit elf Jahren fühlte ich mich in der Schule überhaupt nicht wohl. Ich war innerlich sehr angespannt. Und vor nichts fürchtete ich mich mehr als davor, die Kontrolle über mich zu verlieren und einen Stuhl aus dem Fenster zu werfen. Jetzt höre ich über Derek, daß er tatsächlich Stühle aus dem Fenster geworfen hat, und zwar, ohne das Fenster vorher zu öffnen. Und von Folter höre ich, daß er ebenfalls Stühle aus dem Fenster geworfen hat - und zwar in der Absicht, Menschen damit zu treffen!
Anfang Januar war ich zu Besuch bei Folter. Dag war auch da und ein Junge, der mich um Rat fragte, weil er nicht weiß, wie er es schaffen soll, eine Freundin zu finden. Er verriet mir nebenbei, daß er gar nicht beabsichtigt, mit dieser Freundin zu schlafen, sondern daß es ihm reicht, wenn sie mit Pulli und Fellhöschen bekleidet zu ihm ins Bett steigt. Wir nennen ihn seitdem "Fellhöschen".
Dag kreischte und gurgelte, sooft ich von Rafa anfing.
"Ich muß gar nicht an die Südsee fahren", jubelte ich, "ich kann dich auch so auf die Palme bringen!"
Fellhöschen gab einen Witz zum Besten:
"Was sagt der Taifun zur Palme? - 'Jetzt wird geblasen, halt' die Nüsse fest!'"
Nachts ging ich mit Dag zu "Crucifiction". Neben den gewohnten und geliebten "Crucifiction"-Clubhits gab es dort "War of Islam" von SPK, "Flesh" von Call und "A nothing life" von Six Comm zu hören.
Sareth hat sich inzwischen schon wieder von Siri getrennt. Vielleicht passen die beiden wirklich nicht zusammen.
Maleen freut sich im Nachhinein darüber, daß Dag sich von ihr getrennt hat. Sie meint, Dag sei kaputt und hätte auf die Dauer auch sie kaputtgemacht, da sie recht labil sei.
Dag sagt selbst über sich, er würde alle Frauen kaputtmachen, und die Stärksten unter den Frauen würden das einsehen und keine feste Beziehung mit ihm anfangen.
"Meinst du denn, es gibt keine, die so stark ist, daß du sie nicht kaputtmachen kannst?" fragte ich.
Er ist sich nicht sicher.
Ivo Fechtner sprach mich an, und ich machte eine abwehrende Geste, so daß er sich wieder entfernte. Ich hoffe, daß aus Ivo Fechtner nicht eines Tages ein zweiter Sockenschuß wird.
Dag erzählte, es sei eine Tatsache, daß ich so hinreißend tanze, daß ich Gefahr laufe, vergewaltigt zu werden. Vielleicht möchte er damit seine Beschützerrolle herausstreichen, die er zweifellos innehat, wenn er mich in der Morgenfrühe zum Zug bringt oder vorher noch bei sich daheim zu Cola und Kaffee einlädt.



Am Dreikönigstag hatte Xentrix "Faith, høpe and charity" von Fun Boy Three ins "Elizium" mitgebracht und spielte diesen schrägen Klassiker endlich wieder:

Faith and hope and charity
One for you and one for me
Money doesn't grow on trees
But babies come from ladies.
Faith - I see no evil
Faith - I see no evil
Faith - I see no evil
Faith - I see no evil
Faith and hope and charity
One for you and one for me
Money doesn't grow on trees
But babies come from ladies.
Hope - I hear no evil
Hope - I hear no evil
Hope - I hear no evil
Hope - I hear no evil
Faith and hope and charity
One for you and one for me
Money doesn't grow on trees
But babies come from ladies.
Charity - I speak no evil
Charity - I speak no evil
Charity - I speak no evil
Charity - I speak no evil
Faith and hope and charity
One for you and one for me
Money doesn't grow on trees
But babies come from ladies ...

Es kamen noch mehr Klassiker, wie "Film 2" von Grauzone, "Planet Claire" von B 52's, "Theatre of life" von Shock Therapy und "Big man restless" von Kissing the Pink.
Meine Haare waren frisch geschnitten, und mit einem Stoffband hatte ich eine Strähne zu einem Zöpfchen hochgerafft. Ich trug das Oberteil mit dem durchbrochenen Rücken, das Siddra mir verkauft hat, dazu das breite Halsband mit dem Kreuz und einen Rock mit besonders vielen Petticoats; er stand ab wie ein Tutu.
Ich erinnerte mich daran, wie Rafa mich vor drei Jahren kurz nach Silvester im "Elizium" angesprochen hat.
"Ein frohes neues Jahr!" hat er damals zu mir gesagt.
"Ach, schade, daß Rafa nicht hier ist", seufzte ich.
Es war gegen vier Uhr, als ich die Treppe von der Galerie herunterkam und mich jemand rief:
"Ein frohes neues Jahr - Hetty!"
Rafa stand wie aus dem Nichts erschienen in der leeren dunklen Ecke vor der Stahltür und reichte mir die Hand. Ich nahm seine Hand und wollte sie an meine Wange ziehen. Rafa wehrte sich mit kurzen, aber sehr bestimmenden Gesten. Er schien sich eisern vorgenommen zu haben, mich nicht an sich heranzulassen.
"He! He!" bremste er mich, als ich entzückt unter das Volant seines Kutschermantels griff. "Nein, nein, nein, nein! Ruhig! Ruhig! So - sind wir jetzt ruhig? Sind wir jetzt ruhig?"
Schweigend stand ich vor ihm und strahlte ihn an.
"Ein frohes neues Jahr!" wiederholte Rafa. "Ich sagte, 'ein frohes neues Jahr'!"
"Gleichfalls", erwiderte ich, wie vor drei Jahren.
"Und - alles klar?" fragte er.
Ich fand ihn zu niedlich. Er trug sein schwarzweiß gemustertes Lieblingstuch um den Kopf und einen schlichten Pferdeschwanz. Seine Augen hatte er mit Kajalstrichen verziert.
"Das ist er", dachte ich. "Ihn will ich und sonst keinen. So soll er aussehen und nicht anders. Es ist selbstverständlich, daß er es ist - es ist wie ein Gesetz."
Ich versuchte, seine Wange zu streicheln. Er warf den Kopf ins Genick.
"He, nein!" wehrte er mich ab. "Nicht anfassen; sonst bin ich nämlich gleich wieder verschwunden."
Rafa verhielt sich wie ein scheues Tier ... oder wie ein Mensch, der sich davor fürchtete, von seinem Verlangen überwältigt zu werden.
Ich wollte Rafa meine Zuneigung trotzdem übermitteln. Ich stand reglos vor ihm und strahlte und strahlte. Das schien ihn verlegen zu machen. Er drehte seinen Kopf kurz zur Seite und dann wieder her.
"Dieses Profil ist so süß", dachte ich, und mein Wunsch, Rafa in die Arme zu nehmen, wurde noch stärker.
Ich spielte mit dem Volant. Rafa zog wieder meine Hand weg.
"Wo ist Xentrix?" fragte er.
Um ihm zu antworten, wollte ich mich ihm nähern. Ich legte einen Arm um seine Schultern. Er zog den Arm hastig fort.
"Zur Zeit legt gerade Luie auf", teilte ich ihm mit.
"Wo ist Xentrix?" fragte er wieder.
"Der müßte eigentlich noch hier sein."
Rafa eilte von dannen. Ich blieb noch ein Weilchen in der dunklen Ecke stehen. Als Luie "Wars of Islam" von SPK spielte, ging ich auf die Tanzfläche. Rafa konnte ich nicht mehr entdecken.
Als ich später einen Blick in den Vorraum warf, saß Rafa dort an einem Tisch und sprach mit drei Mädchen. Er hatte aber keines nahe bei sich sitzen; es sah nicht so aus, als wenn eines der Mädchen seine Freundin wäre. Dennoch war ich äußerst mißtrauisch.
Saara kam. Ich folgte ihr zu den Toiletten, wo wir eine Konferenz abhielten. Rafa schaute zu uns hin, als wir vorbeigingen. Ich sah das aber nur aus den Augenwinkeln. Ich wollte mich nicht zu ihm umdrehen, damit ich nicht aufdringlich wirkte.
Als Saara und ich zurück in den Tanzraum gingen, war Rafa fort. Carl und Constri hatten ihn das "Elizium" verlassen sehen, begleitet von dem Haufen Mädchen.
"Hallo Carl!" grüßte Rafa, als er an Constri und Carl vorbeikam. "Ein frohes neues Jahr!"
Jemand im "Elizium" wußte, daß Rafa ins "Nachtbarhaus" gegangen war. Saara dachte sich, daß Rafa dort auf seinen Zug nach SHG. warten wollte. Der fuhr kurz vor sieben.
Toro und einer von seinen Bekannten wollten mit Saara und mir auch noch ins "Nachtbarhaus" gehen. Ich fragte Carl, ob das auf Rafa so wirken könnte, als wenn ich ihm nachliefe. Carl erwiderte, ich könne ja nichts dafür, wenn die Leute mich mitschleppten. Ich solle ruhig ins "Nachtbarhaus" gehen.
Saara und ich tanzten noch zu "Maximizing the Audience" von Wim Mertens. Das "Exil"-Barmädchen Sharon tanzte uns gegenüber. Nach dem Stück sagte Sharon ein paar hart klingende Worte zu Saara:
"Wir wollen mal sehen, wer hier schlauer ist!"
Saara konnte sich Sharons Aggressionen nicht erklären. Ich äußerte die Vermutung, daß es sich um irgendeine Form von Eifersucht handelt. Vielleicht hat es Sharon jetzt auch auf Kappa abgesehen.
Saara ist sich inzwischen sicher, daß sie nur Kappa will und nicht Dimitri. In der Toilette sagte Saara zu mir, es tue ihr sehr gut, mit mir über ihre Liebe zu reden, weil ich dasselbe Problem habe wie sie und sie deshalb verstehen könne. Andere Leute würden ihr immer nur raten, Kappa zu vergessen. Ich entgegnete, auch mir sei es sehr wichtig, mit ihr zu sprechen, eben weil ich mich von ihr verstanden fühle. Man könne so etwas wohl auch nur verstehen, wenn man selbst in dieser Lage sei.
"Es tut gut, wenn man sich sagt, man liebt diesen Menschen, und daran wird sich auch nichts ändern", meinte ich. "Ich will meine Energie nicht damit verschwenden, an meiner Liebe zu Rafa zu zweifeln. Ich brauche alle verfügbare Energie, um Rafa zu gewinnen."
Über das Verhältnis von Rafa und Kappa hatte Saara gehört, daß die beiden sich "alles erzählen". Hat Kappa für Rafa die Rolle der Vertrauensperson übernommen und Dolf weitgehend ersetzt?
Gegen sechs Uhr kamen wir ins "Nachtbarhaus". Rafa saß an einem der beiden Tische, die auf der Kleinkunstbühne stehen. Er war umringt von seinen drei Begleiterinnen. Er schaute uns entgegen, durch einen Prospekt, den er zu einem Fernrohr zusammengerollt hatte. Der Tisch neben seinem war leer, doch ich lotste meine Begleiter zu einem anderen Tisch, der nicht in Rafas Sichtfeld lag.
Lara war eine von Rafas Begleiterinnen. Laut Saara soll sie bei Rafa in der Nähe wohnen. Ich frage mich, ob Rafa immer noch mit Lara ein Verhältnis hat.
Ich sprach Saara darauf an, daß Rafa im Mai etwas mit Sharon gehabt haben könnte.
"Das denken viele", sagte Saara. "Aber Rafa meint, er hat nur bei ihr übernachtet und nichts mit ihr gehabt."
Toro schlug vor:
"Laßt uns über Rafa lästern."
Neuerdings arbeitet Toro als Thekenkraft im "Exil". Er hat mit Blanda abgesprochen, daß er die zahlreichen Gläser Sekt, die er seinen Bekannten ausgibt, am Ende der Nacht selbst bezahlt. Rafa schien das noch nicht zu wissen. Böse sagte er im "Exil" zu Greta Hesse, Toro werde 'rausfliegen, wenn er weiterhin Sekt verschenke. Greta berichtete Toro von Rafas Äußerung. Jetzt war Toro furchtbar wütend auf Rafa und steigerte sich in immer ärgere Wut hinein. Ich empfahl Toro, eine Aussprache mit Rafa zu suchen und diese zur Not auch einzufordern. Toro ging schließlich hinauf zu Rafas Tisch. Als er wiederkam, erzählte er, Rafa habe kalt gesagt:
"Gut, daß du ankommst. Ich habe das im 'Exil' nur gesagt, um Greta zu testen. Ich wollte wissen, ob sie dir das gleich weitererzählt, was ich ihr über dich sage. Ich wollte herausfinden, wem ich was erzählen darf."
So hatte Rafa sich aus der Verantwortung gewunden und Greta als die Schuldige hingestellt.
"Er benutzt die Frauen", sagte Toro über Rafa.
"Stimmt", bestätigte ich. "Er behandelt sie wie Spielzeug. Das liegt daran, daß sie ihn alle nicht zu nehmen wissen. Da ist keine, die Autorität hat."
Toro liebäugelte mit dem Gedanken, Rafa zu verprügeln.
"Da will ich mal sehen, wer gewinnt", kicherte ich. "Das würde ich zu gerne wissen."
"He - ich heiße nicht umsonst Toro", warf Toro sich in die Brust. "Toro heißt 'Stier'!"
"Trotzdem bin ich mir nicht so sicher, wer gewinnt", meinte ich.
Für Rafa wurde es Zeit zum Aufbruch. Er ging in größerem Abstand an uns vorbei, ohne sich umzuwenden. Toro rief ihm nach:
"He! Haste ja echt toll gemacht!"
Da drehte sich Rafa doch noch einmal um und schaute zu uns her. Ich lächelte.
"Dieser niedliche Pferdeschwanz", dachte ich.
Rafa ging weiter und war gleich verschwunden. Mit ihm kamen zwei von den Mädchen. Das dritte, Greta Hesse, gesellte sich zu uns.
Greta ist klein und zierlich. Ihre langen dunklen Haare sind gekreppt, und sie trägt Silberschmuck an Nase und Händen. Sie hatte einen Pullover an und eine enge Hose; nichts Aufregendes also. Greta sah zutiefst betrübt aus und mußte lange und umständlich von Toro getröstet werden. Das Schachspielchen, in dem Rafa sie als Figur einsetzte, schien sie ernst zu nehmen. Wahrscheinlich kann sie die Winkelzüge von Rafa nicht durchschauen.
Greta zeigte keine Aggressionen gegen mich. Die wenigen Worte, die sie zu mir sagte, als ihre Laune sich besserte, klangen freundlich und harmlos. Ich denke - entweder weiß sie nicht, was Rafa mir bedeutet, oder Rafa hat keine Bedeutung für sie, die genügt, um sie auf mich eifersüchtig zu machen.
Greta erzählte Toro, Rafa habe gesagt, er komme mit Toro einfach nicht klar. Toro kommt auch mit Rafa nicht klar. Als ihm diese Parallele vor Augen geführt wurde, meinte Toro, es sei wohl doch besser, mit Rafa zu reden, anstatt ihn zu verdreschen.
Saara hat mich später am Telefon mit noch mehr Einzelheiten versorgt. Lara soll jene Affäre mit Rafa, als sie ihn für das "erste Mal" verwendete, so darstellen, daß sie damals bei Rafa war, um mit ihm Videos zu gucken. Er soll ihr den Hof gemacht haben. Sie zögerte erst, gab jedoch am nächsten Tag seinem Werben nach. Dann teilte Rafa ihr mit, daß es keinen Sinn habe, wenn sie seine Freundin werde; er sei sicher, daß nach spätestens zwei Monaten schon wieder Schluß sei. Lara fuhr am Morgen zu Sandro und ging mit ihm ins Bett, und Rafa schlief zur gleichen Zeit mit Viktoria. Auch aus Rafa und Viktoria wurde kein Paar, sondern es blieb bei einem "Techtelmechtel". Lara und Viktoria soll nicht nur ihre innige Freundschaft, sondern auch die gemeinsame Schwärmerei für Rafa verbinden.
Angeblich soll Rafa die Mädchen immer fragen, ob sie einen Freund haben, bevor er mit ihnen schläft. Vielleicht hat Lara ihm von Sandro erzählt, es aber so hingedreht, daß es nicht Anstößiges sei, ihn zu betrügen.
Vor einer der Tanznächte im "Contrast" soll Lara bei Rafa zu Besuch gewesen sein und Pizza gegessen haben. Bei der Kaffeerunde, die Rafa nach der Tanznacht veranstaltete, soll es so ausgesehen haben, als wenn Lara sich immer noch Hoffnungen auf Rafa machte. Lara soll angestrebt haben, bei Rafa zu bleiben, nachdem alle anderen fortgegangen waren. Rafa wollte jedoch unbedingt zum Zigarettenautomaten gehen, und Lara fuhr in leicht ungehaltener Stimmung nach Hause.
Rafa soll vielen Leuten erzählen, daß er mit Kappa "'rumknutscht". Peinlich scheint ihm das also nicht zu sein. Kappa jedoch scheinen die "Knutschereien" mit Rafa peinlich zu sein. Als Saara ihn darauf ansprach, war er sehr schweigsam.
Saara hat bei Rafa ein Foto gesehen, das ihn als etwa siebenjähriges Kind zeigt. Er steht neben seinem Bruder vor einem sogenannten "Jungbrunnen". Rafa ist auf dem Bild blond, etwas pummelig und deutlich kleiner - weil jünger - als sein Bruder. Der Jungbrunnen soll sich beim Tierpark in SHG. befinden. In den Jungbrunnen sollen die Leute Blumensträuße werfen. Rafa soll erzählt haben, er habe einmal zu einem Geburtstag gehen wollen und kein Geschenk gehabt haben, und da habe er einen solchen Blumenstrauß geklaut.
Saara sprach Rafa auf seinen Flirt mit der kurzhaarigen Barfrau an:
"Du bist doch neulich mit Hetty weggegangen, hast aber vor ihren Augen mit dieser Barfrau 'rumgeknutscht. Was sollte das eigentlich? Hast du mit der jetzt was?"
Rafa erzählte, daß die Barfrau einen Freund hat. Dieser Freund soll im Nebenzimmer geschlafen haben, während Rafa bei ihr war und mit ihr Kaffee trank und Kuchen aß.
Rafa soll zu Saara gesagt haben:
"Brauchst mich gar nicht angucken; ich sehe voll Sch... aus; ich bin nicht geschminkt."
Saara wollte wissen, was Rafa so in seinem Täschchen hat; es war Haarspray, Schminke und dergleichen.
Rafa soll von seinen eigenen Augen geschwärmt haben.
"Ich habe so wunderschöne Augen, ich habe so wunderwunderschöne blaue Augen", sagte er zu Saara. "Wie findest du meine Augen?"
Saara murmelte "Na, ja ..." und fragte ihn, wie er ihre Augen fände.
"Ich weiß es nicht", entgegnete er. "Ich habe sie ja noch nicht ungeschminkt gesehen."
Rafa soll zu Saara gesagt haben, sie würde "aufgesetzt" sprechen. So etwas hat Rafa auch schon mir vorgeworfen. Saara fragte ihn, was er mit "aufgesetzt" meine; er konnte das aber nicht recht erklären.
Rafa soll schon recht dreist um Saara geworben haben. Im "Exil" fragte er sie über die halbe Tanzfläche hinweg:
"Willst du mit mir schlafen?"
Da war gerade ein Lied zuende, und es war ruhig, und jeder konnte es hören.
Irgendein Mädchen soll einmal zu Saara gesagt haben:
"Der kriegt dich auch noch! Der kriegt dich auch noch!"
Saara sieht das anders.

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