Netvel: "Im Netz" - 19. Kapitel































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Am 11.01. war es strahlend sonnig, aber frostkalt. Ich dachte daran, daß ich Rafa auch in diesem Jahr nicht an seinem Geburtstag würde sehen können.
Abends gegen halb neun rief Saara mich an. Sie hatte soeben mit Rafa telefoniert, um ihn mitzuteilen, daß sie von einem Bekannten ein Keyboard abgeholt hatte und daß sie ihm dieses vorbeibringen konnte. Rafa hatte Saara am letzten Samstag um diesen Dienst gebeten. Als Saara ihn nun anrief, bat er sie, auf jeden Fall sogleich zu kommen; er feiere gerade seinen Geburtstag und wolle sie auch dazu einladen. Saara erwiderte, sie habe eigentlich gar keine Zeit; es sei noch Besuch da.
"Kannst du mitbringen", sagte Rafa.
Saara versprach, es sich zu überlegen. Dann fragte sie mich, ob ich nicht mit ihr nach SHG. fahren wollte. Ich war schwer erkältet, hatte aber kein Fieber. Außerdem war es mein Herzenswunsch, Rafa zu gratulieren und ihn zu besuchen, umso mehr, als es gerade sein Fünfundzwanzigster war, eine Art Jubiläum. Ich fragte Saara, ob Rafa zur Zeit eine Freundin hatte.
"Der hat keine Freundin", war Saara sicher.
Außerdem sagte sie mir, daß sie nur in Begleitung fahren wollte, und ich sei die Einzige, die infrage käme. Da hatte ich mein Alibi - ich kam mit, um Saara den Besuch bei Rafa zu ermöglichen. Saara und ich machten aus, daß sie mich um halb elf abholte. Ich richtete mich nun ein wenig her, doch ich übertrieb es nicht. Ich zog mir kein anderes Kleid an. Ich trug mein silbergraues Nickikleid mit der Schleife am Ausschnitt, ein schwarzes Jäckchen und ein schwarzes Halsband mit Kreuz. Eine Haarsträhne war mit einem silbergrauen Stoffgummi hochgebunden.
Um halb elf rief Saara wieder an und berichtete, daß ihr Auto bei dem Frost nicht ansprang. Ich schlug vor, mit der Bahn zu fahren und bat Saara, noch einmal bei Rafa anzurufen und zu fragen, ob er uns eine Rückfahrgelegenheit verschaffen könne. Saara rief dann bei mir gleich wieder an und erzählte, die Mutter von Rafa sei am Apparat gewesen. Sie rief ihrem Sohn zu, daß da die Saara sei, und er fragte:
"Da oder am Telefon?"
"Am Telefon."
"Was, nur am Telefon?" regte er sich auf.
Er beschwor Saara, unbedingt sofort zu kommen. Sie sagte ihm, daß sie nicht allein käme. Er war es zufrieden. Was die Rückfahrgelegenheit betraf, meinte Rafa, das ließe sich schon irgendwie regeln. Ich suchte für Saara und mich einen Zug heraus. Wir schafften ihn gerade noch. Es war der letzte Zug, mit dem wir vor Mitternacht - also noch an Rafas Geburtstag - in SHG. sein konnten. Saara hatte sogar das Keyboard mitgenommen. Und sie hatte ein Geburtstagskärtchen zurechtgemacht, ein Kärtchen mit beigefügter CD. Innen stand ein Geburtstagsgruß und darunter:
"... wünscht Saara."
Ich verwandelte das "t" von "wünscht" in ein "en" und schrieb hinter "Saara" noch "und ich". So hatte ich mich an dem Kärtchen beteiligt.
Saara hatte auch ein Geschenk für Rafa, einen Scherzartikel. Es waren Brüste, die laufen konnten. Dann sollte Rafa noch ein buntes Bonbon bekommen, das sich zu einem Kondom auseinanderfalten ließ. Das fand ich nun sehr gut. Ich hatte für Rafa erst noch eine Sektflasche von der Tankstelle holen wollen, doch weil wir nicht mit dem Auto fuhren und den Zug erwischen mußten, hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Ich hatte beschlossen, Rafa das "Blood Axis"-T-Shirt zu schenken, das sowieso für ihn bestimmt war. Ich hatte es schon vor Monaten gekauft, in der größten Größe. Es hatte mich schon lange beschäftigt, wie ein Geschenk von mir für Rafa aussehen konnte. Nett sollte es sein, nicht anzüglich und doch mit einem ganz leichten Hintergedanken versehen. T-Shirts trägt Rafa daheim und im Bett. Er braucht eines, wenn er bei mir schläft. Mit einem T-Shirt kann ich also ausdrücken, daß ich Rafa bei mir im Bett haben möchte.
Saara erzählt mir, daß Rafa von Lara zu Weihnachten ein teures Steifftier bekommen hat. Lara soll Rafa so verehren, daß ihr jemand ein Bild geschenkt hat, auf dem sie und Rafa als Strichmännchen zu sehen sind, mit Kindern.
Saara hatte sich eine Baseballkappe aufgesetzt. Sie wollte Rafa damit ärgern. Rafa mag die Kappe nicht; als Saara bei ihm war, hat er genörgelt, die Kappe sei überhaupt nicht feminin, und Saara solle sie absetzen. Als Saara das nicht tat, setzte Rafa sich selbst eine Baseballkappe auf. Er versprach, die Kappe wieder abzusetzen, wenn sie ihre ebenfalls absetzte. Sie tat das immer noch nicht. Rafa setzte seine Baseballkappe nach kurzer Zeit trotzdem ab.
Saara hoffte, daß Kappa auch auf Rafas Geburtstagsfeier war. Kappa hatte allerdings nicht fest versprochen, zu kommen.
Es erleichterte mich, in Saaras Begleitung nach SHG. fahren zu können. Ich erlebte die Fahrt anders, als wenn ich allein gewesen wäre, und ich erlebte auch die Stadt anders. Saara kennt den Weg schon besser als ich. Sie weiß, daß es bei Rafa in der Nähe eine "Dea"-Tankstelle gibt. Einen Grabsteinmetz gibt es dort übrigens auch.
Fünf Minuten vor Mitternacht erreichten wir das Haus. Ich ließ Saara klingeln. Und ich versteckte mich hinter ihr, als wir die Treppe hinaufgingen. Rafa stand vor der offenen Wohnungstür und nahm das Keyboard in Empfang. Saara reichte ihm die Hand, und dann war ich an der Reihe.
"Herzlichen Glückwunsch", sagte ich.
"Danke."
"Entschuldigung. Ich bin nur hier, weil Saara nicht alleine fahren wollte."
Rafa läßt mich nicht ausreden und wird sofort ganz geschäftig. Er scheucht mich in die Wohnung:
"Ja, schon gut, komm' mit."
Dieses Mal dürfen wir nicht die Schlafzimmertür benutzen; wir sollen durch die Tür des Wohnzimmers gehen, das Rafa als Musikzimmer verwendet. Im Schlafzimmer steht ein Kreis aus Stühlen um den Acryltisch herum.
"Kannst dich gleich zu meinem Bruder setzen", weist Rafa mir einen Platz zu. "Echt, mein Bruder ist der Beste ..."
Toto lächelt. Er hat Ähnlichkeit mit Rafa. Er ist ebenso kräftig gebaut, hat dieselbe Haut- und Haarfarbe und etwas ähnliche Gesichtszüge. Doch ihm fehlt das Eitle, Verführerische. Er trägt ein schlichtes orangefarbenes Hemd und Jeans. Er hat Geheimratsecken und einen Schnurrbart.
"Was tue ich nur, wenn Rafa auch Geheimratsecken kriegt?" denke ich. "Das ist so furchtbar, daß den Männern die Haare ausfallen. Wenn das nicht so wäre, wären die Männer viel länger schön!"
Rafa trägt bequeme Hauskleidung. Er hat seine Lieblingshose aus schwarzem Stretch an und dazu ein schwarzes T-Shirt. Er ist ungeschminkt und unrasiert.
Viele Gäste sind nicht da. Auf dem Bett, hinten beim Spiegel, sitzt Dolf mit einem Mädchen, das wahrscheinlich seine Freundin ist. Das Mädchen ist klein und würde von daher zu Dolf passen. Neben dem Mädchen sitzen Lara und Harriet, ein Mädchen, das auch mit Rafa im "Nachtbarhaus" war.
Lara trägt ihr Haar wahrscheinlich schon seit Längerem schwarz. Mir fällt auf, daß sie recht pummelig ist. Ein Freund von Rafa ist noch da, Anwar. Er wirkt auf mich still und etwas farblos. Rafa bezeichnet ihn allerdings als "Partylöwe". Und er sagt, Anwar sei sein "bester Freund".
"Ist nicht Kappa dein bester Freund?" frage ich nach.
"Kappa ist ein Freund von mir", berichtigt Rafa. "Freunde ... was habe ich für Freunde? Das ist einmal Anwar, das ist einmal Dolf ... ja, und irgendwann auch Kappa und auch ... Ken ... und auch in dieser Reihenfolge."
Über Ken sagt Rafa allerdings, daß er ihn nur noch selten sieht.
Kappa ist nicht da. Rafas Mutter sehe ich auch nicht; sie ist schon zu Bett gegangen. Deshalb werden wir von Rafa gebeten:
"Wenn ihr auf den Pott wollt, dann müßt ihr bitte unten gehen. Das muß nicht sein, daß Muttchen aufwacht."
Wir haben einen bemühten, eifrigen Gastgeber, der uns mitteilt, daß die selbstgemachte Pizza leider schon alle ist und ebenso der Sekt. Rafa wirkt aufgedreht und aufgekratzt. Das legt sich jedoch ein wenig im Laufe der nächsten Stunden.
Die Musik, die Rafa abspielt, ist durchweg nicht von ihm. Es sind vorwiegend bekanntere Stücke aus den Bereichen Elektronik und Wave. Die Musik läuft nur leise im Hintergrund.
Ich hänge meine Sachen über den Garderobenständer und setze mich auf den zugewiesenen Platz. Rafa fragt mich, ob ich Bier will.
"Ich mag kein Bier", entgegne ich. "Hast du Sekt?"
"Der Sekt ist schon alle."
"Was hast du denn noch?"
"Cola, Fanta Citrus und Fanta Grapefruit. Will noch jemand Bier? Echt, ich hab' noch so viel Bier ..."
Rafa verteilt ein paar Flaschen.
"Mir darfst du ein Glas Fanta Grapefruit einschenken", sage ich, als er fertig ist.
"Ich darf", wiederholt Rafa.
"Ja, du darfst."
Er bringt mir ein Glas und schenkt mir ein. Saara setzt sich neben mich, und Rafa setzt sich neben Saara.
Rafas Bruder Toto stellt sich mir vor. Er ist sieben Jahre älter als Rafa.
"Hetty!" ruft mich Rafa. "Wir haben gerade darüber spekuliert, wie alt du bist. Wie alt bist du eigentlich? Her mit dem Perso! Kein Geheimnis! Die wollen das sonst nicht glauben."
Lara und Harriet kichern verlegen. Ich gebe Rafa meinen Personalausweis. Er betrachtet das Bild und meint:
"In natura gefällst du mir besser!"
Dann liest er das Geburtsdatum.
"'66!" ruft er. "Dreißig! Hast du eine Frischzellenkur gemacht?"
Ich kichere.
"Dir mußte ich den Perso aus der Hand reißen, damals", erinnere ich Rafa. "Du wolltest mir partout nicht verraten, wie alt du bist."
"Wieso, ich bin fünfundzwanzig Jahre, das darf doch jeder wissen."
"Ja, aber ich durfte damals nicht wissen, wie alt du bist."
Nicht ohne Stolz erzählt uns Rafa, daß Luisa ihn aus B. angerufen hat. Saara gibt Rafa ihr Geschenk und die Geburtstagskarte. Über die rennenden Plastikbrüste sagt Toto:
"Ist wohl aus einer Junior-Tüte?"
Ich verspreche Rafa:
"Das, was ich dir schenke, kriegst du, wenn du wieder zu mir kommst."
Er nimmt es mit einem "Ah - ja ..." zur Kenntnis.
"Hier - vergiß' deine Videos nicht", mahnt Rafa, als sein Blick auf das Stahlregal fällt. "Die liegen alle hier in der zweiten Reihe."
"Nein, diesmal vergesse ich die nicht. Hoffentlich nicht."
Ich rede vorwiegend mit Toto. Rafa scheint mich in das Gespräch einbeziehen zu wollen, das er mit Anwar, Dolf und den Mädchen führt.
"He, du kennst doch Tetzlaff?" spricht er mich an. "Du kennst doch Ekel Alfred?"
"Ja, den kenne ich."
"Dolf!" schreit Rafa."Dein Typ wird verlangt!"
Verwundert schaut Dolf zu mir herüber. Es ist gar zu seltsam, daß ich mit Dolf sprechen möchte ... will ich auch gar nicht; Rafa hat bloß so getan, als ob.
"Ich weiß über Tetzlaff gar nicht so viel", erkläre ich. "Ich habe das nur ein paarmal in der Nachtwache geguckt, auf Station 60."
"Ach, bist du Krankenschwester?" fragt mich Toto.
"Nein, Medizinstudentin."
Er erkundigt sich nach meinem Studium:
"Wann endet das denn?"
Rafa fällt seinem Bruder mit der gleichen Frage ins Wort:
"He, also, jetzt möchte ich auch mal was fragen! Hetty - ich kenne dich jetzt ja schon so ... vier Jahre. Und du hast doch damals schon studiert. Wann bist du denn endlich mal ... fertig ... studiert?"
Ich antworte, daß ich die letzte Prüfung erst im kommenden Herbst machen möchte und daß diese Prüfung außer der Doktorarbeit das Einzige ist, was noch fehlt.
"Warum dauert das denn so lange?" fragt Rafa.
"Ich habe eben jahrelang gearbeitet, drei Nächte die Woche. Das Arbeiten und Geldverdienen ist für mich sehr wichtig."
Toto fragt mich, ob ich wisse, was ein Halswirbelsäulen-Syndrom sei.
"HWS-Syndrom", kürze ich ab. "Da kann man Kopfschmerzen und Schwindel haben. Das ist eine Überlastungserscheinung der Halswirbelsäule."
"Habe ich alles, habe ich alles. Habe ich, ja, genau, habe ich."
Toto fragt mich über die B-Vitamine aus, die er wegen des HWS-Syndroms einnimmt. Beim Abfragen der medizinischen Details ist Toto sehr ungeduldig und fällt mir oft ins Wort.
"Von wem habt ihr nur die ungeduldige Fragerei geerbt?" möchte ich wissen. "Rafa hat das nämlich auch."
"Ja, von mir."
"Ach, du meinst, er hat das von dir. Aber du mußt es ja auch irgendwoher geerbt haben. Es fällt halt auf, weil ihr beide immer so ungeduldig fragt. Vieles an euch ist ähnlich, im Ausdruck, in der Mimik und in den Bewegungen. Über deinen Charakter kann ich nicht so viel sagen; ich kenne dich ja praktisch nicht; ich kenne nur den ersten Eindruck von dir."
Toto sagt über sich, er sei "nur depressiv". Außerdem rauche und trinke er zuviel. Ich erzähle ihm, daß ich gerne den Leuten auf die Nerven gehe, die zuviel rauchen und trinken oder sich auf andere Art selber schaden.
"Ist das nicht schrecklich, immer nur mit Medizin und Knochen und sowas zu tun zu haben?" möchte Toto wissen.
"Nein, eigentlich nicht ...", antworte ich nachdenklich. "Ich habe unter anderem deshalb Medizin studiert, weil ich wissen wollte, wie das ist, wenn ein Mensch tot ist und wenn ein Mensch stirbt und wenn ein Mensch krank ist. Ich wollte wissen, wie sich ein Mensch unter extremem Streß verhält."
"Wenn man tot ist, dann kommt doch nichts mehr?"
"Nein."
"Es gibt immer diese Leute, die sagen, ich war klinisch tot. Aber wer klinisch tot ist und dann wieder zurückgeholt wird, der war ja im Grunde noch gar nicht tot."
"Genau."
"Wenn man tot ist, ist Schicht, Ende, aus."
"Ja, das ist der Hirntod."
"Nach dem Tod ist da nichts mehr, ne?" vergewissert sich Toto. "Nach dem Tod ist absolut Schluß, ne?"
"Ich hoffe ja immer noch, daß da was ist; man weiß es ja nicht sicher."
Rafa schaltet sich dazwischen:
"Könnt ihr bitte einen Moment Pause machen und weiterreden, wenn das nächste Lied anfängt? Sonst kriege ich hier das Gesprächsthema noch mit."
Anwar fühlt sich angestachelt und beginnt, ebenfalls über den Tod zu sprechen. Der arme Rafa ist nun eingekreist von Leuten, die in ihm trübe Gedanken wecken.
"Echt - immer nur Medizin und Studieren ...", sagt Toto zweifelnd.
"Warum?" frage ich. "Es ist doch nicht nur Medizin. Ich gehe seit vielen Jahren zweimal pro Woche weg, Freitag und Samstag. Und ich sitze dauernd am Computer. Ohne Computer wäre ich aufgeschmissen."
Toto hat beruflich viel mit Computern zu tun, doch zu Hause möchte er keinen haben.
"Was machst denn du beruflich?" erkundige ich mich.
"Ich arbeite bei Bahlsen."
"Was ist denn dein Job?"
"Andere Leute anpfeifen. Ich hasse es, wenn einer nicht spurt. Das sagt mein Sternzeichen schon."
Er will mich das Sternzeichen raten lassen, doch ich lehne das ab, mit der Begründung, daß ich von Astrologie nicht genug verstehe. Toto verrät es mir schließlich; er ist Löwe. Dolf erzählt, daß er ebenfalls Löwe ist.
"Ich bin Wassermann", erzähle ich.
"Wassermann!" klinkt Rafa sich ein. "Wassermann ist tödlich!"
Er zählt die Kombinationen auf, die seiner Ansicht nach Zukunft haben.
Dolf blättert in einem Fotoalbum, auf dem steht: "Unser Kind". Für Dolf scheint das Album eine Art Lachnummer zu sein. Rafa nimmt sich nach einer Weile das Album, reicht es mir und fragt mich:
"Hier, willst du auch mal 'unser Kind' sehen?"
Ich nehme es mit den Worten:
"Genau darum wollte ich dich heute bitten."
Ich betrachte es sehr aufmerksam. Vorn ist eine Klappkarte eingeklebt mit einem Storch darauf, unter dem steht:
"Ich fliege nach SHG."
In der Karte stecken lose, eng beschriebene Notizzettelchen, herausgenommen aus einem Heft oder Block.
"Hier, das ist das Geburts-Tagebuch von mir", erklärt Rafa. "Brauchst nicht lesen."
Ich lese es aber schon, und da sagt er:
"Na, dann lies' es halt."
Die Mutter hat in einem schlichten, offenen Stil über Rafas Geburt und Säuglingszeit geschrieben. Rafa muß demnach ein quicklebendiges, gesundes und sich schnell entwickelndes Kind gewesen sein. Der Name von Rafas Vater wird häufig erwähnt - Peter. Also heißt Rafa wahrscheinlich mit dem ersten Vornamen nach seiner Mutter - Serafina -, und mit dem zweiten nach seinem Vater.
In der Karte steht ein Gedicht, "Das Reiterlein". Das haben wohl Verwandte zur Geburt geschrieben.
In dem Album liegt ein Zeitungsausschnitt über "Familienstandsänderungen". Unter "Geburten" steht "Rafa Dawyne (11.01.)".
"Gefällt dir, das Album, hm?" fragt mich Rafa.
"Ja."
Das Album ist nicht voll. Die wenigen Fotos kleben auch nicht mehr richtig. Es sind vor allem Babyfotos. In dem Baby kann ich schon Rafa erkennen. Toto läßt mich raten, wer der Junge ist, der auf einem Bild Rafa auf dem Schoß sitzen hat.
"Das bist du", vermute ich.
"Richtig."
"Aber dein Kopf ist abgeschnitten."
"Na, nicht jeder kann mit jeder Kamera umgehen."
"Das stimmt", meine ich. "Ich fotografiere selbst sehr gern und sehr viel. Rafa kennt die Fotos; er weiß, wie ich fotografiere, und es gefällt ihm auch. Ich mache vorwiegend Naturaufnahmen, Nahaufnahmen ... und Baustellenaufnahmen und Betonaufnahmen."
Toto fotografiert gern alte Ziegeleien. Ich erzähle ihm von der Ziegeleiruine in Awb., die ich oft fotografiert habe, bis sie abgerissen wurde. Ich erzähle auch von dem Stahlskelett auf dem Fabrikgelände um die "Halle", der Bauruine. Toto bevorzugt Fabrikhallen, die wirklich genutzt worden sind und denen man das ansieht. Auch diese finde ich als Motiv überaus interessant.
"Hetty!" ruft mich Rafa. "Stehst du nicht auf die Beatles?"
"Die Beatles?"
"Oder war das der Sockenfuß?"
"Haha!" lache ich. "Der Sockenschuß! Er kann's nicht vergessen! Ja, ja, der stand auf die Beatles! Der hatte auch so ein Gesicht wie John Lennon. Der sah aus wie John Lennon's Leiche."
"Woher weißt du, wie John Lennon's Leiche aussieht?"
"Na ja, der Sockenschuß sah aus wie eine Leiche und wie John Lennon. Also sah er aus wie John Lennon's Leiche."
Eines der losen Blätter vom "Geburts-Tagebuch" finde ich mitten im Album. Ich stecke es zu den anderen Blättern in die Klappkarte.
"He!" ermahnt mich Rafa, mißtrauisch und etwas ängstlich. "Alle Blätter schön drinlassen!"
"Dafür wollte ich ja gerade sorgen", will ich ihn beruhigen.
Rafa zeigt Saara und mir, welches Bild in dem Album sein Lieblingsbild ist: ein Foto, auf dem Rafa als Kleinkind von seinem Vater in den Armen gehalten wird.
"Rafa und sein Beschützer", denke ich. "Rafa und sein Held. Und dieser Rafa will mir weismachen, daß er keine Geborgenheit braucht ..."
Es gibt auch Bilder, auf denen die Mutter zu sehen ist. Auf den Fotos hat sie das Aussehen der sprichwörtlichen "grauen Maus". Sie ist nicht dick, aber auch nicht unbedingt schlank, hat kurze, dunkle, dauergewellte Haare, ist ungeschminkt und gekleidet in irgendwelche sehr braven, unauffälligen Kleider.
Rafa meint, daß Toto orientalische Augen hat. Ich finde, daß auch die Augen von Rafa ein bißchen orientalisch aussehen.
Rafa fragt uns Gäste immer wieder, wie wir seinen neuen Haarschnitt finden.
"Ich finde den so schön short", sagt er selbst.
Rafa trägt einen sauber geschnittenen Pagenkopf, noch etwas kürzer als im November. Auf der rechten Seite hat er sich die Haare weggestrichen, so daß man die Rasur über den Ohren sieht.
"Ist das asymmetrisch?" möchte ich wissen.
"Nein, nein, alles symmetrisch", antwortet Rafa. "Dafür bin ich sogar zum Friseur gegangen. Das hat nicht meine Mutter geschnitten."
Mir fällt ein Traum ein, den ich im vorletzten Jahr hatte. In diesem Traum erzählte mir Rafa, seine Mutter würde ihm immer die Haare schneiden. Am Ende hat das sogar gestimmt ...
Ich erzähle Toto, daß ich Bärte nicht mag und daß ich schon mit vielen Männern geschimpft habe, wenn sie sich nicht rasiert haben.
"Wenn ein Mann sich nicht rasiert, kann man das Gesicht nicht richtig sehen", erkläre ich. "Und ich finde es so wichtig, daß man das Gesicht sehen kann."
"Ach, das finde ich ja gerade nicht so wichtig", meint Toto.
"Doch, ich finde das sehr wichtig", betone ich mit einem Seitenblick auf den unrasierten Rafa.
"Ein Mann mit Bart, das ist doch das Natürliche", sagt Toto.
"Wir verändern doch alle was an unserem Aussehen", halte ich dagegen. "Ich rasiere mich ja auch über den Ohren."
"Na ja, irgendwie rasiere ich mich ja auch", lenkt Toto ein und zeigt auf sein Kinn.
"Siehst du, wir machen alle etwas aus uns. Wir sind eben keine Tiere. Wir kleiden uns, wir frisieren uns. Wir verändern uns immer."
"Setz' doch mal deine Mütze ab", will Rafa Saara befehlen.
"Jetzt fängt der schon wieder damit an", stöhnt sie.
Mir fällt etwas ein:
"Saara! Hast du ihm das Bonbon schon gegeben?"
"Aah ... nein! Oh! Wo habe ich's denn?"
"In der Jacke."
"Ah, ja ..."
Sie holt es hervor und reicht es Rafa.
"Was ist das?" fragt er.
"Was Wichtiges", antworte ich.
"Ein Kondom", rät er.
"Is' aber nicht von mir!" betone ich. "Is' echt nicht von mir, und die Idee ist auch nicht von mir. Echt nicht."
"Ist ein Kondom, ne? Ist ein Kondom, ne?"
"Ja", sagt Saara.
Rafa geht zu dem großen weißen Keramik-Übertopf auf seinem Nachttisch und hebt die Plastikpflanze hoch, die darin steckt. Unter der Pflanze liegt ein Haufen Kondome.
"Ich hab' nämlich hier immer meine Kondome", erklärt Rafa.
Er legt das Bonbon dazu.
"Wie lange hast du die hier eigentlich schon liegen?" erkundige ich mich.
Rafa hebt ein "Billy Boy"-Kondom hoch und sagt:
"Das habe ich erst seit kürzlich."
Rafa macht uns aufmerksam auf ein Bild, das ihn als nacktes Kleinkind zeigt.
"Hier, der Beweis", sagt er.
"Wofür der Beweis?" möchte ich wissen.
"Daß ich kein Zwitter bin."
"Das hätte ich sowieso nicht gedacht."
Lara hat für Rafa etwas gebastelt. Sie zeigt eine Mecki-Plüschpuppe herum, der sie einen Busen geformt hat, damit sie so weiblich und pummelig wird wie sie selbst. Die Meckipuppe trägt ein Zaubergewand mit Hexenhut. Lara hat auch an den Nasenstecker gedacht. Anscheinend möchte Lara in Gestalt dieser Puppe immer bei Rafa sein.
"Also, wenn ihr übernachtet, dann schlaft ihr unten bei meinem Bruder", teilt Rafa Saara und mir mit. "Hier oben ist voll."
"Was heißt 'Hier ist voll'?" frage ich argwöhnisch.
"Ach, das ist immer ... bei Parties", versucht er, seine Äußerung harmlos wirken zu lassen, ohne deutlicher zu werden.
Ich antworte mit einem zweifelnden Blick.
Rafa nimmt eine Bestellung auf. Er fragt seine Gäste der Reihe nach:
"Lachs, Käse mit Kaviar oder Honigmelone?"
Ich wähle "Lachs" und bekomme ein Lachsbrötchen.
"Willst du auch Meerrettich?" fragt Rafa.
Stumm mache ich mit zwei Fingern das Zeichen für "ein bißchen". Er gibt mir die Meerrettichsahne.
Ich bin hungrig, und das Lachsbrötchen ist gut; dennoch fällt es mir schwer, zu essen. Die Erkältung, die dauernde Wachsamkeit und die innere Anspannung fordern Kraft und nehmen den Appetit.
Rafa fragt mich öfters, warum ich nichts trinke. Ich erkläre ihm, daß ich kein Bier mag und daß ich etwas trinken würde, wenn Wodka, Sekt oder Saurer da wären.
"Pizza ist alle", bedauert Rafa, "alle, aus."
"Dafür habe ich ja ein Lachsbrötchen gekriegt."
Als Toto kurz draußen ist, sagt Rafa zu mir:
"Mensch, du hast dich ja mit meinem Bruder echt gut unterhalten."
"Ja."
"Bist echt einer der wenigen Menschen, die sich mit dem überhaupt unterhalten können."
"Aber das ist doch nicht so schwierig, sich mit dem zu unterhalten."
"Doch."
"Warum soll das so schwierig sein?"
"Weil er - genauso wie ich - in seiner ganz eigenen Welt lebt."
"Also, mir fiel das nicht schwer. Ich habe ihn halt einfach erzählen lassen und zugehört."
"Nee, das reicht nicht, jemanden erzählen lassen und zuhören. Du mußt selbst was fragen und was sagen, und der andere sagt dann auch was."
"Na, ja ... im Grunde war es schon so."
"Ja, eben."
Toto und ich sprechen über unseren Alltag. Ich erzähle von der immerwährenden Hektik in meinem Leben. Toto kann nicht über Hektik klagen; er hat eher zu viel Zeit als zu wenig. Er erklärt das so:
"In meinem Leben gibt es Bahlsen und dann noch Fossilien und dann nicht mehr viel."
"Gehst du nie unter Leute?"
"Nein."
"Warum denn nicht?"
"Ich bin immer alleine. Ich war mein Leben lang alleine."
"Aber du hast doch Freunde?"
"Nein. Ich war immer alleine."
"Oh, ich kenne so viele ... und mir ist das auch so wichtig, meine Freundschaften zu pflegen und mich darum zu kümmern und zu sorgen und die zusammenzuhalten, die Leute. Das ist mir so wichtig. Zu meinem Dreißigsten lade ich achtzig ein, und vierzig kommen."
Als ich Toto erzähle, daß es im "Exil" ein paar Skinheads gibt, die mich etwas plump umwerben, vermutet er gleich, daß ich die zu meiner Geburtstagsparty einlade.
"Die würde ich ganz bestimmt nicht einladen", verneine ich, und Saara bestärkt mich:
"Man kann mit denen mal so labern, aber mehr auch nicht. Lennart Brehler ja sowieso ...!"
"Lennart Brehler, der ist entsetzlich!" kann ich aus Erfahrung sprechen. "Der ist furchtbar. Den hätte ich zusammengehauen. Den hätte ich echt zusammengehauen."
"Mit der Peitsche?" fragt Toto.
"Mit den Händen."
Saara behauptet, Kampfsport als Hobby zu haben. Ich frage sie, ob sie sich mit jemandem hauen würde, und sie flüstert mir zu:
"Mit Sharon."
Toto sagt, er würde sich schon manchmal hauen.
"Ich kann die Leute besser verbal verprügeln", erzähle ich. "Das ist mehr meine Sache."
"Ich kann voll zuschlagen; dann renne ich aber erstmal weg, um wieder Kräfte zu sammeln", beschreibt Toto sein Kampfverhalten. "Im ersten Moment bin ich der King, aber nur im ersten Moment."
"Ich bin mehr der Typ, der durchhält. Ich kann vier Stunden am Stück zu dem voll harten Beat tanzen. Am Samstag wieder ... in der 'Ruine' in HB. ... das wird wieder geil ..."
Toto geht nie tanzen.
"Ich bin absolut nur depressiv", sagt er, wie schon einmal.
"Depressionen müssen irgendeinen Grund haben, nicht?" forsche ich.
Toto findet seine Arbeit langweilig. Ich frage ihn, ob er daran denkt, sich beruflich zu verändern. Er ist unentschlossen. Er verdient recht gut, doch es belastet ihn, daß seine Arbeit so eintönig ist.
"Geld ist mir überhaupt nicht wichtig", sagt Toto. "Hier ... mehr als das habe ich nie bei mir."
Er zeigt mir ein Bündel Scheine.
"Mir ist Geld schon wichtig", sage ich.
"Ach, Geld ist mir egal - wenn ich's hab', gebe ich's aus."
"Ich brauche viel Geld - für schöne Kleider ... und Reisen ... und so weiter ..."
"Und das hier?" fragt Toto und zeigt auf mein silbernes Nickikleid. "Schöne Kleider ...?"
"Das war nicht so teuer. Das habe ich im Schlußverkauf gekauft. Das war 'runtergesetzt. Wie findest du es denn?"
"Na ja, so ... drei plus ..."
"Na ja", sage ich achselzuckend.
"He - du sagst gar nichts?" wundert sich Toto. "Jetzt müßte doch eigentlich was kommen ..."
Ich erkläre ihm, daß seine abwertende Äußerung für mich noch lange kein Grund sei, mit ihm Streit anzufangen - schließlich habe jeder Mensch ein Recht auf seinen eigenen Geschmack.
Toto vermutet, daß ich in mancher Hinsicht "ziemlich viel auf dem Kasten" habe.
"Ja", bestätige ich verlegen, "es gibt Dinge, in denen bin ich Spezialist. Ich kenne dich nicht, aber ich muß immer über alle Leute nachdenken. Das ist für mich wichtig, die zu analysieren. Ich kann über dich nichts Definitives sagen; dazu kenne ich dich viel zu wenig. Ich kann es nur einfach nicht lassen, die Leute zu analysieren und nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen."
"Du findest keine Gesetzmäßigkeiten."
"Gewisse schon ... genug, um Arbeitstheorien aufzustellen."
"Das wäre das ... theoretisch betrachtet."
"Ja."
"Ich betrachte das praktisch."
"Ich betrachte das halt eher theoretisch und du eher praktisch."
"Du schaffst das nie, die Menschen bis auf den Grund zu durchschauen."
"Es ist auch gar nicht meine Absicht, die Leute bis auf den Grund zu durchschauen."
"Du kommst nie zum Ende", meint Toto. "Die Menschen sind unergründlich."
"Ja. Niemand ist ergründlich. Unergründlich sind wir alle. Aber ich will auch niemanden bis aufs Letzte ergründen. Ich kann auch gar nicht über jeden durch und durch nachdenken. Ich denke halt über jeden ein bißchen nach. Ich will gar nicht jeden völlig ergründen."
"Mich kann man nie ergründen", ist Toto sicher. "Da wäre man nach zweihundert Jahren noch nicht fertig. Ich mache absolut nur die Show. Wer am besten spielt, gewinnt. Ist doch so."
"Nicht immer", entgegne ich. "Offenheit ist etwas sehr Wichtiges."
"Also, einer Frau würde ich nie was anvertrauen - höchstens im Bett."
"Warum würdest du ihr denn mehr sagen, wenn du mit ihr im Bett liegst?"
"Na, ja - die männliche Natur ..."
"Also, ich bin immer gleich; wenn ich jemandem mißtraue oder vertraue, dann ist es egal, in welchem Zustand ich gerade bin. Mißtrauen oder vertrauen tue ich dann immer. Ich bin in der Beziehung straight."
"Das bin ich nicht. Bei mir schwankt das immer."
Dolf und seine Begleiterin verabschieden sich. Dolf überkreuzt seine Arme und gibt Toto und mir je eine Hand. Er sagt uns "Tschüß" und wir ihm auch.
"Wahrscheinlich wirke ich auf dich wie so ein Macho, der immer voll die Show um sich macht und sich großtut und sich aufspielt", vermutet Toto.
"Also, auf mich wirkst du schüchtern und zurückhaltend", erwidere ich.
Toto will mir das zuerst kaum glauben. Er kommt sich wie ein Macho vor. Ich erzähle ihm, daß ich schon Leuten begegnet bin, die ich wirklich als Machos erlebe und daß ich die alle nicht mag.
"Du schaffst das nicht, dich so aufzuführen wie die", bin ich sicher. "Ich meine, ich will das jetzt nicht als unumstößliche Tatsache hinstellen; es ist nur einfach der Eindruck, den ich von dir habe."
"Weißt du eigentlich, wie du auf mich wirkst?"
"Ach, das ... möchte ich eigentlich gar nicht unbedingt wissen", entgegne ich zögernd. "Ich muß es nicht unbedingt wissen. Ich meine, du kannst es sagen ..."
Toto findet, daß auch ich schüchtern wirke.
"Ja, hier bin ich wirklich schüchtern", bestätige ich. "Das bin ich nicht immer, aber hier bin ich es, und das hat auch einen ganz bestimmten Grund."
"Was für einen Grund?"
"Na, ja ... lassen wir's ...", sage ich lächelnd mit einem Seitenblick auf Rafa. "Is' schon o.k. ... is' o.k. ... wir wissen bescheid ..."
"Ich durchschaue alle Menschen innerhalb von zwei Sekunden", behauptet Toto.
"Ich will mich nicht mit dir streiten", entgegne ich, "aber wenn ich dir jetzt einen Handschuh hinschmeißen wollte ... ich meine, ich will dir keinen Handschuh hinschmeißen, aber wenn ich dir jetzt einen Handschuh hinschmeißen wollte ..."
"Das heißt 'Fehdehandschuh'", verbessert Rafa.
"Richtig, Herr Deutschlehrer", sage ich zu ihm. "Ich weiß, daß es eigentlich 'Fehdehandschuh' heißt. Aber ich habe das halt so auf meine Art ein bißchen abgekürzt."
Dann fahre ich fort, mit Toto zu sprechen:
"O.k. ... also, wenn ich mit dir Streit anfangen wollte - ich meine, ich will mich mit dir auf keinen Fall streiten, aber wenn ich mich jetzt mit dir streiten wollte, dann würde ich jetzt sagen:
'Du sagst, du würdest die Menschen innerhalb von zwei Sekunden durchschauen, aber die Menschen würden dich innerhalb von zweihundert Jahren nicht durchschauen. Da stellst du dich ja selbst als den absolut großen, mächtigen und starken Typen dar und die anderen nur als so ein paar kleine Krümel.'"
"Ja."
"Genau daran merkt man die Unsicherheit."
Toto ist beeindruckt von Leuten wie Hitler und Napoleon.
"Mich interessieren diese Leute überhaupt nicht", sage ich dazu, "und sie beeindrucken mich auch nicht. Bloß weil sich irgendein Dummkopf mit den Ellenbogen hochboxt, weil der Wind günstig steht, bewundere ich den noch nicht."
"Das ist es ja gerade", meint Toto. "Die waren so nah dran ... die haben so eine Chance gehabt, und sie haben sie nicht genutzt."
"Diese Leute sind für mich nichts anderes als viele andere auch", erwidere ich. "Die beeindrucken mich nicht. Mich beeindrucken vielmehr die Leute mit Zivilcourage, die kleinen Helden des Alltags."
"Wer zählt für dich dazu? Wen kannst du da nennen?"
"Wenn es um Prominente geht ... da würden mir dann die Geschwister Scholl einfallen. Aber ich meine ja auch nicht nur die Prominenten."
"Die Geschwister Scholl kenne ich nicht."
"Was!" rufe ich und bin ehrlich entsetzt über dieses Versäumnis von Totos Lehrern und Eltern. "Du kennst die nicht! Du kennst die nicht! Du weißt nicht, wer die Geschwister Scholl sind! Ja, meine Güte! Die gehören zu den berühmtesten Widerstandskämpfern der Geschichte überhaupt. Die sind '43 gestorben. Das waren Studenten, die haben Flugblätter verteilt, und dafür wurden die enthauptet."
"Im Dritten Reich aber."
"Ja, im Dritten Reich. Siehst du, das sind die Helden, deren Schicksal mich wirklich bewegt und berührt, Menschen, die wirklich versucht haben, was für die Menschheit zu tun, und die Mut bewiesen haben und sich für andere auch aufgeopfert haben. Solche Menschen, das sind Leute, die mich beeindrucken und bewegen. Aber solche Leute wie Adolf Hitler interessieren mich nicht ein bißchen. Mich interessieren höchstens ihre Opfer."
Als Rafa zwischendurch aus dem Zimmer geht, erzählt mir Toto, Rafa habe ihm über mich gesagt, ich sei "voll die Harte".
Lauernd frage ich, was denn damit gemeint sei.
"Na, er hat gesagt, du wärst halt eine von den ganz Harten", wiederholt Toto. "Du wärst unmenschlich."
"Unmenschlich!" lache ich. "Oh ... ich bin unmenschlich ..."
Sadistisch soll ich außerdem sein.
"Hat Rafa dir eigentlich auch gesagt, daß er Angst vor mir hat?" möchte ich wissen.
"Ja", nickt Toto.
"Warum hat er denn Angst vor mir?"
Das hat Toto nicht erfahren.
"Das isses nämlich ...", denke ich.
"Na, jetzt bist du aber doch ein bißchen lockerer, nicht?" vermutet Toto.
Ihn freut es wohl, daß ich auch lachen kann. Ich möchte von Toto wissen, ob er mich ebenfalls "hart" findet.
"Du bist doch ... ziemlich glatt", antwortet er. "Ich habe mich ein bißchen gewundert, als ich dich gesehen habe. Rafa hat vorhin gesagt, da kommt gleich voll die Harte ... und dann kommt da so ein schüchternes Mädchen 'rein ..."
"Ja, ich bin recht glatt; ich bin oft selbst dann noch freundlich, wenn ich Härte zeige. Wenn ich wirklich sadistisch wäre - und ich bin nicht sadistisch -, dann wäre ich bestimmt einer der freundlichsten Sadisten, die es gibt."
Rafa muß gewußt haben, daß Saara mich mitbringen würde. Hat Saara mich namentlich angekündigt ...?
Als ich etwas genauer erklärt haben will, was an mir so "hart" sein soll, sagt Toto:
"Püppchen ... du hast solche Püppchen in deinem Zimmer ..."
Die Barbies und die Skelette betrachtet Rafa als Beweis für meinen Sadismus. Ich lache und erkläre, diese Dinge seien nichts als harmlose Spielereien aus früheren Zeiten; was sei schon Schlimmes daran, ein Barbiegrab zu haben, eine Styroporschale mit Bausand und einer kleinen Grabplatte vom Grabsteinmetz darauf?
Oh, das findet Toto schon ganz schön schlimm.
Ich erwidere, allzu viel würden solche Skulpturen auch nicht über den Charakter aussagen.
"Oh, doch!" ist Toto sicher. "Oh, doch!"
Ich erzähle ihm, daß die Bilder, die ich male, sehr romantisch sind - und daß diese romantischen Bilder neuer sind als die Skulpturen und infolgedessen auch aussagekräftiger.
"Rafa weiß, was ich für Bilder an der Wand hängen habe. Hat er dir das gesagt?"
"Nein."
"Das Harte liegt bei mir eher drei Strockwerke tiefer", erkläre ich.
"Ach - im Grab?" argwöhnt Toto.
"Ach nein, doch nicht da!" seufze ich. "In mir drin! Das ist was Lebendiges, nichts Totes."
Er mag mir gar nicht glauben, daß meine Bilder romantisch sind.
"Du kannst sie dir ja mal ansehen", schlage ich vor. "Du kannst ja auch zu meinem Dreißigsten kommen."
"Nein, nein, da sind so viele Leute; da möchte ich nicht hin."
Als ich zur Toilette gehen will, schickt Toto mich ins Bad; er meint, ich müsse nicht nach unten gehen. Ich weise darauf hin, daß Rafa uns alle gebeten hatte, das Gäste-WC im Erdgeschoß zu benutzen.
"Am Ende kommt ein schwarzes Nachtgespenst und schnauzt mich an", befürchte ich.
"Nein, nein, nein", versichert Toto. "Geh' da 'rüber."
In der Küche fällt mir ein angeschnittener Kuchen ins Auge, bunt verziert; mit Zuckerguß steht darauf geschrieben: "Lara".
"So will sie ihn also für sich gewinnen", denke ich. "Sie umwirbt ihn. Sie will ihm alles recht machen. Sie will ihm immer zu Gefallen sein. Wahrscheinlich hält sie ihn für unfehlbar. Wahrscheinlich glaubt sie, daß alles richtig ist, wenn er es nur tut. Natürlich fühlt Rafa sich von dieser Schwärmerei geschmeichelt. Er wird Lara falsche Hoffnungen machen, damit sie nicht aufhört, ihn anzuhimmeln."
Allerdings soll Lara in der letzten Zeit auch mit Dimitri etwas gehabt haben; anscheinend ist sie nicht auf Rafa festgelegt.
Mittlerweile sind die Stühle von Toto und mir vergeben. Rafa sitzt auf dem Bett, und Toto sitzt zwei Stühle weiter. Rafa bittet mich, mich auf den Stuhl zwischen ihm und Toto zu setzen. Weil es eng ist und ich am Tisch kaum vorbeikann, fordert Rafa Toto auf:
"Heb' sie drüber; die ist ganz leicht."
Ich schaffe es aber auch so, an dem Tisch vorbeizukommen. Toto und ich unterhalten uns noch etwas über Fossilien. Er fragt mich, ob ich mir seine Sammlung ansehen möchte. Ich bin einverstanden, und wir gehen hinunter in Totos Wohnung. Diese Wohnung ist nicht ungemütlich, erinnert aber ein bißchen an eine Werkstatt. Toto macht helles Licht an. In einem Regal liegen versteinerte Saurierwirbel, Tintenfische und anderes Getier. Die Fossilien sind ordentlich aus dem Stein herausgelöst. Einige sind eher grau, andere schwarz und glänzend. Die größten sind etwa faustgroß.
Toto erzählt stolz, was er schon alles an Arbeit und Mühen in Kauf genommen hat für seine Sammelleidenschaft.
"Sammelt dein Vater eigentlich noch Fossilien?" erkundigt er sich.
"Nicht mehr so, höchstens ganz selten. Das hat der früher mehr so gemacht."
Toto geht mit mir noch hinüber in ein anderes Zimmer und zeigt mir alte Stereoanlagen aus den Siebziger Jahren, die er voller Hingabe restauriert. Eine ITT-Anlage ist gebrauchsfertig.
Toto hört fast nur Musik, die vor 1980 entstanden ist. Ich erzähle ihm, daß ich in meiner Kindheit das Stück "Hymn" von Barclay James Harvest mochte. Er sucht die Platte heraus und macht es an.
"Das habe ich immer gehört, als ich verliebt war", sagt Toto.
"Das erste Mal war ich verliebt mit zwanzig", erzähle ich, "in meinen Friseur. Aber der war schwul; daraus wäre eh nichts geworden."
Toto wundert sich darüber, daß wir Pink Floyd, das Alan Parsons Project und die Sex Pistols in der Schule durchgenommen haben.
Zur Zeit bastelt Toto an zwei Boxen herum. Er meint, er werde es so lange versuchen, bis er schafft, was er sich vorgenommen hat. Das kann ich nachempfinden.
Im Zimmer steht ein Moped aus den Fünfziger Jahren. Toto sammelt auch solche Mopeds und restauriert sie, so daß sie aussehen wie früher. Er geht mit mir in die Garage; das ist ein großer Schuppen dicht bei der Haustür, altertümlich wie eine Scheuer. In diesem Schuppen stehen noch viel mehr Mopeds, alle restauriert und farbenfroh. Das Auto hat eben noch Platz. Unter der Garagendecke läuft eine Schnur mit Halogenlämpchen ringsherum.
"Wer hat eigentlich die Halogenlämpchen da installiert?" möchte ich wissen.
"Mein Bruder und ich", ist die Antwort. "Die beleuchten auch die Bilder meiner Mutter."
In der Garage hängen mehrere dieser bunten Aquarelle. Und ein bunter Teppichboden ist ausgelegt, eine günstige Ware, mit Musikinstrumenten bedruckt.
"Mein Aussehen ist so verwüstet", klage ich, als wir wieder die Treppe hinaufgehen. "Ich habe so eine Grippe, so eine furchtbare."
"Davon habe ich nichts gemerkt", tröstet Toto.
Saara steht in Rafas Musikzimmer. Rafa hat ihr seine Schirmmütze aufgesetzt und sprüht ihr eine Ponysträhne so zurecht, wie er es selbst immer trägt. Ich schaue zu. Dann geht Saara ins Schlafzimmer zurück. Rafa fragt mich:
"Und? Wie fandest du die Fossilien?"
"Oh, fand ich echt ganz interessant. Schön anzusehen."
"Hat er dir auch die ganz großen gezeigt, die so dreißig Zentimeter groß sind?"
"Nein. Er hat gesagt, die hätte er verkauft."
"Ach, der hatte da noch so ein paar ... Hast du seine Anlage gesehen, die er da unten hat, die Boxen und das alles?"
"Ja. Der hat mir auch seine Mopeds gezeigt."
"Und?" schnappt Rafa. "Ist er handgreiflich geworden?"
"Nein, der doch nicht. Der ist doch ganz brav und artig."
"Ja."
"Wieso sollte der dann handgreiflich werden?"
Rafa antwortet darauf nicht. Wir setzen uns wieder an den Tisch. Rafa fragt mich:
"Hetty - was hast du eigentlich für Hobbies?"
"Mehrere."
"Fossilien - ich finde, das ist echt - voll das coole Hobby."
Rafa ist sehr beeindruckt davon, daß Toto furchtbar lange und breite Gänge gegraben hat, um seine Fossilien zu finden. Rafa meint, daß es nichts Besonderes sei, Fossilien zu kaufen; selbst finden müsse man sie, das sei wirklich etwas Besonderes.
"Die Hobbies, die ich habe, sind für mich eigentlich mehr als Hobbies", erkläre ich. "Einmal das Tanzen ..."
"Ja, sie ist unsere Sportsfrau", meint Rafa. "Raucht nicht ... trinkt nicht ..."
Er schlägt vor, Blackhouse anzumachen.
"Mach' ruhig an", sage ich, "aber ich tanze dazu jetzt sowieso nicht. Hier ist kein Platz."
Rafa läßt die Kassette weiterlaufen. "08.15 to nowhere" kommt.
"Dieses Stück ist geil", schwärme ich.
"Wie heißt das?" fragt Toto.
"Das ist '08.15 to nowhere' von Vicious Pink. Das ist schon ganz alt; das ist von '81."
"Das ist doch nicht alt!"
"Das hat echt Kultstatus in der Szene; es läuft im 'Elizium', es läuft im 'Exil' ..."
"Ja, aber nur, wenn Rafa auflegt!" ergänzt Rafa.
"Macro würde das auch spielen", bin ich sicher.
"Ach, der spielt das auch."
"Ja, wenn man's ihm sagt ..."
Ich komme wieder auf die Hobbies zu sprechen und erwähne, daß ich sehr gerne und viel schreibe. "An wen schreibst du?" möchte Toto wissen.
"Das sind nicht in erster Linie Briefe."
"Schreibst du Tagebuch?"
"Auch, aber das ist nicht das Eigentliche. Ich schreibe kreativ. Ich mache es auch schon wirklich sehr lange, und ich schreibe von Jahr zu Jahr mehr. Und dazu brauche ich nämlich den Computer. Ohne den wäre ich aufgeschmissen."
Daß Toto an Rafas Geburtstagsfeier teilnimmt, scheint nicht selbstverständlich zu sein.
"Ich freue mich darüber, daß du dich doch noch eine Weile dazugesetzt hast", bedankt sich Rafa bei seinem Bruder.
Toto gibt kleine Geschichten zum Besten, die er mit Rafa erlebt hat, als beide noch Kinder waren. Einmal hat Toto einen Teppich aus Silvesterknallern gezündet, und Rafa hat sich dabei den Rücken verbrannt. Weil Rafa "gepetzt" hat, hat der Vater es erfahren, und er hat Toto mit dem Rohrstock verprügelt. Ich bemerke, daß ich solche Erziehungsmethoden zweifelhaft finde. Diesen Einwand scheinen Toto und Rafa aber nicht aufzunehmen. Es ist auch nicht leicht, in der Runde über Geschichten aus der Vergangenheit zu sprechen, weil Lara und Harriet dazwischenreden.
"Hetty!" ruft mich Rafa. "Hast du eine Hologramm-Uhr?"
"Nein, aber komm', ich zeige sie dir mal. Du kannst sie sehen; ich habe deine ja auch gesehen."
Ich binde meine Uhr ab und reiche sie ihm.
"Ach, das ist doch keine Hologramm-Uhr", stellt er fest. "Das hat nur so geschimmert."
Er sieht den Spruch auf dem Zifferblatt und fragt:
"Was steht denn da?"
"'Fugit tempus irreparabile'."
"So, jetzt brauchst du mir bloß noch zu sagen, daß das lateinisch ist."
"Ja, das ist lateinisch."
"Und was heißt das?"
"'Die Zeit geht ohne Wiederkehr'."
"Ist das ein blöder Spruch ... wenn ich den auf meiner Uhr hätte, dann würde ich verrückt werden. Dann würde ich mich ganz verrückt machen."
"Für mich ist das eine wichtige Mahnung."
"Die Zeit ist der beste Freund", meint Rafa. "Die mahnt nur immer wie ein guter Kumpel:
'Nutz' mich, nutz' mich ...'"
"Genau das sagt die Uhr ja auch."
"Ja, aber die Version von dem Spruch gefällt mir nicht."
Er gibt mir die Uhr zurück und sagt:
"Jetzt zeige ich dir mal meine Hologramm-Uhren."
Er holt ein hölzernes Kästchen und öffnet es. Dann nimmt er eine Uhr heraus und zeigt sie Toto, der neben ihm sitzt.
"Hier, guck' mal, die ist noch von Vater", sagt Rafa leise.
Ich strecke meine Hand nach der Uhr aus. Da legt Rafa sie sogleich in das Kästchen zurück. Er sucht eine andere hervor und gibt mir die. Das Deckglas trägt ein Hologramm - ein Auge. Rafa gibt mir noch ein anderes Deckglas mit Hologramm, das eine Weltkugel zeigt.
"Das ist echt viel wert", sagt er. "Na, wer weiß, ob das was wert ist, aber es hat fünfzig Mark gekostet. Findest du das nicht toll?"
"Ja, doch."
Rafa gibt das Deckglas herum.
Saara bittet Rafa, für sie eine Kassette einzulegen, auf der ein Radio-Interview von Ace mit Stigmata zu hören ist. Rafa liest die Aufschrift und sagt:
"Wenn da wirklich drauf ist, was da steht, spiele ich die nicht. Das habe ich am Sonntag schon gehört."
Alles Bitten hilft nichts. Rafa scheint Kappa in gewisser Weise als Konkurrenz zu erleben. Es nagt wohl an ihm, bisher noch nicht selbst im Radio interviewt worden zu sein. Kappa wurde von Ace vorgezogen.
"Das W.E-Special kommt in ... ungefähr vier Wochen", kündigt Rafa stolz an.
"Na klar, wenn sie den einen im Radio bringen, müssen sie den anderen auch bringen", vermute ich.
Rafa fängt sofort an zu prahlen: wenn Kappa zehn von seinen CD's verkaufe, dann verkaufe er, Rafa, bestimmt hundert ...
"Ja, hier haben wir einen echten Star", bemerke ich und zeige auf Rafa.
Anwar möchte wissen, ob ein bestimmtes Stück von Rafa oder von Kappa abgekupfert worden sei. Rafa erklärt, dieses Stück habe Kappa von ihm abgekupfert.
"Als ich den Spruch von Kappa gehört habe ...", sagt er ärgerlich.
"Was war das für ein Spruch?" wollen Lara und Harriet wissen.
Ich erzähle es ihnen auf meine Weise:
"Ach, da hat Kappa gesagt, er hat da noch so eine Menge Geklimpere 'rumliegen, und das würde unter anderem wie W.E klingen ..."
Rafa hat ein Thermometer auf dem Tisch stehen. Es ist ein hohes Wasserglas, in dem durchsichtige bunte Kugeln schwimmen. Die Kugeln sind beschriftet mit Temperaturangaben, beispielsweise "24°". Wenn es 24 Grad warm wird, steigt die Kugel mit der entsprechenden Aufschrift hoch bis zur Wasseroberfläche. Es ist schön warm im Zimmer, nicht so ungemütlich wie bei meinem letzten Besuch. Als die "24°"-Kugel aufsteigt, öffnet Lara auf Rafas Geheiß das Fenster.
"Es weht hier ein sehr starker Wind", sage ich nach ein paar Minuten. "Könnten wir das Fenster wieder zumachen?"
"Warum?" fragt Rafa.
"Weil ich Erkältung habe. Da ist das nicht so gut."
"Meine Mutter sagt immer:
'Was einen nicht umbringt, macht einen nur noch härter.'"
Rafa macht das Fenster im Musikzimmer zu.
Toto gibt einen provokanten Spruch von sich, den ich an mir abprallen lasse und der mir deshalb auch nicht im Gedächtnis bleibt.
"Mensch, du läßt dich ja gar nicht schocken", bemerkt Toto. "Ich wollte dich eben schocken."
"Ich habe das jetzt nicht verstanden, womit du mich schocken wolltest."
"Ehrlich nicht?"
"Nein."
Rafa fragt in die Runde, ob jemand Kaffee möchte. Ich möchte welchen.
"Kaffee und Milch, ist alles da unten", sagt Rafa.
Es steht vor dem Nachttisch auf dem Fußboden, gleich neben mir. Ich soll mir die "Laibach"-Tasse oder die "Rafa"-Tasse aus dem Nachttisch nehmen. Ich stelle die "Laibach"-Tasse auf den Tisch. Rafa sagt stolz:
"Das ist meine 'Laibach'-Tasse."
"Ja, ich weiß."
Die Kanne hat einen besonderen Mechanismus, den ich nicht gleich durchschaue.
"Ja, halt mal, halt mal, komm' - jetzt drehst du den Deckel erstmal wieder drauf", maßregelt mich Rafa. "So - jetzt bleibt der Deckel zu, und hier drückst du jetzt, und jetzt kannst du gießen."
Die Platte mit den belegten Brötchen steht jetzt auf dem Bett. Zum Kaffee nehme ich mir noch ein Lachsbrötchen.
Wir unterhalten uns über Vornamen.
"'Laura', den Namen finde ich auch hübsch", meint Rafa.
"Ich weiß; du stehst auf Laura", sage ich bissig.
"Was heißt, ich steh' auf Laura?" entrüstet sich Rafa. "Das heißt doch nicht, daß ich auf die stehe. Ich sage doch nur, ich finde den Namen hübsch. Na ja, die sieht halt ganz gut aus, aber daß ich mit der gleich was haben soll ... also ... also ..."
"Es gibt viele Frauen die gut aussehen", wendet Toto sich an mich. "Du siehst auch gut aus."
"Das weiß ich", entgegne ich mit einem freundlichen Lächeln.
Wenig später zieht Toto sich zurück, so leise, daß ich es gar nicht mitbekomme. Toto hat mir erzählt, daß er am Morgen früh aufstehen muß.
Rafa legt eine Kassette mit Schlagermusik ein. Ich bitte Lara leise, das Fenster zu schließen, und sie tut es. Rafa sagt nichts dagegen. Er setzt sich neben mich, auf Totos Platz. "My Bonnie is over the Ocean" erklingt.
"Das mußten wir in der fünften Klasse immer singen", stöhne ich. "Das war fürchterlich - fünf Wochen lang jeden Tag 'My Bonnie' ..."
"Ach, du kannst das auswendig?" fragt Rafa.
"Ja."
"Dann sing' mal mit", fordert er mich auf.
"Nein."
"Nun los, nun sing' mit!"
"Ach, das habe ich schon zu oft gesungen. Das singe ich nicht mehr."
Lara will Rafa den Gefallen tun, den ich ihm verweigere. Sie beginnt zaghaft mit der ersten Zeile, bleibt dann allerdings stecken, als Rafa nicht hinhört. Rafa ist schon mit dem nächsten Lied beschäftigt; er singt "Hoch auf dem gelben Wagen".
"Ah, das haben wir damals in der Schule gesungen", erzähle ich.
"Was, du kennst das?" fragt Rafa.
"Na, sicher."
"Ach, das kam nach 'My bonnie is over the ocean'?"
"Nein, das haben wir davor gesungen. Das haben wir in der Grundschule gesungen, in der dritten oder vierten Klasse."
"Wie heißt die dritte Strophe von 'Hoch auf dem gelben Wagen'?" fragt Rafa mich ab. "Da kommt doch, wie der Tod sich irgendwie dazusetzt ..."
"Na, das fängt halt so an ... 'sitz' ich beim Schwager vorn ...'"
"He! Mich interessiert nur die dritte Strophe!"
"Da bin ich jetzt wirklich überfragt."
"Ich denk', du hast so ein autistisches Gedächtnis?"
"Nein. Ich habe kein autistisches Gedächtnis, und ich habe auch kein fotografisches Gedächtnis. Ich kann mir nicht alles merken, nur bestimmte Dinge, die mir besonders wichtig sind."
"Und das nicht? Das ist doch lebenswichtig!"
"Nein, für mich ist das weniger wichtig."
Mir fällt eine Frage ein, die ich Rafa schon seit Längerem stellen möchte:
"Ist die von dir, diese völlig geile Coverversion von 'Gothic Erotic'?"
"'türlich."
"Die ist sowas von geil", schwärme ich. "Die möchte ich unbedingt haben. Die will ich echt mal echt haben."
"Das wollen andere auch."
"Am besten finde ich diese Zeile mit 'Bier und Alkohol'."
"Nee, es heißt: 'Bring' mir Bier oder Alkohol!' Das ist ja das Entscheidende - 'Bier oder Alkohol' - als wenn Bier gar kein Akohol wäre."
"Das finde ich ja gerade so geil."
"Nee, noch viel geiler finde ich die Zeile: 'Koch' mal was Vernünftiges!'"
"Nee, ich finde die Zeile besser, 'Bring' mir Bier oder Alkohol!'. Da habe ich einfach mehr gelacht. Da habe ich noch mehr gelacht."
Lara und ich unterhalten uns darüber, was Rafa immer so schluckt.
"Ach, der kann doch einiges vertragen!" meine ich.
"Mischt immer!" sagt Lara.
"Ja, Bier und Alkohol. Er mischt Bier mit Alkohol."
"Ich trink' nicht viel", behauptet Rafa.
"Ja, ja - wenn Rafa trinkt, dann -", sage ich und hebe den Arm, um den Pegel anzuzeigen.
"Echt, Mensch - warum trinkst du nichts?" fragt Rafa, als könnte er es nicht fassen.
"Wieso, ist doch nur noch Bier da", erkläre ich. "Ich mag doch kein Bier."
"Ah, dann mischst du es dir mit Cola."
"Nein, ich trinke kein Bier. Ich mag es nicht. Es schmeckt mir nicht."
Rafa leert alle Bierflaschen aus, bevor sie in den Kasten zurückkommen. Er meint, der Kasten würde wohl noch eine Weile in seinem Zimmer stehenbleiben.
"So, jetzt komm' - jetzt nimm' dir auch mal was zum Anstoßen", fordert Rafa mich auf.
Ich hebe die Kaffeetasse hoch.
"Ist das Fanta Grapefruit?" fragt Rafa tadelnd. "Ist das Fanta Grapefruit?"
"Nein", erwidere ich ruhig. "Das ist Kaffee."
"Und mit Kaffee stoßen wir an", seufzt Rafa.
Weil ich nicht nachgebe, gibt er nach. Er läßt sein Bierglas gegen meine Kaffeetasse klirren.
Als Rafa noch einmal betont, wie gut ihm seine neue Frisur gefällt, meint Anwar, die sei ihm "zu schwuchtelig". Rafa findet sie aber schön, so wie sie ist.
"Ich finde die Frisur süß", unterstütze ich Rafa. "Sie erinnert mich auch sehr an meine Frisur."
"Na ja, der Schnitt ist vielleicht ein bißchen so, aber das ist ganz anders gestylt. Kein Pony ..."
Er fährt sich durchs Haar.
"Ich finde das richtig schön jetzt, so kurz", sagt er.
"Na ja, sie wachsen ja wieder."
"Ja, sicher, die wachsen wieder. Ich habe sie kurz geschnitten, damit sie wieder wachsen."
"Dann kann ja auch wieder ein Pferdeschwanz 'rein", freue ich mich. "Ich finde, daß dir ein Pferdeschwanz gut steht."
"Mir steht alles", sagt Rafa.
Ich stelle fest, daß seine Hose viele kleine Löcher hat; wahrscheinlich ist sie verschlissen vom häufigen Tragen.
"Sag' mal, kannst du eigentlich stopfen?" frage ich ihn.
"Ja."
"Dann müßtest du deine Hose mal stopfen."
"Ach, die Löcher machen mir nichts", meint Rafa. "Ich habe noch zwei andere."
"Warum trägst du dann immer noch die kaputte?"
"Na ja, weil die eben schön ist und schick."
"Ja, aber wenn die so schön ist und schick, dann würde ich sie doch an deiner Stelle auch pflegen."
"Nein, nein. Wenn ich jetzt nur eine hätte, dann würde ich sie stopfen. Aber ich habe ja drei davon."
"So, so ... ich war jetzt schon versucht, einen giftigen Spruch zu machen, aber ich lasse es sein. Ich mache keinen giftigen Spruch."
"Ich bin ganz heiß darauf, daß jemand zu mir sagt, daß ich die Hose stopfen soll", meint Rafa. "Dann kann ich denjenigen nämlich kalt abfahren lassen."
"Ach so, wenn du ganz heiß ankommst, kann ich dich kalt abfahren lassen."
"Wieso, ich habe doch nur gesagt, ich bin ganz heiß darauf, daß jemand ankommt und zu mir sagt, ich soll meine Hose stopfen."
"Ah ja, und den willst du dann kalt abfahren lassen ..."
"Hetty, machst du mir nochmal Kaffee", bittet Rafa, "ähm - gibst du mir nochmal - du weißt, was ich meine. Kannst du mir nochmal eine Tasse geben? Die 'Rafa'-Tasse, die etwas größere."
Ich reiche ihm die Tasse und die Kanne, und ich frage ihn:
"Trinkst du schwarz oder mit Milch?"
"Nur mit Zucker."
Als ich noch einmal zur Toilertte will, sage ich zu Rafa:
"Dein Bruder hat mich autorisiert, hier oben zu gehen."
"Hiermit ziehe ich die Autorisierung zurück. Bitte, geh' unten ... ja, komm'."
Als ich wieder oben bin, empfängt mich Rafa mit den Worten:
"Hetty! Wir lästern gerade über dich. Wir rätseln gerade, was du alles in dieser Tasche hast."
"Was du alles da drin mit dir 'rumschleppst", setzt Anwar hinzu.
"Na ja, Spray ... Schminkzeug ...", gebe ich Auskunft.
"Und warum du immer die ganze Tasche mitnimmst, wenn du aufs Klo gehst", fügt Anwar hinzu.
"Das hat Rafa mich auch schon gefragt", seufze ich.
"Hast du die Regel?" kommt es frech von Rafa.
"Ra-fa", ermahne ich ihn.
"Hetty!" ruft er, als ich mich setze. "Wir machen gerade ein Spielchen. Weißt du noch mehr Ausdrücke für 'f...en'?"
"Rafa, du weißt, wie furchtbar ich dieses Wort finde."
"He, sag' doch mal. Wir haben schon 'bumsen' ..."
Er zählt eine Reihe von Wörtern auf. Ich weigere mich, bei dem Spielchen mitzumachen.
"'F...en' ist ein abscheuliches Wort", sage ich angewidert.
"Ah, da habe ich wohl gerade einen wunden Punkt getroffen", freut sich Rafa.
"Ich finde das Wort ekelhaft."
"Warum magst du das Wort nicht?"
"Das ist doch ein ganz häßliches, unschönes Wort."
"'F...en' ist geil", sagt Rafa grinsend.
"Oh Gott, wie ordinär."
"Was ist daran ordinär? So sind wir schließlich alle mal entstanden."
"Aber man muß das doch nicht so nennen."
"Was findst du besser?" fragt Rafa. "Sag', was findst du besser?"
"'Miteinander schlafen', das klingt doch ganz anders."
"'Miteinander schlafen', das ist was für Spießer", meint Rafa abfällig. "Was heißt 'miteinander schlafen'? Mit Harriet habe ich auch schon geschlafen. Ich habe geschnarcht, und sie lag wach. Da habe ich auch mit ihr geschlafen."
Offenbar hatte Rafa mit Harriet ausnahmsweise keinen Verkehr. Das genügt mir aber nicht. Ich möchte, daß Rafa überhaupt nicht mehr mit anderen Mädchen im Bett liegt.
Rafa schaut mich an und bemerkt:
"Echt, das ist das erste Mal, daß ich dich in einem Kleid sehe, das nicht schwarz ist."
"Ich habe noch mehr Sachen in Grau."
"Das ist nicht grau, das ist Silber!" verbessert mich Lara.
Ich zucke mit den Achseln und sage:
"Na gut, Silber."
"Das paßt zu deinem Lippenstift", meint Anwar.
"Ja."
Rafas Bein legt sich wie zufällig an meines. Ich wünsche mir sehr, das Bein streicheln zu können, und ich weiß doch, daß es jetzt nicht geht, vor den Augen hungriger Mädchen, wie Lara eines ist. Ich haue dem Rafa nur mit den Fingerspitzen aufs Bein und sage:
"So - jetzt erzähle ich zum Ausgleich mal einen versauten Witz. Der ist aber so doof, da lacht ihr bestimmt nicht drüber."
Ich erzähle den Witz mit der Palme und dem Taifun. Rafa lacht wirklich nicht über diesen Witz, aber er lacht über einen anderen, den ich erzähle:
"Was hat vier Beine und einen Arm? - Ein Pitbull im Kindergarten."
Rafa erzählt einen Witz von einem Busfahrer, dem eine Omi jeden Tag eine Tüte mit Nüssen schenkt. Als er sie eines Tages fragt, weshalb sie ihm diese Nüsse immer bringt, antwortet sie:
"Die Nüsse in 'Ferrero Rocher' kann ich nicht beißen. Ich lutsche 'Ferrero Rocher' immer nur."
Ich vermute zuerst, daß es ein schmutziger Witz ist, und ich sage zu Rafa, ich hätte den Witz nicht verstanden. Er erzählt ihn mir noch einmal ganz langsam und genau, und ich erkenne, daß es nur ein harmloser Witz ist, und sage:
"Ach so, jetzt verstehe ich - sie hat die Nüsse dann genommen, die sie nicht gekaut hat, und hat sie gesammelt."
"Ja! Bravo!" ruft er. "Bravo, verstanden! So - also, was ist in 'Ferrero-Küßchen' drin?"
"Eine Haselnuß."
"Was ist denn in 'Raffaello' drin?"
"Auch Nüsse."
"Du hast ja keine Ahnung! Da ist eine Mandel drin!"
"Ach ... sowas weiß ich doch nicht."
"In 'Ferrero-Küßchen' sind Haselnüsse drin. In 'Ferrero Rocher' sind - Königsnüsse drin."
"In 'Mon Cherie' sind Kirschen drin", weiß Lara.
"Und in 'Raffaello' sind Haselnüsse, und in 'Ferrero Rocher' sind Kirschen", wirft Rafa alles durcheinander.
Lara fragt mich nach einem Jingle aus der Fernsehwerbung.
"Fernsehwerbung kenne ich nicht", antworte ich. "Ich nehme die Filme immer nur auf Video auf und spule vor, wenn die Werbung kommt."
"Fernsehwerbung ist wichtig!" belehrt mich Rafa. "Fernsehwerbung ist das A und O!"
"Aber du singst doch 'Finger weg von der Fernsehwerbung'."
"Das heißt 'Finger weg von der Fernbedienung'!" verbessert Lara mich eifrig.
"Das weiß ich doch", raune ich zu ihr hinüber. "Ich will ihn doch bloß vera...en."
"Nein - 'Finger weg von der Fernbedienung!' heißt, daß man sich die Werbung ansehen soll", erklärt Rafa. "Die ist wichtig!"
Rafa merkt wohl, daß ich weder ausgelassen noch fröhlich bin, und wahrscheinlich merkt er auch, woran es liegt - an ihm, der sich nicht zu mir bekennen kann und immer wieder zu anderen Frauen flüchtet. Rafa möchte mich lockern und aufheitern, vielleicht weil er sich schuldig fühlt.
"Lach' mal!" ruft er mir zu. "Hetty! Lach' mal!"
"Nein", antworte ich.
Ich friere.
"Zieh' dir doch eine von meinen Jacken an", schlägt Rafa vor. "Zieh' dir doch mal die mit den Schnallen an. - Ach, nee, wenn du die vom Haken nimmst, dann fällt gleich der Haken 'raus. Nimm' mal die, die über dir hängt."
Ich nehme die Jacke vom Scharnier und hänge sie mir um die Schultern. Es ist eine schwarze Jacke mit Metallknöpfen, gemacht aus einem festen Stoff. Ich ziehe sie lieber an als die mit den Schnallen, weil die Sängerin Tessa die Schnallenjacke schon angehabt hat.
"Hetty!" ruft Rafa. "Jetzt erzähl' doch einfach mal ... Sch... Ich möcht' jetzt gerne einfach mal ... Sch... labern."
Ich schweige abwartend. Rafa springt um auf die Idee, ein Spielchen zu spielen. Er sagt zu Anwar: "Los, wir dimmen das Licht ab, zünden eine Kerze an und erzählen in Fünf-Minuten-Intervallen ..."
Anwar und Rafa unterhalten sich über dieses Spielchen, das aber nicht gespielt wird. Als sie mit ihrer Besprechung fertig sind, erzähle ich einen Anti-Witz:
"Zwei Männer gehen durch den Wald. Sagt der eine: 'Guck' mal, ein Pilz.' Sagt der Pilz: 'Na, und?'"
Jetzt ist es vor allem Lara, die lacht.
Rafa hat einen Einfall:
"Hetty! Du bist doch immer der Entertainer. Warum machst du nicht mal eine Fernsehshow, 'Lach' mal mit Hetty'? Vielleicht auf SAT.1 um 20.15? Das wäre doch voll der Renner. Da könntest du doch voll was verdienen."
"Du kannst ja mein Manager werden."
"Nö. Ich will keine Million verdienen."
Vielleicht kam Rafa der Einfall mit der Show deshalb, weil er befürchtet, daß ich ihm hier auf seinem eigenen Terrain die Show stehle. Daß ich die Aufmerksamkeit anderer durch lose, freche Sprüchlein auf mich lenken und die Leute unterhalten kann, hat mir Rafa erst eben jetzt bewußt gemacht. Und er hat mir vor Augen geführt, welche Rolle ich in einer Gruppe einnehme, wenn die Atmosphäre solche Albernheiten zuläßt.
Rafa und ich sind uns in dieser Hinsicht sehr ähnlich ... es ist eine weitere verbindende Gemeinsamkeit, wenngleich Rafa das gegenwärtig eher als Konkurrenz auffassen mag.
Rafa macht den Vorschlag, eine Nachtwanderung zu unternehmen.
"Kannst du laufen?" fragt er mich. "Ich meine - in den Schuhen?"
"Ja, wohl schon."
Alles erhebt sich.
"Jetzt habt bitte noch etwas Geduld mit mir", bremse ich. "Ich möchte nämlich nochmal kurz verschwinden. Rafa weiß, wie lange ich brauche."
"O.k.", sagt Rafa. "Dann setzen wir uns jetzt alle erstmal wieder hin."
"Jawoll", freue ich mich. "Du weißt ja, wie lange ich immer brauche."
Als ich zurückkomme, creme ich mir die Hände ein.
"Ohh - immer dieses Eincremen!" regt Rafa sich auf, der dicht neben mir steht und es beobachtet. "Warum cremst du dich dauernd ein?"
"Tja ... nach fünf Jahren Arbeit im Krankenhaus ist die Haut kaputt. Die muß ich jetzt immer eincremen, nach jedem Kontakt mit Wasser."
"Los, Rafa!" rufen Lara und Harriet. "Jetzt bist du dran! Jetzt mußt du dich eincremen!"
Im Videoregal entdecke ich "Der Fan" mit Desirée Nosbusch.
"Hier, die wolltest du mir doch aufnehmen", erinnere ich Rafa.
"Ich habe keine zwei Videorecorder", entgegnet er. "Zur Zeit kann ich das nicht."
Rafa zieht seine Jacke über. Lara und Harriet plaudern über schlüpfrige Themen und bemerken:
"Wir sind ja unter Frauen; wir können uns ja ruhig alles sagen."
"Ich bin auch eine Frau", erklärt Rafa.
"Ja, ja", sage ich, "alles klar und so, ne? Du hast ja auch ein Kleid ... aber dann rasier' dich mal, damit man dir's glaubt."
"Hast du Haare auf der Brust?" fragt mich Rafa.
"Nein."
"Ich hab' keine Haare auf der Brust."
"Erzähl' nicht ... ich weiß es besser", sage ich sehr leise.
Rafa steht dicht neben mir und hat mir den Rücken zugekehrt. Saara und Anwar klimpern auf einem Keyboard herum, das glatte, analoge Klänge von sich gibt. Es sind solche Klänge, wie Rafa sie gern in seinen Stücken verwendet; ich empfinde sie als kindlich, kitschig und künstlich.
"Oh, das klingt ja scheußlich", stöhne ich.
"He! Mach' dich nicht unbeliebt!" warnt Rafa. "Kannst ja auch wieder 'runtergehen und dir Fossilien angucken."
Ich haue meinen Arm gegen seinen Rücken und raune ihm zu:
"Ja, du alter Eifersüchtiger!"
Kichernd entferne ich mich ein Stück. Ich höre noch, wie Rafa anfängt, Lara und Harriet sein Leid zu klagen:
"Echt, ich bin tausend Tode gestorben!"
Anscheinend war es für Rafa kaum auszuhalten, daß ich allein mit seinem Bruder nach unten in dessen Wohnung gegangen bin.
Die Lichter in seinem Zimmer löscht Rafa bei unserem Aufbruch nicht; alles leuchtet wie eine Schaufensterdekoration. Als er die Wohnungstür schließt, predigt er zu seinen Schäfchen:
"Ich halte nichts von so Sprüchen, 'Ich liebe dich' und 'Ich mag dich' und so. Für mich zählen immer nur die Taten."
"Ja, wenn dir jemand die Bierkisten 'runterbringt", deute ich zynisch, "das ist Liebe. Und wenn dir jemand die Post hochträgt, das ist Liebe, ne?"
"Und wenn mir jemand die Stiefel putzt", fügt Rafa hinzu, nicht weniger zynisch.
"Ja, und wenn er sie ableckt", spinne ich den Faden weiter.
"Ja!" bestätigt Rafa. "Ableckt!"
"Ja, das ist Liebe!"
Es scheint mir, als wenn Rafa begriffen hat, daß Unterwürfigkeit und Liebe nicht dasselbe sind.
Langsam gehen wir die Straße hinunter. Rafa findet, daß ich den angeschnittenen Schal von meinem Mantel falsch umgelegt habe. Er greift nach dem Schal und sagt:
"So muß das sein. - Nein, so. - Oder, nein - so."
Mit den Wickeleien bringt Rafa mir die Frisur durcheinander. Ich kichere. Vorsichtig lege ich meinen Arm um Rafas Taille, und den zieht er gleich weg mit der leisen Bitte:
"Nicht in'n Arm nehmen."
Es klingt ängstlich - als befürchte er, daß die anderen merken könnten, wie es zwischen ihm und mir knistert.
Rafa legt mir die Schärpe ganz besonders seltsam um den Kopf und meint:
"So ist es richtig."
Anschließend rette ich von meiner Frisur, was zu retten ist.
Wir biegen in eine Wohnstraße ein. Rafa schnappt sich Anwar, Lara und Harriet, und sie machen Klingelstreich.
"So, jetzt müssen wir ganz schnell wegrennen!" ruft er und rennt auch schon, so schnell er kann. Mit seinen Komplizen versteckt Rafa sich dann in einem Vorgarten. Es bleibt aber alles ruhig, und die Übeltäter können wieder auftauchen. Lara und Harriet versuchen, mich zum Mitmachen zu überreden.
"Ich hätte mehr Lust, auf dem Friedhof spazierenzugehen", sage ich.
"Au ja!" kommt es sogleich von Rafa.
Er hat den Einfall, dort ein kleines Feuerwerk zu veranstalten, ein Friedhofsspiel, das er lange nicht mehr gespielt hat. Von Silvester hat er noch Goldregen und Silberregen übrig, und er will mit Anwar umkehren und sie holen. Derweil sollen wir Mädchen schon vorgehen bis zu einem Geschäft, das Lara und Harriet kennen. Als wir angekommen sind, setzen wir uns auf Pflanzkübel und Absperrketten und warten. Ein Polizeiwagen kurvt langsam um uns herum. Vielleicht wirkt man verdächtig, wenn man nachts in einer Kleinstadt draußen sitzt und plaudert.
Rafa kommt mit Anwar heran und ruft uns leise zu:
"Laßt uns mal ganz schnell den Abflug machen! Die kommen nämlich gleich wieder!"
Er scheucht uns um die nächste Ecke, damit wir so rasch wie möglich außer Sichtweite der Polizisten kommen.
"Jetzt können wir wohl nicht mehr auf den Friedhof", vermute ich.
"'türlich können wir auf den Friedhof!" meint Rafa. "Kann uns doch keiner verbieten."
Wir reden über das Klauen von Grabsteinen, und Rafa erzählt, daß er auch mal Grabsteine geklaut hat.
"Aber du hast sie doch vom Abfallhaufen geklaut", merke ich an.
"Ja, klar", bestätigt Rafa. "Ich würde nie von einem frischen Grab den Stein wegnehmen."
"Das weiß ich."
"Da waren meistens auch gar keine Namen drauf. Nur dieser Kindergrabstein, da war einer drauf. Aber da war auch Farbe drauf. Und jetzt sag' mir mal, auf welchem Grabstein ist Farbe drauf? Das war doch bestimmt nur so ein Stein, den haben die vielleicht irgendwie markiert, daß der fehlerhaft ist, und den haben sie dann als Block genommen, um irgendwas draufzulegen oder zu schneiden oder zu hauen. Den haben sie bestimmt nicht verwenden wollen."
Ich lerne SHG. nun wenigstens bei Dunkelheit kennen. Auf dem Weg durch die Straßen des malerischen Städtchens wird viel gesungen, unter anderem "The answer is blowing in the wind". Rafa singt am meisten und am lautesten; er hat auch die kräftigste Stimme. Wenn er eine Zeile vergessen hat, singt er einfach "Weiß ich nicht". Ich singe überhaupt nicht. Rafa scheint mich zum Mitsingen auffordern zu wollen. Er kommt neben mich und zitiert Ministry:
"Jesus built my hotrod."
Dann fragt er mich ab:
"Hetty, weißt du überhaupt, was das heißt, 'Hotrod'?"
"Das ist so eine Art Go-Cart."
"Na ja, eigentlich ... Motorrad."
"Ja, irgendeine amerikanische Rennmaschine ..."
"Endlich mal einer, der sowas weiß!" freut sich Rafa. "Ich habe das selbst erst kürzlich erfahren, was das heißt."
"Wir haben das im Englischunterricht gehabt."
Auf einem kleinen geschotterten Platz ordnet Rafa uns zu einem Kreis; wir sollen uns unterhaken wie beim Eishockey. Rafa nutzt die Gelegenheit, mich unterzuhaken, ohne daß es verfänglich wirkt. Es gelingt mir, ganz zart sein Handgelenk zu streicheln. So habe ich ihn auch gestreichelt, wenn er schlafend neben mir lag. Ich frage mich, wieviel er von solchen Berührungen mitbekommt.
Rafa will ein Mädchen auf die Schultern nehmen. Er wählt Harriet. Er bückt sich, und sie klettert auf ihn. Dann stellt er sich wieder hin und bemerkt über seine Last, die würde ja "nichts" wiegen.
"So, und jetzt kommt die Nummer - das Karussell!" kündigt er schließlich an und beginnt, sich mit Harriet auf den Schultern zu drehen.
Ich plaudere mit Saara und sehe dem Theater nicht weiter zu. Harriet wird schwindelig. Sie steigt wieder ab. Rafa sucht nach seiner Colaflasche, die er jemandem zum Halten gegeben hat. Er wird immer hektischer, als die Flasche nicht mehr auftaucht, und er beginnt, an den Jacken seiner Gäste herumzufuhrwerken. Ich bleibe auch nicht verschont. Rafa klopft mich von oben bis unten ab und wird dabei ziemlich dreist. Es ist eindeutig, daß da, wo er hinfaßt, keine Colaflasche versteckt sein kann.
"Was für ein Alibi", bemerke ich staunend. "Was für ein Alibi."
Als Rafa Saara durchsuchen will, macht sie dem Spiel ein Ende und zieht die Flasche unter ihrer Jacke hervor.
"Mensch, warum trinkst'n nicht?" fragt Rafa und hält mir seine Bierflasche hin. "Trink'! Trink'!"
"Ich mag Bier nicht."
"Ich mag Bier auch nicht", sagt Lara. "Ich mixe mir das mit Cola, damit ich das 'runterkriege."
Rafa bittet mich, ein Spielchen mit ihm zu machen. Ich soll mich nach hinten kippen lassen, und er will mich auffangen.
"Lieber nicht", wehre ich ab.
Lara macht mit. Rafa fängt die schwere Lara erst auf, als sie fast auf der Erde liegt. Lara lobt ihn:
"Sauber."
Ich bin froh, daß ich nicht mitgemacht habe. Rafa wirbt für das Spiel:
"Das ist das absolut tolle Gefühl, so aufgefangen zu werden. Das ist so toll."
Rafa läuft mit der Bierflasche in der Hand auf und ab und singt Trinklieder:
"Ich kann nicht mehr grade gehn ..."
Unser Weg führt durch den Schloßpark, der von efeuberankten Mauern umgeben ist. Wir gehen eine steinerne Treppe hinauf und an tiefen Wassergräben entlang. Dann kommen wir zum Friedhof. Zwischen dem Tor und einem Blumengeschäft gibt es einen Durchlaß, und Rafa rennt auf die Stätte der Seligen, als sei er dort zu Hause.
"Wer ist hier der Chef?" fragt er eilig und gibt Gold- und Silberregen und Bengalfeuer aus.
Lara nimmt die Sachen. Sie geht mit Harriet weiter. Rafa läuft mit Anwar in die Dunkelheit und brennt Gold- und Silberregen ab. Saara und ich kommen nach und finden die anderen versammelt auf einem runden Platz mit einer Weltkriegsgedenkstätte. Rafa hat drei Kerzen mitgebracht, die er anzündet und verteilt.
"Ich habe mich auch schon bei den Toten entschuldigt", sagt er. "Na ja, wieso - die haben das ganze Jahr über Ruhe; da können sie doch einmal ein bißchen Spaß haben."
Wo das Grab seines Vaters ist, erfahre ich nicht. Ich frage auch nicht danach.
"Ist das nicht schön?" schwärmt Rafa. "Wir haben Mondschein ... An meinen neunzehnten Geburtstag waren wir hier auch. Oder war's der achtzehnte? - Ja, es war der achtzehnte."
Rafa winkt mir, ich solle mich neben ihn auf die Bank setzen, und ich tue es. Ich bin im Gegensatz zu ihm recht still. Ich finde seine Albernheit künstlich und aufgesetzt. Ich kann nicht lustig sein und aus mir herausgehen, denn unechte Fröhlichkeit steckt mich nicht an.
Saara findet auf der Bank keinen Platz. Rafa nimmt sie auf den Schoß. Doch er ächzt schon bald, als sei Saara furchtbar schwer. Schließlich faßt er sie bei den Schultern, steht mit ihr auf, dreht sich mit ihr um und setzt sie auf seinen Platz. Er reicht mir eine Wunderkerze, die ich aber nicht nehmen kann, weil ich mich schneuzen muß. Saara bekommt sie.
"Lara, komm' mal mit", fordert Rafa sie auf.
Lara und Rafa verschwinden fast lautlos im Dunkeln. Kurz darauf stürzt Rafa noch einmal aus den Büschen hervor, während er Lara zuruft:
"Bin gleich wieder da!"
Er schnappt sich die Colaflasche, die auf der Bank steht, und taucht wieder unter. Das ist das Letzte, was wir von ihm sehen oder hören. Saara, Anwar und ich warten eine gute Viertelstunde lang auf der Bank und reden über Leichen und Verfall. Harriet spaziert allein über den Totenacker. Ich schaue auf die Uhr; es ist zehn vor fünf. Ich muß spätestens um sechs in einem Zug nach H. sitzen. Ich dränge Anwar, uns den Weg zu Rafas Haus zu zeigen. Dort haben Saara und ich unsere Taschen, und meine Videokassetten liegen da auch noch.
"Wenn Rafa meint, er muß unbedingt Orgien auf dem Friedhof feiern, soll er uns wenigstens vorher seinen Haustürschlüssel geben", sage ich ungehalten.
Ich bin entschlossen, Toto zu wecken.
"Ich will nicht zu spät nach Hause kommen, nur weil Rafa seine Hose nicht zukriegt", werde ich noch wütender. "Wenn es Ärger gibt, hat er die Schuld."
Harriet ist auch recht unmutig, weil bei Rafa noch ihr Schlüssel liegt und weil Rafa ihr versprochen hatte, ihr morgens ein Frühstück ans Bett zu bringen. Anwar ist säuerlich, weil er es bisher noch nicht erlebt hat, daß Rafa ohne ein Wort einfach weggelaufen ist. Saara ist enttäuscht von Rafa, weil er sie erst angefleht hatte, zu kommen, und sich dann gar nicht mehr um seine Gäste kümmerte.
Die Haustür ist angelehnt; wir kommen also wenigstens in den warmen Treppenflur. Doch in die Wohnung kommen wir nicht. Harriet und Anwar gehen heim. Harriet möchte bei Anwar übernachten. Ich klingele erst unten bei Toto, dann bei der Mutter. Es bleibt ruhig, obwohl ich alles andere als ruhig bin und im Treppenhaus auf- und abtobe. Schließlich klingele ich bei Toto Sturm. Als er im Bademantel in der Tür erscheint, entschuldige ich mich sogleich vielmals für die Störung und bitte ihn höflich, mir die obere Wohnung zu öffnen. Er tut das mit einem müden Blick und einem sanften Grinsen. Er wartet geduldig, bis Saara und ich unser Zeug zusammengesucht haben. Er gibt mir auch noch Plastiktüten für die Videokassetten.
"Das ist mal wieder typisch Rafa", schimpfe ich vor mich hin. "Der macht immer so einen Krempel."
Neunzehn von den zwanzig Kassetten finde ich. Saara hilft mir tragen. Auf dem Bahnhof müssen wir nur zwei Minuten warten, dann fährt gleich der Zug. Um zwanzig vor sieben sind wir in H. Leider hat Saara ihre Kassette mit dem Stigmata-Special bei Rafa vergessen.
Durch meinen unfreiwilligen Aufenthalt im Treppenhaus kenne ich dieses inzwischen recht gut. Ein Aquarell neben der Wohnungstür von Rafas Mutter fiel mir deshalb auf, weil ein Notizzettel darangesteckt ist mit Tagebucherinnerungen, passend zum Bild. Es gibt in dem Haus noch einen zweiten und dritten Stock, wo nicht die Dawynes wohnen. Vielleicht gehören diese Wohnungen zwar den Dawynes, sind aber vermietet.
Unter den Filmen, die Rafa sich ausgeliehen hatte, waren "Nosferatu" von Murnau und Herzog, "Draculas Rückkehr", "Tanz der Vampire", "Der kleine Vampir"-Folgen, "Der Hexentöter von Blackmoor", "Der Hexer", "Die seltsame Gräfin", "Das Kabinett des Dr. Caligari", "Miss Marple"-Folgen, "Familiengrab", "Canterville Ghost", "Ekel", "Meuterei auf der Bounty", "Flucht ins 23. Jahrhundert", "Der Mann, der vom Himmel fiel", ein MTV-Special mit den Buggles, Gary Numan und Blondie, ein MTV-Special mit Tears for Fears, "Die Vorstadtkrokodile" und eine Doku über die "Vorstadtkrokodile".
Ich habe mir die "Vorstadtkrokodile" noch einmal angesehen und kann mir denken, weshalb Rafa den Film so sehr mag. Der Film ist gedreht worden, als Rafa selbst ein Kind war. Außerdem spielt er auf einem alten Ziegeleigelände. In SHG. gab es früher auch eine Ziegelei; die Mutter von Rafa hat dort als Sekretärin gearbeitet.

Am Morgen habe ich geträumt, Lara würde laut plärren, weil sie Rafa nicht bekam. Sie wollte sich sogar umbringen.

Janssen ist am Freitag im "Exil" gewesen. Rafa legte auf. Es war kein Mädchen in seiner Nähe, das deutlich als seine Freundin erkennbar gewesen wäre. Janssen unterhielt sich mit Rafa ein wenig über Musik. Rafa war aufgeregt, denn Kappa hatte versprochen, ihm noch einige CD's zu bringen, und Rafa brauchte diese CD's sehr schnell. Viele Leute hatten Wünsche bei ihm angemeldet, und die befanden sich auf den fehlenden CD's. Kappa kam schließlich, blieb aber nicht lange. Rafa erfüllte auch Janssens Wünsche.
Am Samstag waren Constri, Carl und ich in der "Ruine". Ich erkundigte mich bei Rys, weshalb es mit Siri und Sareth nicht lief. Rys erzählte Sachen von Siri, die mich an das Verhalten von Menschen mit emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung erinnerten. Demnach ist Siri wahrscheinlich eine jener Unglücklichen, die sich ihr Beziehungsleben durch Mißtrauen, Argwohn und ängstliches Klammern selbst verderben.
Als ich Rys erzählte, daß Rafa mich als unmenschlich und sadistisch und "eine von den ganz Harten" bezeichnet, schaute er verständnislos an mir herunter. Dann äußerte er die Vermutung, Rafa müsse wohl Angst vor mir haben. Anders kann Rys sich nicht erklären, weshalb man mich unmenschlich und sadistisch finden könnte.
Am Dienstag klingelte morgens um halb fünf das Telefon. Ich war gerade wach, und das Telefon stand vor mir auf dem Bügelbrett.
"Das kann nur ...", dachte ich, schaltete das Licht ein und nahm den Hörer ab.
"Ja?" meldete ich mich.
"Na?" sagte Rafa.
"Na?" grüße ich ihn freundlich. "Wie geht's dir?"
"Ach, ganz gut!"
"Ja ... und?"
"Hast du gerade an mich gedacht?" fragt Rafa.
"Ich denke immer an dich."
"Aber das geht doch gar nicht, daß du immer an mich denkst."
"Doch", versichere ich. "Ich denke immer an dich, bei Tag und bei Nacht."
"Und wieso denkst du immer an mich?"
"Ich liebe dich."
"Mußt du heute arbeiten?"
"Das muß ich nicht."
"Würdest du dich freuen, wenn ich dich besuchen würde?"
"Natürlich."
"Wenn ich so auf die Uhr gucke, dann sehe ich halb fünf ... der erste Zug fährt um sechs ..."
"Das stimmt nicht; der fährt um vier Uhr dreiundzwanzig."
"Von SHG. nach H.?"
"Ja."
"Woher weißt du denn das?"
"Mit dem bin ich doch schon gefahren."
"Was war da eigentlich auf der Party?" fragt Rafa mich aus. "Saara hat mir erzählt, du wärst irgendwie sehr euphorisch gewesen darauf, deine Tasche zu kriegen ... und die Videokassetten."
Vielleicht kennt Rafa die Bedeutung von "euphorisch" nicht und verwendet das Wort deshalb anstelle von "erpicht".
"Ja, was sollte ich denn machen?" frage ich vorwurfsvoll zurück. "Ich mußte ja auch mal nach Hause. Wenn du deine Gäste im Stich läßt ..."
"Was hast du mit meinem Bruder gemacht?" fragt Rafa streng.
"Was ich mit deinem Bruder gemacht habe?"
"Als du da unten warst?"
"Wir haben uns unterhalten", erzähle ich. "Und er hat mir seine Anlage gezeigt, die er restauriert hat, aus den siebziger Jahren, die von ITT ... und er hat mir seine Fossilien gezeigt und die Motorräder ..."
"Und was hast du da gemacht?" verhört mich Rafa. "Hast dir einfach alle Videokassetten mitgenommen und so weiter ..."
"Ja, neunzehn hatte ich ja nur gefunden; eine müßte bei dir noch liegen."
"Ja, ja, die habe ich da irgendwo. - Was war da eigentlich? Du bist da plötzlich so abgehauen? Hat Toto dir aufgemacht?"
"Ja, mußte er ja. Du hast dich ja da in die Büsche geschlagen. Hast du da mit Lara in einem offenen Grab gepennt?"
"Nee, das war zu; das war so eine Grabplatte. Da habe ich die erst so ein bißchen von vorn, und dann wurde es irgendwann ein bißchen kalt unten, und dann haben wir anders weitergemacht ..."
"Durch dein Verhalten legst du Steine zwischen uns."
"Ich lege doch keine Steine zwischen uns."
"Doch, damit wirfst du schon ganz heftig Steine zwischen uns, die da nicht liegen müßten. Du verbaust dir den Weg zu mir. Du verhinderst, daß wir uns nahekommen."
"Wieso?" spielt Rafa den Unschuldigen. "Das war doch gar nichts Großes. Mensch, das ist doch gar nichts Besonderes, wenn ich da mal eben mit einer Frau ... mal so kurz und so ... was ist denn da schon dabei, wenn ich mal eben mit jemandem ... wegen sowas, da ändert sich doch zwischen uns gar nichts."
"Also, daß ich dich liebe, daran ändert sich nichts. Ich liebe dich immer. Aber da kann nie das Vertrauen zwischen uns entstehen."
Bisat schnuppert am Telefonkabel.
"Bisat! Geh' da mal weg!" scheuche ich den Kater. "Bisat, komm', setz' dich da jetzt mal ruhig hin! Los, komm! - So, jetzt sitzt er ... der macht da immer 'rum ... Ich habe mich sehr darüber gefreut, zu deinem Geburtstag kommen zu können. Das war mir sehr, sehr wichtig, zu diesem Geburtstag zu kommen. Ich hatte nur keine Handhabe, und Saara hat mir die Handhabe gegeben, indem sie mich mitgenommen hat. Ich war sehr froh darüber, zu kommen. Nur das Ende, also, das ging ja wohl wirklich nicht, wie du dich da in die Büsche geschlagen hast mit Lara."
"Wieso, was ist dabei, wenn zwei das Gleiche wollen?"
"Es ist verantwortunglos gegenüber deinen Partygästen."
"Ach, das ist mir sch...egal."
"Außerdem weißt du ganz genau, daß ich dich liebe."
"Ich liebe dich nicht."
"Aber ich liebe dich", sage ich unbeirrt. "Das habe ich dir schon Hunderte von Malen gesagt. Du weißt ganz genau, daß du mich verletzt, wenn du dich vor meinen Augen mit einer anderen Frau in die Büsche schlägst."
"Wieso, was ist dabei, wenn zwei das Gleiche wollen? Was ist dabei?"
"Es gibt eben auch noch andere Menschen auf der Welt als diese zwei", sage ich streng. "Wie kannst du die nur vergessen? Wie kannst du nur deine Gäste vergessen und deine Mitmenschen einfach vergessen? Das würde mir nie passieren."
"Das sind die Triebe", erklärt Rafa. "Da kann ich doch nichts dafür, für die Triebe."
"Also, da sollte man doch etwas Selbstbeherrschung haben. Du bist ein erwachsener Mensch; du solltest dich eigentlich beherrschen können. Wenn ich eine Party gebe, dann kümmere ich mich um meine Gäste. "
"Wieso, ich habe mich doch um dich gekümmert", meint Rafa. "Ich habe dir was angeboten ... und dies und das ..."
"Du hast dich gut benommen - bis du dich mit Lara in die Büsche geschlagen hast."
"Tja - wenn du so frigide und zugeknöpft bist ...", wirft Rafa mir vor, der Rafa, der sich von mir nicht einmal umarmen lassen wollte. "Da mußte ich ja mit Lara in die Büsche gehen."
"Also, wenn du schon deine Orgien feiern mußt, dann bitte so, daß ich es nicht mitkriege", verlange ich. "Liebe hin, Liebe her - das Verhalten ist einfach nicht in Ordnung, das du gezeigt hast. Das macht man einfach nicht mit seinen Gästen. Es geht hier auch um Rücksicht, um Mitmenschlichkeit, um Taktgefühl, um Höflichkeit und um Anstand. Es geht nicht, wenn man seine Gäste da einfach sitzen läßt und die nicht nach Hause kommen."
"Ja, wieso? Ihr habt euch doch geholfen."
"Das war mir aber sehr unangenehm, daß ich den Toto 'rausklingeln mußte. Du hättest ja auch warten können, bis die Party vorbei ist und die Leute alle noch zur Tür begleiten und ihnen 'Tschüß' sagen und so weiter, und dann hättest du ja deine Orgien feiern können."
"Kennst du nicht die Situation, wenn einfach alles stimmt?" sucht Rafa Verständnis für sein Verhalten. "Der warme Wind, der zwischen den Beinen hindurchgeht ... und der Mondschein, der auf die bleiche Haut fällt ... und neben dir geht dein absoluter Traumtyp ..."
"Es gibt da aber keine weiteren Traumtypen. Mein Traumtyp bist du und sonst kein anderer."
"Und wenn da einer kommt, der total toll aussieht ..."
"Es gibt viele schmucke Typen. Es gibt viele Typen, die gut aussehen. Aber von denen will ich nichts körperlich. Ich kenne viele schicke junge Typen, aber wenn ich mit denen über den Friedhof gehe, dann unterhalte ich mich mit denen nett, und das war's."
"Ja? Und ... was ist mit Jochen?"
"Iih, der Sockenschuß!" rufe ich. "Dieser widerliche Kerl! Igitt, dieses widerliche Dreckschwein! In den war ich doch nicht mal verliebt! Igittigitt!"
"Und was ist mit ... Markus?"
"Markus? Welcher Markus?"
"Ach, es gibt viele Markusse."
"Ich kenne auch jede Menge Markusse. Es ist aber keiner dabei, für den ich auch nur annähernd körperliche Empfindungen habe."
"Und Carl?" forscht Rafa weiter. "Was ist mit Carl?"
"Das ist mein bester Kumpel. Der ist schwul, und das ist alles rein freundschaftlich. Wir haben überhaupt keine körperliche Nähe miteinander."
Rafa fragt schwärmerisch und lauernd:
"Und was ist, wenn du mit ihm splitterfasernackt unter der Dusche stehst ...?"
"Wir haben nie gemeinsam unter der Dusche gestanden", sorge ich für Klarheit. "Carl, wenn er geduscht hat, hat immer abgeschlossen, und wenn ich geduscht habe, habe ich auch immer abgeschlossen."
"Was - du hast abgeschlossen? Wieso hast du abgeschlossen?"
"Weil das genauso zu meiner Intimsphäre gehört, wie wenn ich auf Toilette gehe."
"Ja, das will doch auch keiner sehen, ne?"
"Ja, und ich will das auch nicht sehen, wenn jemand einfach 'reinplatzt, wenn ich gerade dusche. Ich dusche immer allein; ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, mit Carl gemeinsam unter die Dusche zu gehen. Carl und ich berühren uns noch nicht mal, wenn wir uns begrüßen oder verabschieden."
"Was machst du gerade?"
"Ich bin im Bett."
"Warum bist du noch wach?"
"Ich bin halt gegen vier Uhr von alleine aufgewacht und noch nicht wieder eingeschlafen."
"Hast du gewußt, daß ich dich anrufe?"
"Nein, das wußte ich nicht."
"Aber sonst hast du es immer gewußt, wenn ich dich angerufen habe?"
"Nein, ich habe das nie gewußt vorher."
"Aber du hast mir doch immer gesagt, daß du das vorher träumst."
"Ja, die Zärtlichkeiten, die zwischen uns ablaufen, da habe ich vorher auch Träume gehabt", erzähle ich." Also, da kann ich dir dann zum Beispiel sagen, dann und dann und da habe ich das und das geträumt. Ich habe kürzlich auch geträumt, daß Lara laut geplärrt hätte, weil sie dich nicht gekriegt hat."
"Ja - und was würdest du sagen, wenn ich dir sage, daß ich mit Lara jetzt zusammen bin?"
"Ach - dann darfst du natürlich gar nicht mit mir reden."
"Ah, dann mußt du jetzt auflegen, ne?"
"Ja. Du hättest mich dann auch noch nicht mal anrufen dürfen. Du weißt ganz genau, daß du mich nicht ansprechen darfst, wenn du eine Freundin hast. Du müßtest dich dann erst von Lara trennen, wenn du wieder mit mir reden wolltest. Und du darfst auch dein Geschenk erst haben, wenn du wieder von Lara getrennt bist."
"Nee, ach, Quatsch, ich bin gar nicht mit Lara zusammen", behauptet Rafa. "Ich bin mit jemand anderem zusammen. Hat blonde Haare."
"Ach - Saara?"
"Ach, jetzt habe ich vielleicht doch schon zuviel gesagt."
"Also ist es Saara."
"Was würdest du sagen, wenn ich mit Saara zusammen wäre?"
"Das würde ich dir erstmal gar nicht so richtig glauben, weil die dich gar nicht will. Die will nämlich Kappa."
"Ach! Hat die dir das gesagt?"
"Ja, sie will dich gar nicht. Sie hat zu mir gesagt, sie hätte bei dir mal übernachtet, ohne mit dir zu schlafen. Sie hat da Kappas Nachthemd angehabt und nicht mit dir geschlafen. Und sie hat auch gesagt, daß du sie ziemlich anbaggern würdest."
"Was? Sie hat gesagt, ich hätte sie angebaggert?"
"Ja. Du hättest sie so angebaggert, daß sie dir fast eine 'runtergehauen hätte. Sie hat mir erzählt, du hättest ihr nach dem Hintern gegrapscht."
"Was?" tut Rafa überrascht. "Ich soll ihr nach dem Hintern gefaßt haben?"
"Ja, das hat sie mir so erzählt. Und im 'Elizium' und 'Exil' sollst du ganz dreist gefragt haben, ob sie mit dir schlafen will, und so weiter. Und sie will dich aber gar nicht; sie hat überhaupt kein körperliches Interesse an dir."
"Und wenn ich jetzt sage, ich bin mit ihr zusammen?"
"Ich würde das gar nicht erstmal unbedingt glauben, weil, das paßt überhaupt nicht zu dem, was sie mir erzählt hat. Sie hat erzählt, daß sie Kappa will."
"Nee, nee - ach, Quatsch, ach, Blödsinn; ich bin gar nicht mit Saara zusammen. Ich bin mit jemand anderem zusammen."
"Ja, und wer ist das jetzt?"
"Hat rote Haare."
"Ach!" rufe ich. "Diese widerliche rotgefärbte Dreckschlampe, dieses widerliche, ekelhafte Dreckschwein?"
"He - bist du sicher, daß wir dieselbe meinen?"
"Na ja, wenn du sagst, rote Haare, fällt mir nur eine ein - dieses billige, rotgefärbte Spielzeug, von dem du dich schon neunmal getrennt hast. Diese widerliche Nutte, diese ekelhafte Hure, dieses verdammte Dreckschwein."
"Wir hatten darüber schon mehrere Unterhaltungen, und du weißt genau, daß ich jetzt auflege. Ciao."
Rafa legt den Hörer auf. Nach ungefähr zehn Minuten klingelt das Telefon schon wieder.
"Ja?" melde ich mich.
"Ja, ich bin's nochmal", sagt Rafa. "Du hast mir doch ein Geburtstagsgeschenk versprochen. Wann kriege ich das denn jetzt?"
"Das kriegst du dann, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind - daß du zu mir kommst und daß du kein Verhältnis hast."
"Wer macht diese Bedingungen?"
"Die mache ich."
"Ich mag meine Freundin aber voll gerne, und ich habe die voll lieb."
"Das ist mir völlig egal, was du für deine Freundin empfindest. Für mich ist nur entscheidend, daß du mich nicht besuchen darfst, wenn du eine Freundin hast und daß du auch zu meiner Party nur kommen kannst, wenn du keine Freundin hast. Da müßtest du dann eben vorher mit ihr Schluß machen."
"Wenn ich jetzt kommen würde und das Geschenk abholen würde, dürfte ich das dann?"
"Ja, wenn du vorher bei deiner Freundin anrufst und ihr sagst, daß Schluß ist, dann darfst du herkommen und dir das abholen."
"Was - soll ich einfach meine Freundin anrufen?"
"Ja, sicher. Mich kannst du ja auch nachts anrufen. Da kannst du deine Freundin auch nachts anrufen."
"'türlich kann ich die nachts anrufen. 'türlich."
"Dann rufst du sie halt an und sagst ihr, es ist Schluß, und dann kommst du halt her, und dann kannst du dir das auch abholen", schlage ich vor. "Danach kannst du ja wieder mit ihr zusammengehen. Aber wenn du bei mir bist, dann darfst du das nur, wenn du keine Freundin hast."
"Das ist doch bescheuert - wieso soll ich denn keine Freundin haben dürfen?"
"Es ist eben ganz einfach so - ich dulde keine Frau an deiner Seite außer mir."
"He, du bist aber gar nicht die Frau an meiner Seite."
"Nein, aber ich dulde trotzdem nichts, was du hast, mit Männern oder Frauen oder wer das auch immer ist, mit dem du was hast. Ich dulde überhaupt kein Verhältnis von dir."
"Soll ich mein Geburtstagsgeschenk erst in zehntausend Jahren kriegen, oder was?"
"Nein. Wenn du es haben willst, mußt du dich nur vorher von deiner Freundin trennen."
"Ja, aber ich will mich überhaupt nicht von meiner Freundin trennen."
"Ja, ist egal - du mußt wissen, was dir wichtiger ist."
"Und wenn ich mich nie von meiner Freundin trenne?"
"Du mußt halt wissen, was dir wichtiger ist. Wenn du findest, deine Freundin ist so toll, und du hast die so lieb, dann mußt du halt auf dein Geburtstagsgeschenk verzichten."
"Dann mußt du mich aber wirklich sehr lieben, wenn du dich so über diese Frauengeschichten aufregst."
"Ja, ich liebe dich."
"Mensch, aber wenn du mich liebst, dann müßtest du doch eigentlich wollen, daß ich glücklich bin", folgert Rafa. "Und wenn ich mit meiner jetzigen Freundin glücklich bin?"
"Eben weil ich dich liebe, dulde ich überhaupt keine andere Frau an deiner Seite außer mir", erkläre ich. "Wenn ich dich nicht lieben würde, würde ich auch nicht um dich kämpfen."
"Wenn ich mit meiner Freundin schlafe, ist das so toll ... was ist, wenn ich dir sage, daß ich mit der so tollen Sex habe ... das kann man sich gar nicht vorstellen; das ist so faszinierend ..."
"Wenn du mit einer Nutte schläfst, ist es dasselbe", bin ich sicher. "Du hast doch x Frauen, mit denen du nur schläfst, und du erzählst doch immer das; da ist es doch schon fast egal, mit wem du schläfst; du erzählst das doch immer, daß das faszinierend sei."
"Und wenn ich mit dir schlafen würde, dann, meinst du, würde ich mehr empfinden?"
"Also ... bei dir müssen sehr starke Gefühle für mich sein, was man ja unter anderem auch daran merkt, daß du Angst vor mir hast", deute ich. "Da müssen also schon sehr starke Gefühle für mich sein. Außerdem - du könntest ja nur mit mir schlafen, wenn du um mich sehr gekämpft hast, und etwas, um das man sehr gekämpft hat, das läßt man nicht so einfach wieder fallen. Etwas, um das man sehr gekämpft hat, das erlebt man viel intensiver - jede Berührung ... alles erlebt man viel intensiver. Das weiß man viel mehr zu schätzen."
"Soll ich denn die Gefühle für dich nur haben, weil ich um dich kämpfe?"
"Nein, so ist das nicht - wenn du um mich kämpfst, dann ist das ein Zeichen dafür, daß ich dir viel bedeute."
"Ja - das is' so."
"Siehst du, und das sind diese zwei Dinge - eben einmal, daß ich dir halt viel bedeute, daß du viel für mich empfindest - und einmal, daß du halt um mich kämpfst ..."
"Ach, so! Willst du damit sagen, du liebst mich nur deshalb, weil du um mich kämpfst, und aus keinem anderen Grund?"
"Nein, es ist ja umgekehrt - weil ich dich liebe, kämpfe ich um dich."
"Und was ist, wenn ich jetzt sage, daß ich dich nicht liebe?"
"Ich liebe dich."
"Aus welchem Grund willst du mich lieben?" fragt Rafa wieder einmal.
"Es gibt dafür keine rationale Erklärung", antworte ich. "Liebe kann man nicht herbeizwingen. Die ist eben einfach da, oder sie ist nicht da."
"Du kennst mich doch gar nicht. Welche Grundlage, welche Basis soll das haben?"
"Das ist nichts Rationales; das sind einfach Emotionen. Das weißt du ja, daß Liebe nichts Rationales ist. Sie ist eben einfach da."
"Du kennst mich doch gar nicht. Du kennst ein Promille von mir, und den ganzen Rest kennst du nicht. Ich war vielleicht zweimal bei dir und habe mir die zehn oder zwanzig Videokassetten mitgenommen, die ich mir noch angucken wollte ... du hast überhaupt nichts mitgekriegt von mir ..."
"Wir haben aber sehr viele Gespräche miteinander geführt."
"Ja, wenn du wenigstens mit mir schlafen könntest ..."
"Du mußt halt um mich kämpfen. Ich bin eben keine wie Lara, die sich vor dir auszieht."
Rafa scheint es sehr zu stören, daß er sein Geburtstagsgeschenk nicht so ohne Weiteres bekommen kann. Er löchert mich, um herauszufinden, was ich ihm schenken will.
"Ich denke, du packst gerne Geschenke aus", rufe ich ihm ins Gedächtnis. "Nun ist das zwar nicht verpackt, aber es ist trotzdem eine Überraschung, weil du nicht weißt, was es ist."
"Ich mag überhaupt keine Überraschungen."
"Du hast aber gesagt, daß du Überraschungen gut findest."
"Nein, ich will keine Überraschungen haben. Also ... was ist es?"
"Ich kann nur wiederholen - ich sag's dir nicht. Ich sag's dir nicht."
"Kann ich auch jemand anderen schicken, der das Geschenk für mich abholt?"
"Ausgeschlossen. Das will ich nur dir geben."
"Es ist aber was Materielles?"
"Ja, das ist was Materielles."
"Ach, ist es vielleicht irgendwie so'n AIDS-Test, wo man nicht bezahlen brauch', oder sowas ...?" rät Rafa.
"Nein, das ist nichts Komisches, nichts mit irgendwelchen Anspielungen und so weiter", versichere ich, damit er nichts Falsches von mir denkt. "Das ist was Harmloses. Das ist ein ganz normales Geschenk. Natürlich - es ist hübsch ... Ich habe das letztes Jahr schon besorgt für dich, weil, ich habe das Gefühl, es paßt zu dir, und es ist schön."
"Es paßt zu mir? Was paßt denn zu mir?"
"Ich verrate es dir nicht", bleibe ich hart. "Du brauchst es nicht versuchen."
"Und du hast das da, und wenn ich jetzt käme, könnte ich es mir abholen?"
"Ja."
"Wann könnte ich es mir denn abholen?"
"Sofort. Aber du kriegst es eben nur, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind - nämlich, daß du kommst und keine Freundin hast."
"Und wenn ich jetzt sage, ich hab' keine Freundin - wann kann ich dann kommen und das Geschenk abholen?"
"Sofort."
"Sofort?"
"Ja."
Gegen den Unmut von Rafa bleibe ich bei meinen Bedingungen und auch dabei, daß ich für Rafa die Einzige sein will:
"Es gibt für mich ja auch nur dich."
Da wird Rafa böse:
"Und was war mit dem Kerl, mit dem du dich nur zehn Minuten unterhalten hast, und dann hast du schon zu ihm gesagt, ich liebe dich, und du bist der Einzige für mich?"
"Wer hat das erzählt?" frage ich aufgebracht. "Wer hat diesen Unsinn erzählt?"
"Ja, der Markus."
"Markus? Welcher Markus? Ich kenne so viele Markusse."
"Du weißt genau, wen ich meine."
"Das weiß ich überhaupt nicht."
"Da ist doch dieser Kleine, Dunkelblonde ..."
"Also, ich weiß überhaupt nicht, wen du meinst."
"Der ist DJ ..."
"Ach, DJ Macro im 'Exil'! Der mit den schwarzen Haaren!"
"Ja, Macro."
"So ein Quatsch!" rufe ich außer mir. "So ein Blödsinn! Mit dem habe ich mich unterhalten über Musik und die Aufgaben des DJ's. Und das war auch schon alles. Wie kommt der darauf, ich hätte ihm erzählt, daß ich ihn liebe? So ein Blödsinn! So ein Quatsch!"
"Warum gehst du aber dann immer am Freitag ins 'Exil', wenn Macro auflegt?"
"Ich gehe deshalb hin, weil er gute Arbeit macht. Er spielt so gute Musik, daß ich da kaum von der Tanzfläche 'runterkomme."
"Und ich mach' das nicht so gut?"
"Doch!" versichere ich. "Wenn du gute Laune hast, bist du genauso gut."
"Ach - wenn ich gute Laune hab'?"
"Ja, dann bist du genauso gut. Ich gehe auch deinetwegen freitags ins 'Exil'. Ich komme nicht nur wegen Macro ins 'Exil'."
"Und was ist mit den Aufgaben des DJ's?"
"Das heißt, daß er erstmal die Titel spielt, die die Hits sind und die das Publikum gerne hören will und daß er dazwischen auch ein paar besondere Stücke unterjubelt ..."
"Und was hat der noch für Aufgaben?"
"Na, daß er halt Wünsche erfüllt ..."
"Was für Wünsche?"
"Musikwünsche, die das Publikum hat. Wenn ich mir von Macro 'Save me' von Suicide Commando wünsche, dann spielt der das auch."
"Von mir wünscht du dir nie was!"
"Das hat auch einen Grund", erkläre ich. "Du mußt mich ansprechen. Ich spreche dich ja nicht an."
"Ach, so - und ich soll dann zu dir kommen und fragen, was wünschst du dir?"
"Ja, na - es liegt einfach daran, daß ich nie weiß, wann du irgendwelche Freundinnen hast und so ... und ich spreche dich nicht an, wenn du eine hast, und ich kann das nicht vorher wissen. Und deshalb gehe ich auch nicht auf dich zu."
"Ach, jetzt hab' ich's ... du liebst mich bloß, weil ich DJ bin", vermutet Rafa.
"Ich habe dich schon geliebt, als du noch gar kein DJ warst", erinnere ich ihn, "und als du die Band noch nicht hattest und nichts. Ich habe dich schon vorher geliebt."
"Und Kappa und Lexx, was ist mit denen?"
"Was soll mit denen sein?"
"Du bist doch bei denen zu Hause gewesen."
"Ja."
"Was ist denn da gewesen mit Lexx?"
"Also, am 23.12. - vielmehr am Heiligabend -, da habe ich halt kein Geld mehr gehabt, und Lexx hat mir vorgeschlagen, daß er mich mitnimmt, und ich habe mich sehr darüber gefreut. Und dann sind wir halt noch zu Kappa gefahren ..."
"Was? Du fährst in die falsche Richtung?" fällt Rafa mir ins Wort. "In die falsche Richtung?"
"Nein, das war so, daß wir alle in dieselbe Richtung mußten, und dann waren wir halt auf dem Weg, und das Auto ging halt immer kaputt, und dann ging es aber irgendwann wieder, und dann hat halt Kappa gemeint, Mensch, wir können doch noch bei mir eine Cola trinken."
"Ja! Und dann? Und dann?"
"Dann haben wir gesagt, ja klar, warum nicht? Und dann sind wir noch zu ihm hoch."
"Und da? Und da? Was habt ihr da gemacht?"
"Da haben wir uns aufs Sofa gesetzt und haben eine Cola getrunken, und Kappa hat auf dem Synthesizer geklimpert, und ich habe ihm Esplendor Geometrico vorgespielt, damit er das auch mal kennenlernt."
"Und dann?"
"Dann hat Lexx noch was Klassisches gespielt, und dann hat Lexx mich nach Hause gebracht."
"So, so! So, so! Wie war's denn?"
"Es war ein sehr kalter Morgen."
"Bei Lexx im Bett war's bestimmt nicht kalt."
"So ein Quatsch! Lexx ist doch ganz nett und brav."
"Haha - hast du eine Ahnung!" warnt Rafa. "Lexx ist ein ganz Schlimmer!"
Im Hintergrund brandet Musik auf.
"He - mach' Cat rapes Dog mal wieder leiser!" befiehlt Rafa einem unsichtbaren Geschöpf.
Ich will noch nicht fragen, um wen es sich handelt. Als die Musik wieder leiser geworden ist, fragt mich Rafa:
"Sag' mal, nimmst du Drogen?"
"Nein."
"Überhaupt keine Drogen?"
"Nein."
"Nimmt Lexx Drogen?"
"Das weiß ich nicht; ich kenne ihn ja kaum."
"Ouu, Mann ...", seufzt Rafa. "Und das soll ich glauben, wenn die anderen mir erzählen, er hätte dich wohl ... und das war wohl ganz toll gewesen ..."
"So ein Unsinn! Ich erzähl' dir jetzt, wie es war, Schatz. Komm', Schatz, ich erzähl' dir jetzt, wie es war."
"Ja, wie war's denn? Wie war's denn?"
"Ja, erst hat Lexx mich nach Hause gefahren, dann habe ich die Tür aufgemacht und bin ausgestiegen, dann haben wir 'Tschüß' gesagt ..."
"Wer hat 'Tschüß' gesagt?" unterbricht mich Rafa. "Du hast also 'Tschüß' gesagt, und er hat die Tür aufgemacht? Oder du hast die Tür aufgemacht, und er hat 'Tschüß' gesagt?"
"Wir haben uns ganz normal verabschiedet. Mehr war das nicht. Und dann bin ich halt zur Haustür gegangen und 'reingegangen und hab' mich schlafen gelegt."
"Jetzt erzähl' mir mal, warum ich dir glauben soll! Warum ich dir glauben soll und nicht den anderen! Jetzt sag' mir mal einen Grund! Wem soll ich jetzt glauben? Soll ich dir glauben? Oder soll ich den anderen das glauben?"
"Also, wenn du mir nicht glaubst, dann frag' meine Schwester!" seufze ich, müde vom Streiten. "Die wird dir bestätigen, daß das Unsinn ist."
"Woher weiß die, was du immer so machst?"
"Die kennt mich, und die weiß, wie ehrlich ich bin und wie aufrichtig und treu. Echt ... ich fühle mich wie Desdemona. Die hat auch zu Othello gesagt, sie hätte mit diesem anderen Mann nichts gehabt, und der hat ihr das immer wieder vorgeworfen. Die konnte ihm auch nicht klarmachen, daß sie mit dem nichts gehabt hat. Er hat es ihr einfach nicht geglaubt."
"Da brauchst du doch nicht gleich die Klassik anzuführen."
"So ist es aber jetzt im wirklichen Leben halt auch. Desdemona ist echt die treueste Gattin, die man sich vorstellen kann, und trotzdem glaubt Othello ihr nicht, daß sie mit dem anderen nichts gehabt hat. Sie hat Othello immer wieder gesagt, Mann, ich bin mit dem Kerl nicht zusammen, und das hat er ihr einfach nicht geglaubt. Sie hat es ihm immer wieder gesagt, und er hat ihr trotzdem den Hals umgedreht."
"Soll ich dir auch mal den Hals umdrehen?"
"Von mir aus kannst du mir den Hals umdrehen", biete ich ihm an. "Und du wirst dich danach genauso ärgern, wie Othello sich geärgert hat, als er sie umgebracht hat."
"Was - ich darf dir den Hals umdrehen?"
"Ja, von mir aus kannst du mir den Hals umdrehen."
"Aber wolltest du mich nicht umbringen?"
"Ja, ich wollte dich essen. - Sag' mal - warum bist du eigentlich so eifersüchtig?"
"Warum ich eifersüchtig bin? Weiß ich nicht, warum ich eifersüchtig bin."
Jemand klimpert auf einem Synthesizer herum. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß dieses Geschöpf mit Rafa liiert ist, da Rafa jede, die er mir gegenüber als seine Freundin bezeichnet, gleich wieder verleugnet.
Nach kurzem Schweigen fragt mich Rafa:
"Wie alt bist du jetzt eigentlich?"
"Ich bin neunundzwanzig und fast dreißig."
"Und da willst du mir erzählen, daß du noch mit keinem Jungen geschlafen hast?"
"Ja, das ist so."
"Das gibt's doch gar nicht."
"Das gibt es sehr wohl. Das ist bei mir ja schließlich so."
"Da stimmt doch bei dir was nicht."
"Das ist richtig; bei mir stimmt ja auch wirklich was nicht."
"Ja, und?"
"Ich könnte also wirklich nur mit dir schlafen, mit jemand anderem nicht."
"Ich denke, du willst gar nicht mit mir schlafen."
"Doch, sicher will ich mit dir schlafen."
"Das ist aber gar nicht so gut, mit mir zu schlafen."
"Ich will aber trotzdem mit dir schlafen."
"Und wie lange schon?" möchte Rafa wissen. "Wie lange willst du schon mit mir schlafen?"
"Ich will das schon immer."
"Ach, das hast du mir noch nicht gesagt."
"Ja, ich will das gerne, aber du mußt dafür was tun."
"Was muß ich dafür tun?"
"Du mußt mich verführen."
"Verführen? Wie soll ich denn das machen?"
"Das sagst gerade du, als Casanova!"
"Ich - Casanova? Woher weißt du, daß ich ein Casanova bin? Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Du weißt das doch überhaupt nicht! Wie willst du das behaupten? Das ist doch alles spekulativ!"
"Auf jeden Fall ist dein Sexualverhalten ziemlich zügellos."
"Haha! Du bist doch hier die Lügnerin!" will Rafa mich entlarven. "Du bist doch hier diejenige, die es mit allen treibt!"
"Ich habe noch nie mit jemandem geschlafen, und der einzige Mensch, zu dem ich jemals gesagt habe, daß ich ihn liebe, bist du! Und ich liebe auch nur dich!"
"Ach, ich bin also deine erste Liebe."
"Du bist meine einzige. Es gab vor dir auch niemanden."
"Gibt's denn echt keinen, der mit dir schlafen will?"
"Es gibt genug Leute, die gerne mit mir schlafen würden, aber ich will die alle nicht. Ich will nur dich."
"Aber dann hast du davon doch noch gar keine Ahnung und gar keine Erfahrung. Woher willst du denn wissen, daß das nicht nur so eine Aufwallung der Hormone ist, so eine Kaugummiautomaten-Liebe, die gleich wieder vorbei ist?"
"Dazu geht das schon viel zu lange. Dazu geht das schon viel zu sehr in die Tiefe. Du bist das Wichtigste in meinem Leben."
"Warum hast du denn mich ausgesucht?"
"Liebe ist Liebe. Liebe ist eben Liebe."
"Echt - du kennst mich doch gar nicht."
"Was ich von dir weiß, ist auf jeden Fall, daß du dich gerne verstellst und daß du gerne die Leute verwirren willst und daß du gerne eine Mauer um dich bauen möchtest. Ich weiß, daß du lügen kannst. Das weiß ich wirklich."
"Und was ist, wenn ich dir jetzt sage, ich liebe dich gar nicht?"
"Also, da müssen schon Gefühle sein, wenn bei dir so eine Eifersucht besteht."
"Ich bin doch gar nicht eifersüchtig."
"Du bist rasend vor Eifersucht auf jeden Jungen, mit dem ich mich unterhalte ..."
"Wie kommst du darauf, daß ich eifersüchtig bin? Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich bin nicht eifersüchtig, nur weil du dich mit meinem Bruder gleich irgendwie ganz toll unterhalten hast. Selbst wenn du mit meinem Bruder zwischen Wirtschaftswunder-Motorrädern und Fossilien sonstwas gemacht hättest, dann hätte ich kaum irgendwas empfunden, nur ganz schwache Gefühle."
"Das glaube ich dir nicht, daß du nicht eifersüchtig bist."
"So, wenn ich jetzt zu dir sagen würde:
'Oh, weißt du was, ich bin ja so eifersüchtig, das gibt's gar nicht!'
- dann würdest du mir das glauben, was?" fragt Rafa lauernd. "Dann würdest du es mir glauben, ne?"
"So hast du das aber nicht gesagt. Du hast das so gesagt, daß ich das glauben mußte. Du hast das so gesagt, daß das klar war, daß du eifersüchtig bist."
"Was ißt du gerade?"
"Ich esse gar nichts."
"Und warum kaust du dann?"
"Ich kaue doch gar nicht."
"Ist das deine Katze?"
"Meine Katze, die sehe ich im Moment nicht."
"Ja, wo ist die denn?"
"Ach, der liegt, glaube ich, auf seinem Bettchen im kleinen Zimmer ... auf seinem Lieblingsplatz im kleinen Zimmer. Der hat da so ein Bett, da liegt der immer drauf."
"Und was machen deine Barbies?"
"Der einen, der habe ich kürzlich ein neues Kleid gekauft."
"Wie sieht das aus?"
"Das ist ganz hübsch; das ist so ein Corsagenkleid, so lila-grün schillernd, und da gehört auch noch ein Pompadour dazu."
"Die Saara ist doch eigentlich ganz süß, findest du nicht?"
"Ja, die sieht hübsch aus."
"Hübscher als du?"
"Ich kann nicht sagen, hübscher oder weniger hübsch. Es gibt viele hübsche Mädchen. Die sind alle auf ihre Art hübsch, und die kann man nicht so miteinander vergleichen, die ist hübscher und die weniger hübsch."
"Schade, jetzt wollte ich mich gerade so von der Seite, von rechts oder links ein bißchen an die 'ranschmeißen ... und jetzt will die mich gar nicht."
"Nein, die will Kappa."
"Na, wart's ab! Das woll'n wir nochmal sehen! Das woll'n wir nochmal sehen. Du kennst mich ja! Das woll'n wir nochmal sehen."
"Saara will dich aber nicht. Die will Kappa."
"Aber Kappa ist doch mit Genna zusammen."
"Ja, Saara will ihn aber trotzdem."
"Wieso will die Kappa?" forscht Rafa nach. "Warum? Weshalb?"
"Sie mag ihn halt."
"Ja, warum mag sie den?"
"Ja - sie hat ihn halt gern. Da gibt es keinen rationalen Grund für."
"Hat Saara denn was mit Kappa?"
"Das mußt du sie schon selbst fragen. Ich will nicht hinter ihrem Rücken plaudern."
"Hat sie mit ihm was oder nicht?"
"Ich sagte schon, ich will nicht hinter ihrem Rücken plaudern."
"Ich liebe Kappa", spielt Rafa ein Geständnis. "Das mußt du mir echt glauben; das ist die reine Wahrheit! Ich liebe Kappa. Ich mach' mir nichts aus Frauen, echt! Und das - das ist wirklich ganz offen und ehrlich so ... das mußt du mir echt glauben. Das ist so wahr ... das ist so absolut wahr ... Ich mach' mir überhaupt nichts aus Frauen; du hättest bei mir nie eine Chance ... so als Freund, so als Kumpel, so, ja, aber ich liebe Kappa; das muß ich dir echt mal sagen."
"Ha, ha! Das glaube ich dir nicht. So ein Unsinn."
"Warum bist du mit Saara eigentlich so ... befreundet?"
"Also, wir kennen uns noch nicht sehr lange, und ehe ich von einer Freundschaft rede, rede ich erstmal von Bekanntschaft. Und ich rede auch sehr lange nur von Bekanntschaft. Ich kenne die ein bißchen; ich kenne die seit letzem Herbst, und wir unterhalten uns halt öfters mal, auch vor allen Dingen über Männer. Mehr ist das eigentlich nicht, und ich weiß also auch zu wenig über sie, um dezidiert über sie was sagen zu können."
"Weißt du eigentlich, daß die voll auf dich steht?"
"Na ja, wenn sie mich mag, ist das doch schön."
"Ja, aber wenn das jetzt viel mehr ist ...? Stell' dir mal vor, die ist bei dir, und ihr unterhaltet euch, und sie fängt auf einmal an, dich zu küssen?"
"Also, erstens glaube ich das nicht ..."
"Aber was die Leute so reden!"
"Erstens halte ich das für einen ziemlichen Unsinn. Und dann - wenn ein Mädchen bei mir wäre und würde auf einmal zu mir sagen, oh, ich finde dich so süß, ich will dich jetzt küssen, dann würde ich sagen, nein, also, Küssen, das muß nicht unbedingt sein, und das wäre das dann auch schon. Sowas kann man ja auf sich zukommen lassen. Im Moment habe ich keinen Handlungsbedarf. Und im Moment sehe ich auch keine Probleme."
"Kannst du dir vorstellen, daß ich eifersüchtig bin auf Saara und dich?" fragt Rafa.
Ich kann mir das durchaus vorstellen. Es könnte daran liegen, daß er sich ausgegrenzt fühlt. Allerdings erklärt Rafa seine Eifersucht nicht näher. Er will nur unbedingt herausbekommen, ob Saara mit Kappa etwas hatte. Ich wiederhole, daß ich ihm auf seine Frage keine Antwort geben möchte.
"Hörst du mir jetzt mal zu?" fällt Rafa mir aufgeregt ins Wort. "Hörst du mir jetzt mal zu?"
"Ja, ich höre dir zu. Erzähle."
Er erzählt aber gar nichts, sondern fragt noch ein weiteres Mal:
"Hat Saara mit Kappa geschlafen oder nicht?"
"Ich möchte nicht hinter ihrem Rücken plaudern."
"Kappa sagt das ja selber auch, er hätte mit der ..."
"Ich möchte nicht hinter Saaras Rücken plaudern."
"Ist doch ganz schön stark - da erzählt die dir solche harten Sachen ... kennt dich kaum und erzählt dir gleich solche harten Sachen!"
"Ich habe dir doch gar nicht gesagt, was sie mir erzählt hat."
"Kappa sagt das ja selber auch, daß er mit der ..."
"Was wer wem erzählt und was die Leute so erzählen, das ist für mich, ehrlich gesagt, auch gar nicht weiter wichtig", lehne ich die Einladung in die Gerüchteküche ab.
"Ich möchte deine Vertrauenswürdigkeit testen", erklärt Rafa. "Was gibt es denn, was ich dir anvertraut habe und das du nicht weiterträgst?"
"Das sind all die Dinge, wo du mir ausdrücklich zu gesagt hast, daß ich die nicht weitererzählen soll."
"Und was ist das zum Beispiel?" drängelt er. "Sag' mir mal ein Beispiel."
"Ich könnte dir ein Beispiel nennen. Aber das hat mit einem Thema zu tun, über das ich jetzt nicht sprechen will."
"Hat's was mit Tessa zu tun?"
"Ich will über das Thema jetzt nicht reden."
"Du willst über das Thema 'Tessa' nicht reden? Oh, das waren zwei Jahre meines Lebens, und das war eine wunderschöne Zeit, echt."
"Ich möchte darüber jetzt aber nicht reden. Ich will nicht über ein Thema reden, wo ich nur wieder wütend werde. Ich will jetzt nicht wütend werden. Ich will mich jetzt nicht mehr aufregen. Ich rege mich dann nur wieder maßlos auf, und ich werde so wütend, das gibt's gar nicht, und ich möchte über das Thema ..."
"Wieso willst du dich über das Thema 'Tessa' nicht unterhalten?" spielt Rafa den Unschuldigen. "Was hat dir Tessa denn getan? Bist du nur wütend auf sie, weil sie dich mal so ... die Treppe 'runtergeschmissen hat, hahahaha ..."
"Ich will über dieses Thema jetzt nicht reden."
"Wieso, was ist denn so schlimm an Tessa? Warum bist du auf Tessa wütend? Wieso, was hast du denn gegen sie? Was hat sie dir denn getan?"
"Ich will über dieses Thema jetzt nicht reden, Schluß, aus."
Ich freue mich im Stillen, weil sich hier eine Möglichkeit auftut, meine quälende Wut auf Rafa von mir zu wenden und ihn stattdessen rasend zu machen. Rafa ist unzufrieden mit meiner Weigerung, mich mit seinen Lobeshymnen auf die Sängerin ärgern zu lassen. Er versucht immer wieder, mich an dem Thema festzuketten:
"Und was ist mit dem Kind, das ich habe von Tessa?"
"So, du hast also ein Kind von der?"
"Ja, da zahle ich auch immer fleißig Alimente für."
"Ja?"
"Ja. Muß ich doch."
"Wenigstens lebt das Kind nicht bei dir."
"Ja, ich besuch's halt zweimal die Woche, ne? Ist ein Junge und heißt Lars und ist echt ganz süß und ist jetzt ein Jahr und sechs Monate alt."
"Das kann nicht sein."
"Wieso kann das nicht sein?"
"Dann hätte die nämlich irgendwann einen Schwangerschaftsbauch haben müssen", rechne ich nach. "Das hatte die aber nie. Du hast mir nur im letzten Februar was von einer Abtreibung erzählt."
"Ja, die Abtreibung hat's auch gegeben ... aber das Kind auch."
"Das kann aber nicht sein."
"Ja ... wieso ... wann hast du Tessa zum letzten Mal gesehen?"
"März '95."
"Ach, ja, und?" fragt Rafa nach. "Und davor?"
"Das war im Januar '95. Und ich habe sie im Dezember gesehen und im November und davor auch immer wieder, und die hatte nie einen Bauch."
"Sag' mal, kann das irgendwie sein, daß du Tagebuch führst über das, was mit mir so ist und so?"
"Ja, sicher."
"Wann habe ich dich denn zum letzten Mal angerufen?"
"08.08.95. Ungefähr ... halb zwei; glaube ich zumindest."
"Ah - und das weißt du also noch", staunt Rafa. "Sag' mal, wieso weißt du das eigentlich noch so genau?"
"Weil ich mir sowas merke. Ich merke mir alles, was mir wichtig ist."
"Und wann habe ich dich davor angerufen?"
"28.02., um halb fünf."
"'95?"
"Ja, '95."
"Und ... über was haben wir da gesprochen?"
"Du hast mir da was gebeichtet, aber das sage jetzt nicht, was das war, weil das wieder das Thema berührt, über das ich nicht reden will."
"Ach, da hatten wir das mit Tessa, ne?" provoziert Rafa. "Da haben wir über Tessa gesprochen, ne? Über Tessa haben wir geredet, ne?"
"Rafa, ich will über das Thema jetzt nicht reden. Wir können uns gerne mal irgendwann mal wieder in Ruhe über das Thema unterhalten, aber nicht zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort. Ich möchte jetzt nicht über das Thema sprechen. Ich habe jetzt echt keine Lust, mich aufzuregen."
"O.k., dann eben nicht."
"Nein, das ist auch besser so", bin ich erleichtert. "So - du kannst mich auch noch mehr abfragen ..."
"Wann haben wir uns zum ersten Mal gesehen?"
"Das war, als wir uns noch nicht persönlich kannten; das muß so '89, '90 gewesen sein."
"'89?"
"Ja, '89 hat das 'Elizium' aufgemacht. Also, ich vermute, wir haben uns zum ersten Mal 1990 gesehen. Aber persönlich kennen tun wir uns seit dem 02.01.'93. Am 02.01.'93, da hast du mich angesprochen und wolltest mich kennenlernen. - Kannst mich auch noch mehr fragen."
"Ach, nein, das will ich jetzt nicht. - So ...", gähnt Rafa, "ich würde sagen, jetzt haben wir erstmal wieder genug miteinander gesprochen."
"Und du gähnst auch schon. - Ja, da habe ich dann nur noch zwei kleine, nicht ganz so wichtige Sachen."
"Ja, dann reden wir doch mal über die unwichtigen Sachen."
"Hörst du mir noch zu?"
"Ja, sicher hör' ich dir zu."
"Also, das eine ist halt, daß ich am 03.02. meine Geburtstagsparty gebe, und du darfst auch kommen, wenn du dann keine Freundin hast."
"03.02.? Was ist das für ein Tag?"
"Ein Samstag."
"Da muß ich auflegen."
"Ja ... du weißt eben, da ist meine Party - mußt du halt sehen. Am 31.01. habe ich Geburtstag. Da kannst du natürlich auch vorbeikommen."
"Meinst du, den Tag überleb' ich?" fragt Rafa.
Ich muß lachen.
"Den wirst du schon überleben", beruhige ich ihn. "Aber wenn du eine Freundin hast, darfst du natürlich nicht kommen."
"Darf ich meine Freundin mitbringen?"
"Wenn du kommst, darfst du gar keine Freundin haben."
"Ach, ich darf Saara nicht mitbringen?"
"Saara ist doch gar nicht deine Freundin."
"Ach, Saara ist nicht meine Freundin."
"Nein."
Ich komme nun zu der zweiten "nicht ganz so wichtigen" Sache und frage Rafa, ob er bei seinen Abenteuern stets Kondome nimmt. Er verneint.
"Man muß das optimistisch sehen", findet er.
"Wenn du dich nicht schützt, kannst du dich einmal von anderen anstecken, und dann kannst du auch andere anstecken", sage ich ernst. "Und mit dem Traum von Kindern ist es dann auch aus, weil, die sind dann auch alle infiziert. Es gibt genug AIDS-kranke Kinder; da muß man nicht noch mehr davon haben."
"Ach, bis dahin gibt es doch schon ein Mittel dagegen."
"Das glaube ich aber nicht!"
"Ja, wieso ... bei der TBC ist es doch auch so gewesen; da hat's dann halt irgendwann mal das Penicillin gegeben ..."
"Davor sind die Leute aber jahrhundertelang dahingerafft worden wie die Fliegen. Außerdem - AIDS ist so eine ernste Erkrankung; das ist wie Krebs. Das glaube ich überhaupt nicht, daß es so bald einen Impfstoff oder ein Mittel dagegen gibt."
"Ich nehme keine Kondome mehr", behauptet Rafa. "Ich habe mir die Pille bestellt - die Pille für den Mann."
"Kondome mußt du trotzdem nehmen. Außerdem wollte ich dich darum bitten, einen AIDS-Test zu machen."
"Ich vertrage keine Kondome", erzählt Rafa weiter seine Märchen. "Ich habe nämlich eine Gummiallergie. Wenn ich Kondome nehme, macht das mein Jim nicht so mit."
"Das ändert nichts daran, daß du dich schützen mußt."
"Ach - AIDS, ist das nicht sowieso eine Krankheit, die bloß Schwule und Fixer und so kriegen?"
"Das war mal so; vor fünfzehn Jahren war das mal so. Das ist aber heute längst nicht mehr so. AIDS kann jeder kriegen."
"Ja, ja, ich schütz' mich schon", lenkt Rafa schließlich ein, "ich schütz' mich schon. Das ist doch kein Problem für mich, so ein Kondom, das ziehe ich mir mal eben über."
"Das ist auch wichtig."
"Das heißt aber, wenn ich Kondome nehme, dann darf ich 'rumbumsen, 'rumf...en, wie ich will, und machen, was ich will?"
"Du darfst überhaupt nichts", stelle ich klar. "Aber wenn du nicht imstande bist, dich zu beherrschen - wenn du es nicht lassen kannst, alle möglichen Leute quer durch den Garten und so weiter -, dann wenigstens so, daß du dich nicht ansteckst, damit du, wenn du irgendwann mal anständig wirst, dich nicht darüber ärgerst, daß du krank bist."
Ich denke mir, daß ich fürs erste genug gepredigt habe. Abschließend sage ich:
"Jetzt weißt du die Daten ja."
"Welche Daten?"
"Du weißt, wann mein Geburtstag ist."
"Wann war der nochmal?"
"31.01.66."
"'66?"
"Ja, du hast doch meinen Perso gesehen."
"Du wirst dreißig?"
"Ja, dreißig. Deswegen ist der Geburtstag doch auch so wichtig."
"Da bist du ja fünf Jahre älter. Wenn die Frau fünf Jahre älter ist, das geht doch nicht."
"Tja! Ich hätte mir ja auch jemanden nehmen können, der zehn Jahre jünger ist. Aber ich will dich, obwohl du nur fünf Jahre jünger bist."
"Ja, wenn die Frau zehn Jahre jünger ist, das macht ja nichts", findet Rafa. "Meine Mutter hat immer gesagt, ich soll mir eine Freundin suchen, die jünger ist."
"Und da hörst du auch drauf, was deine Mutter dir sagt."
"Ja, Mama hat das gesagt ..."
"Und da hörst du auch drauf, was Mama sagt."
"Andere Leute haben auch schon gesagt, die ist doch viel zu alt für dich."
"Das ist mir doch egal. Außerdem hast du selber mal eine Freundin gehabt, die zwölf Jahre älter war als du."
"Woher weißt'n das?"
"Das weiß ich; die ist zwölf Jahre älter."
"Woher weißt'n das?"
"Ich weiß das eben."
"Ja, mit der habe ich ja auch wieder Schluß gemacht."
"Ja, aber nicht wegen dem Altersunterschied."
"Genau - es war der Altersunterschied! Wegen dem Altersunterschied!"
"Das stimmt nicht", weiß ich. "Du hast mir selbst gesagt, daß es nicht am Altersunterschied lag."
"Ja, ist schon gut, schon gut, lag nicht dran."
"Also - wieso soll die Frau jünger sein? Was soll denn der Quatsch?"
"Du bist fünf Jahre älter ... stell' dir mal vor ... die Kinder haben einen Vater, der ist fünfundvierzig, und die Mutter ist schon fünfzig."
"Ja, und?"
"Ich meine - der Mann, das ist doch der, der die Brötchen 'ranschafft und die Familie ernährt, und die Frau, die kriegt doch dann die Kinder ..."
"Das ist schon richtig, aber - ich will sowieso spätestens in fünf Jahren Kinder haben, und Kinder kann man ja haben, bis man über vierzig ist. Und wenn du dann noch kein AIDS hast, können wir auch Kinder haben."
"Ja, dann halt' dich aber mal 'ran!" empfiehlt Rafa. "Dann such' dir mal einen Vater dazu!"
"Wieso, den hab' ich doch schon."
"Wer soll denn das sein?"
"Ja, du."
"Was - ich? Du willst mich als Vater haben?"
"Ja, Schatzi."
"Wer ist Schatzi?"
"Na, du."
"Ja?"
"Ja, wen denn sonst? - Also ... 31.01., das mußt du dir unbedingt merken; das ist wichtig."
"Wieso soll ich mir das merken?"
"Weil das mein Geburtstag ist."
"Wassermann!"
"Ja. Du kannst dir auch merken - zwanzig Tage nach deinem Geburtstag oder der letzte Tag im Januar ... das als Eselsbrücke."
"Was - zwanzig Tage nach meinem Geburtstag?"
"Ja, elf plus zwanzig ist einunddreißig."
"Ach, dann ist das ja schon der 31. Februar! Am 31. Februar hast du Geburtstag? Das ist ja schon fast wieder März!"
Rafa redet solch einen Wirrwarr, daß im Hintergrund jemand lacht. Der Stimme nach ist es ein Mädchen. Rafa hat also jetzt, um diese Zeit, einen weiblichen Gast, und ich weiß nicht, wer es ist!
"Bei dir ist noch jemand", bemerke ich.
"Nö, bei mir ist keiner", erwidert Rafa. "Ich bin ganz allein hier. - He! Ist da noch jemand? Hee! - Siehste? Ist keiner da."
"Doch, da ist jemand da", bin ich überzeugt. "Das habe ich ganz deutlich gehört. Da hat jemand gekichert."
Rafa hält rasch einen Lachsack an den Telefonhörer und behauptet:
"Das ist doch nur ein Lachsack."
"Nein, da ist jemand."
"Ach ja, Saara ist da."
"Ach, Saara ...?"
"Weißt du, was das ist, ein Lachsack?"
"Ja, das weiß ich."
"Hast du einen Lachsack?" erkundigt sich Rafa. "Ich meine, so einen richtigen Lachsack aus den siebziger Jahren, wo noch so eine Schallplatte drin ist. Heute haben die nur noch einen Chip ..."
"Nein, ich habe keinen Lachsack."
"Weißt du, wo man sowas noch kriegt? Kommst du an sowas 'ran?"
"Nein, da komme ich nicht 'ran."
"Wenn du mal wieder bei mir bist, kannst du dir ja mal meine Lachsack-Sammlung angucken", schlägt Rafa vor.
"Das möchte ich gerne tun", stimme ich zu. "Ich möchte dich gern mal wieder besuchen."
"Gut - dann, würde ich sagen, telefonieren wir demnächst mal wieder miteinander."
"Ja, aber du mußt mich anrufen, nicht ich dich."
"Ja, gut."
"Schlaf' gut. Tschüß."
"Tschüß."
Ende Januar gab es ein Industrial-Festival im "La-Tekk's", das von Ivo Fechtner organisiert wurde. Es fand viel Zulauf. Ich ging hin mit Constri und Derek. Wir trafen Siddra und Gart, die nach jahrelanger Trennung eine neue Beziehung begonnen haben.
Constri und ich tanzten ganz vorne zu den Rhythmen von Winterkälte. Winterkälte verkörpern zusammen mit Bands wie Esplendor Geometrico und Dive die verspielte, technik- und rhythmusorientierte Seite des Industrial - die "helle" Seite. Es sind Menschen mit einem offenen, freundlichen Auftreten, und ein Gespräch mit ihnen ergibt sich wie von selbst. Die nachfolgenden Bands kann man als die abschreckende Seite des Industrial bezeichnen. Nicht nur ich fand es geschmacklos, wie Predominant und Genocide Organ Folter-Snuffs und KZ-Amateur-Videos mit einem Nazi-Bühnen-Outfit kombinierten. Gemeinsam mit Leuten aus HB. und HH. verließ ich den Saal. Wir unterhielten uns im angrenzenden Café über Gewaltverherrlichung und Rechtsradikalismus in Musik und Kultur. Ein Bekannter der Genocide Organ erzählte, die Band sei nicht rechts eingestellt; es gehe ihnen nur darum, das Publikum zu provozieren.
"Wenn man schocken will, kann man das auch, ohne die Würde des Menschen zu verletzen", meinte ich. "Außerdem ist die Nazi-Masche alles andere als neu. Und außerdem - wenn die Band nicht rechtsradikal eingestellt ist, soll sie das eindeutig zum Ausdruck bringen. Es gibt genug Neonazis, die sich durch solche Auftritte bestätigt fühlen."
Ivo Fechtner schienen ethische Probleme nicht zu kümmern. Er lief während des Konzerts von Predominant auf der Bühne mit einer Kamera vor den KZ-Folter-Live-Mitschnitten herum und hatte einen entrückten, hingerissenen Blick.
Zum Festival hatte sich sogar der Sockenschuß eingefunden. Ivo schien auch das nicht zu stören.
Nach dem Festival war ich noch mit den Leuten aus HH. und HB. im "Elizium". Dort traf ich unter anderem Macro, der berichtete, daß er Kappa in der letzten Zeit kaum noch nüchtern antrifft. Kappa überläßt im "Exil" das DJ-Pult immer häufiger einer Vertretung. Er betrinkt sich und liegt dann im Hinterzimmer auf dem Sofa. Wenn Kappa doch einmal auflegt, spielt er abgedroschene Programme herunter.
Ich erzählte Macro nichts von Rafas Eifersuchts-Raserei. Es hätte Macro wahrscheinlich unnötig aufgeregt, und Rafa wäre es peinlich gewesen.
Sareth erzählte ich aber, daß Rafa eifersüchtig ist, obwohl er sich noch nicht einmal zu mir bekannt hat. Sareth nahm mich in den Arm und drückte mich.
"Jetzt muß er eifersüchtig sein", sagte er.
"Wenn er da wäre", ergänzte ich.
"Mach' ihn mal richtig eifersüchtig", riet Sareth.
"Das habe ich schon getan", teilte ich ihm mit.
Frühmorgens kam Saara mit Toro, Daphne, Greta und noch mehr Leuten aus dem "Exil" ins "Elizium" herüber. Saara und ich zogen uns in den "Konferenzraum" zurück, den Vorraum der Damentoilette, der gerade frei wurde. Saara berichtete mir, daß sie Rafa angerufen und ihn gefragt hat, was er eigentlich auf dem Friedhof mit Lara angestellt hat. Rafa antwortete, da sei gar nichts gewesen. Lara habe nur Probleme mit ihren Eltern gehabt und sich mit ihm darüber unterhalten. Lara war während dieses Telefongesprächs bei Rafa zu Besuch und konnte die Aussage sogleich bestätigen.
"Kannst Hetty sagen, daß da nichts war", bat Rafa die Saara. "Ehe Gerüchte entstehen ..."
Saara tadelte ihn, weil er sich während der Unterhaltung mit Lara ins Gebüsch zurückgezogen und sich um seine Geburtstagsgäste nicht mehr gekümmert hatte.
"Ihr wart plötzlich weg", gab Rafa sich unschuldig.
Zwanzig Minuten nach Saaras und meiner Abreise will Rafa in Laras Begleitung heimgekommen sein. Ich bin froh, daß ich nicht auf ihn gewartet habe. Ich hätte sonst meinen Zug nicht mehr erwischt.
Es könnte sein, daß Rafa mit Lara ins Gebüsch verschwunden ist, um sich seinen Gästen zu entziehen. Vielleicht hat ihn meine Anwesenheit überfordert. Ich halte es für möglich, daß Rafa die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, sich mit Lara nur unterhalten zu haben. Wir hatten Frost, und es ist nicht angenehm, sich bei Minusgraden zu entblößen.
Saara fragte Rafa, ob er vorhat, zu meiner Geburtstagsparty zu kommen. Er antwortete, das wisse er noch nicht.
Malda hat mir erzählt, daß der Sockenschuß sich auf dem Festival im "La-Tekk's" zu ihr und Ivo Fechtner gesetzt hat und auf sie losschwatzte. Der Sockenschuß soll furchtbar nett getan haben. Er soll behauptet haben, er habe mich in der Bahnhofsdrogerie getroffen, und ich hätte ihn von mir aus gegrüßt. Weder das eine noch das andere stimmt ... aber daß der Sockenschuß sich Geschichten ausdenkt, ist wirklich nichts Neues.

In einem Traum hielt Ivo Fechtner mich auf und schwatze auf mich ein wie der Sockenschuß. Ich flüchtete in ein Polizeirevier und mußte in einer Schlange warten. Ivo Fechner zeigte mich ebenfalls an wegen Belästigung. Ich mußte anschließend meine Version erzählen.

Einige Tage später rief Saara mich an und erzählte, daß sie wieder mit Rafa telefoniert hatte. Als sie ihn darauf ansprach, ob er zu meiner Geburtstagsparty kommen wollte, antwortete er, er wisse nicht, ob er dann Zeit habe. Saara erwiderte, er müsse sich die Zeit halt einfach nehmen. Rafa erkundigte sich zum wiederholten Mal nach dem Wochentag, an dem die Party stattfindet.
"Samstag."
"Das müßte ja eigentlich gehen", meinte Rafa zögernd. "Aber das ist so blöd - ich kenne da wahrscheinlich gar keinen. Meine Freundin darf ich nicht mitnehmen, und alleine will ich da nicht hin. Ich gehe nur hin, wenn du mitgehst. Wir müßten uns dann vorher treffen."
Saara war einverstanden.
Rafa wollte unbedingt herausfinden, ob Saara mit Kappa geschlafen hat. Sie verriet es ihm aber nicht. Rafa fragte außerdem danach, wie lange Saara mich schon kenne und wie das überhaupt gekommen sei, daß sie mich kennt.
"Wie man sich eben so kennenlernt", gab Saara zur Antwort, "ganz normal im 'Exil'."
Rafa wollte wissen, weshalb ich am 11.01. bei Saara zu Hause gewesen sei. Sie erklärte ihm, daß sie sich mit mir telefonisch für seine Geburtstagsfeier verabredet hat. Saara hatte Rafa tatsächlich angekündigt, daß ich es sein würde, die sie nach SHG. begleitete.
Rafa wollte Saara nun doch nicht das Weihnachtsgeschenk geben, das er ihr versprochen hatte. Er meinte, dieses sei wohl nicht so passend gewesen. Er habe bereits ein anderes Geschenk für sie im Auge; freilich habe er es noch nicht besorgt.
Rafa versuchte, über Saara zu erfahren, was ich ihm zum Geburtstag schenke. Sie behauptete, zu wissen, was es sei, um ihn noch neugieriger zu machen.
Als Saara ihn nach der vergessenen Stigmata-Kassette fragte, erwiderte er:
"Die habe ich hier gerade in der Hand."
Er versprach, sie ihr ins "Exil" mitzubringen.
Fürs "Exil" habe ich mir eine neue Kostümierung besorgt. Der blutrote, mit schwarzer Spitze besetzte Pannesamt-Rock von Charlene hat einen breiten Bund aus schwarzem Stretch. Dieser Bund kann genauso als Corsage dienen. Ich habe also spitzenbesetzte Stretch-Träger darannähen lassen und mir mit einem Stück Stretch eine hohe Taille geschnürt. Jetzt sieht das Ganze aus wie ein Ballett-Kleidchen. Vervollkommnet habe ich es mit Stretch-Ärmlingen.



In der Freitagnacht war ich mit mehreren Leuten in der Stadt verabredet. Ich konnte also trotz heftiger Schneefälle nicht wieder umkehren.
Im "Exil" war es recht leer; viele Leute waren vom Wetter verschreckt worden. Saara war aber da. Und Rafa war auch da. Wie zumeist hatte er sich nicht rasiert. Ich finde das einfach schrecklich.
"Da hat ein Mensch so ein niedliches Gesicht", denke ich mit einem hilflosen Gefühl, "und er entstellt es so."
Rafa geht ganz in Schwarz. Auch sein Haar ist schwarz nachgetönt. Er trägt eine Uniformjacke - die, die ich mir übergehängt habe, als ich bei ihm war.
Saara teilt mir mit, daß Rafa zu uns herübergeschaut hat, während wir die Köpfe zusammensteckten. Dabei hängt Saara sich gar nicht so sehr an mich; sie unterhält sich auch viel mit Velvet, die mich nicht leiden kann.
Ich treffe einen Jungen im "Exil", den ich aus dem "Elizium" kenne - Morten. Und ich treffe Mortens Freund Sten. Sten hatte mich auf dem Industrial-Festival im "La- Tekk's" gebeten, zu seinem Auftritt zu kommen. Der findet heute statt. Stens Projekt heißt "Xrossive"; die Musik ist ein EBM-Gothic-Verschnitt. Sten nutzt die Tanzfläche als Bühne. Er springt hin und her, packt die Zuschauer bei den Schultern, umarmt sie auch oder schaut ihnen tief in die Augen. Ich werde von Sten gewürgt. Außerdem faßt er nach meinem roten Röckchen und reißt es hoch. Das stört mich nicht, denn ich trage unter meinen Tanzkleidern immer eine kurze schwarze Radlerhose. Wie aber Rafa diese Ungezogenheit aufgenommen hat, weiß ich nicht. Vielleicht hätte er mich auch gerne gewürgt und mir am Rock gezupft.
Saara unterhält sich kurz mit Rafa; er sagt ihr, daß er zu meiner Geburtstagsfeier kommen möchte.
"Und der kommt auch", ist Saara sicher, als ich Zweifel anmelde. "Der muß kommen. Und wenn ich ihn hinter mir herschleife ..."
Saaras Stigmata-Kassette hat Rafa nicht mitgebracht. Er bittet Saara, ihn am nächsten Montag anzurufen. Er möchte sich mit ihr im Laufe der Woche in H. oder SHG. treffen und ihr dann die Kassette geben. Saara ist nicht bereit, sich mit Rafa allein zu treffen. Sie befürchtet, daß er wieder versuchen wird, sich an sie heranzumachen.
Rafa soll übrigens einen Auftrag bekommen haben für Wandmalereien in einer Pizzeria. Er soll damit siebenhundert Mark verdienen.
Im "Exil" spielt Rafa sein Stück "Telefonsex"; es kommen aber auch viele Stücke, zu denen ich tanze, darunter "Song of the Winds" von Project Pitchfork, "Soul Manager" von Front 242, "Mercy" von Dive, "49 Second Romance" von den Rainy Day Women und "Warm Leatherette" in der Version von Blok 57. Diese Version von "Warm Leatherette" mit ihrem unvergleichlichen Rhythmus wird nach meiner Ansicht viel zu selten gespielt.
Rafa streut auch immer wieder NDW-Stücke ein und wirbt durchs Mikrophon für eine "NDW-Night", die demnächst stattfindet.
Saara und ich stehen mit Sten, Morten und einigen anderen Jungen an der Bar, als Rafa geschäftig auf Saara zukommt und mit ihr spricht. Ich taste nach Rafas Jacke, nach Schultern und Kragen. Er weicht zurück und schiebt meine Hand weg. Ich streichle die Hand, die mich fortschieben will, und er nimmt meine Hand fest in seine. Er trägt schwarze Handschuhe; sie sind aus Trikot, und sie sind nicht kaputt. Ich streichle Rafas Hand auch noch, als er die meine festhält. Ich schaue ihn nicht an bei diesen Spielereien. Ich genieße es einfach nur, seinen Körper zu fühlen.
"Hör' auf - sonst komme ich nicht zu deinem Geburtstag!" droht Rafa.
Als ich nicht aufhöre, ruft er lächelnd:
"Aaus! Aaus!"
Dann droht er wieder:
"Hör' auf - sonst komme ich nicht zu deinem Geburtstag!"
"Das ist Erpressung", beschwere ich mich.
Rafa spricht weiter mit Saara, und ich werde von Morten und einem anderen Jungen zu einer Party eingeladen. Währenddessen fahre ich mit einem Finger über Rafas Taille und lege dann meine Hand auf seinem Hüftknochen ab. Ich bin hingerissen und strahle entrückt. Als Rafa mit Saara zuendegeredet hat, streichle ich ihn immer noch.
"Ich höre gleich auf", verspreche ich. "Ich höre ja schon auf."
"Das war dein Geburtstag", bedauert Rafa. "Das war dein Geburtstag."
"Selbst schuld, wenn du dich selbst auslädtst", denke ich bei mir und rufe mit freudigem Grinsen:
"Na, dann kann ich ja jetzt ...!"
Ich schließe meine Arme um ihn. Er entwindet sich und flüchtet hinters DJ-Pult. Ich gehe auf die Tanzfläche, als sei nichts gewesen. Je weniger ich mich von Rafas Erpressungsversuchen beeindrucken lasse - so sage ich mir -, desto eher wird er sie aufgeben. Für mich steht fest, daß es sich hier um einen Machtkampf handelt. Rafa will herausfinden, wie leicht er mich unter Druck setzen kann.
Ein Junge gibt eine Runde Tequila aus. Das Gemansche mit Salz und Zitrone finde ich immer wieder lustig. Ich werde auch von dem Tequila etwas heiter. Ich lächle Toro über die Bar hinweg zu und freue mich darüber, daß endlich einmal keine Frau an der Bar steht, mit der Rafa herumschäkern kann, sondern ein Mann, mit dem ich herumschäkern kann. Rafa scheint unser Geplänkel gar nicht zu schmecken. Er stürmt hinter die Bar und sagt zu Toro, jetzt müsse er erstmal mit ihm anstoßen.
"So steckt er sich den Toro in die Tasche", denke ich.
Und Rafa steht da, wo Toro vorher stand - einen halben Meter von mir entfernt; nur die Theke trennt uns. Rafa ascht dicht vor mir in einen Aschenbecher, und ich betrachte gierig seine Hand mit dem Trikothandschuh. Dann mustere ich den ganzen Menschen. Rafa schaut mich an, und ich bemerke:
"Du bist heute das Pflänzchen Rührmichnichtan."
"Was?" fragt Rafa und beugt sich zu mir.
"Du bist das Pflänzchen Rührmichnichtan."
"Was?" fragt er und beugt sich noch tiefer zu mir.
"Du bist das Pflänzchen Rührmichnichtan", wiederhole ich noch einmal und lecke an seiner Wange. Rafa richtet sich auf, wischt mit der Hand über seine Wange und erklärt:
"Mich dürfen nur ganz bestimmte Leute anfassen."
"Ja, ich!" rufe ich. "Und sonst keiner!"
"Tessa darf mich anfassen."
"Willst du, daß ich mich wieder aufrege?"
"Ja."
"Dreckschlampe ... Nutte ... Drecksweib ...", bete ich meine Schimpfwörter für die Sängerin herunter.
Rafa staunt:
"Also, du tickst ja wohl auch nicht mehr ganz grade."
"Du auch nicht."
"Echt - du bist sowas von unverschämt, das gibt's gar nicht", grinst Rafa.
"Das gefällt dir, was?" vermute ich.
"Nein!" erwidert Rafa. "Das gefällt mir überhaupt nicht!"
"Du brauchst wohl Sachen, die dir nicht gefallen, hm?"
"Kann sein."
Rafa läuft wieder hinters Pult und legt ein Stück von sich selbst auf. Es ist "Traum der Einsamkeit", in dem Zinnia singt. Rafa weiß, daß ich das Stück ganz gern mag. Ich bin erleichtert, weil er kein Stück ausgesucht hat, in dem die Rotgefärbte singt.
"Wenn Zinnia weniger drauf hätte, wäre sie eigentlich ganz hübsch", soll Rafa zu Saara über Zinnias Figur gelästert haben.
Keiner tanzt zu "Traum der Einsamkeit". Rafa blendet das Stück nach der Hälfte aus und spielt "Let your body die" von Cyber-Tec. Dazu tanze ich. Rafa blendet jedoch auch dieses Stück aus, bevor es zuende ist. Er spielt ein Pop-Wave-Stück, zu dem nur er tanzt, und das ist auch das einzige Mal, das er tanzt. Er tanzt mit dem Gesicht zum "Publikum".
Rafa kommt noch öfter herunter, doch in meine Nähe kommt er nicht mehr. Einmal beobachte ich, wie Rafa mit einer von Saaras Freundinnen redet. Saara geht ihm nach zu den Toiletten und fragt ihn unter vier Augen, was da eigentlich los sei. Rafa klagt darüber, daß ihm immer Frauen gefielen, bei denen er nicht landen könne. Auch Saaras Freundin habe ihm eine Absage erteilt.
Gegen Morgen bittet Rafa durchs Mikrophon um Musikwünsche. Er klagt darüber, daß sich heute nacht kaum einer etwas wünscht, während sonst dauernd Leute ankommen und Wünsche haben. Ich vermute, daß Rafa sich besonders gewissenhaft an die "Aufgaben des DJ's" halten will, damit ich ihm in dieser Hinsicht keine Vorwürfe machen kann. Im Gegenteil kann er mir vorwerfen, daß ich ihm nicht so viel Zuwendung schenke wie den anderen DJ's. Mir tut es selbst leid, daß ich nicht zu Rafa gehen und mir etwas wünschen kann. Ich würde so gern seiner Bitte nachkommen. Aber ich denke an die Grenzen, die ich Rafa setzen muß, damit er Vertrauen zu mir gewinnt. Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht zu ihm ans Pult gehe, und ich halte mich daran.
Fünf Leute kommen auf einmal ans Pult und wünschen sich etwas. Als Rafa all diese Wünsche gespielt hat, fragt er:
"So - was spiele ich jetzt? Was spiele ich denn jetzt?"
Immer mehr Wünsche möchte er hören. Er läßt sich aber auch selbst noch etwas einfallen - "Der Feind" von Calva y Nada.
In der Nähe des DJ-Pults steht ein Mädchen an der Bar, das weder Saara noch ich kennen. Es trägt einen langen roten Zopf, ein kurzes, schmal geschnittenes Kleid aus schwarzem Pannesamt und Netzstrümpfe. Das Mädchen ist attraktiv und dem Anschein nach kein Kind von Traurigkeit. Es redet und turtelt mit mehreren Jungen. Toro knutscht es über die Bar hinweg. Und Rafa kümmert sich jetzt, in der Morgenfrühe, auch um den schillernden Vogel. Er unterhält sich höchst angeregt mit dem Mädchen. Saara hört, wie er es fragt:
"Mußt du morgen arbeiten?"
"Nein", antwortet das Mädchen.
"Das ist schön", freut sich Rafa.
Als Saara mir davon berichtet, habe ich das starke Verlangen, Rafa windelweich zu prügeln. Ich möchte ihn an Händen und Füßen fesseln und ihn verdreschen, bis er nicht mehr weiß, wer er ist.
Rafa fragt in den Saal, was er als letztes Lied spielen soll.
"Ist das o.k., 'Tribal Warning Shot'? - Ja, das ist ein geiles Stück", antwortet er sich selbst.
"Tribal Warning Shot" von Hunting Lodge stößt auf Zustimmung. Rafa spielt danach noch "W.O.L.F."; das ist das dritte Stück von ihm in dieser Nacht.
Als im "Exil" Stille eingekehrt ist, rennt Rafa zwischen DJ-Pult und Büro hin und her. Er packt seine Sachen zusammen. Toro versucht, Saara und mich zu überreden, mit ihm noch ins "Elizium" zu gehen. Ich lehne ab; ich bin erschöpft vor lauter Wut und will so schnell wie möglich nach Hause.
Toro fragt auch Greta und das Mädchen mit dem langen roten Zopf, ob sie mit ins "Elizium" gehen wollen. Das fremde Mädchen zögert und antwortet:
"Ich weiß noch nicht."
"Dann müßte Rafa ja auch mit", raunt Saara mir zu.
Ich bitte Saara, in der nächsten Woche zu erforschen, ob Rafa mit dem Mädchen etwas angefangen hat.
"Wenn er mit der was hat, braucht er nicht zu meinem Geburtstag zu kommen", lege ich fest.
Als Daphne, Saara und ich hinaufgehen in den blau erleuchteten Flur, sage ich vernehmlich:
"Echt, manchmal wünsch' ich mir eine Peitsche. Manchmal wünsche ich mir eine richtge Peitsche."
Wir nähern uns der großen Treppe nach oben.
"Oder einen Rohrstock", füge ich hinzu.
Die Treppe hat eine Krümmung, und hinter dieser Krümmung hervor höre ich jemanden sagen:
"Das wird auch nicht mehr viel helfen."
Es ist Rafa, der mit wehendem Kutschermantel die Treppe herunterkommt. Als ich an ihm vorbeigehe, schwinge ich meinen Regenschirm und sage, ohne ihn anzusehen:
"Einmal richtig Dresche - und er ist diszipliniert!"
Daphne meint, Schläge würden nichts bringen.
"Doch - sie bringen Genugtuung", erwidere ich.
"Schläge sind ein Zeichen von Schwäche", weiß Daphne. "Konsequentes Nichtbeachten ist viel besser."
"Dieses Mittel habe ich auch schon öfter mit Erfolg eingesetzt", erzähle ich. "Aber es tut gut, mal so richtig draufzuschlagen."
"Ja - aber dann mit dem Teppichklopfer", meint Daphne.
"Oder mit dem Nudelholz", setze ich hinzu. "Mit dem klassischen Nudelholz."



Am Samstagabend ging ich zu der Party, zu der mich die Jungen im "Exil" eingeladen hatten. Ein Junge feierte seinen Auszug aus einer Wohnung im "Uferpark", einem "Ghetto". Was ein Ghetto ist, lernte ich bei diesem Besuch. Man kann den "Uferpark" durchaus als Beispiel für Massenmenschenhaltung ansehen. Totenstille herrscht draußen, in der Einkaufszone, schon bald nach Ladenschluß. Ringsum ragen Betonwände in den Himmel; man fragt sich, wohin man fliehen soll, wenn man in dieser Steinwüste überfallen wird.
Die Suche nach einem Hauseingang war schwierig. Eine große Tafel mit Klingeln und Briefkästen fand ich, aber keine Tür. An einem von außen begehbaren Aufzug hing ein Schild, das riet, wenn der Aufzug kaputt sei, dann solle man doch dem Pfeil nachgehen ...
Als ich dem Pfeil folgte, fand ich doch noch eine Tür, sogar die mit der richtigen Hausnummer. Drinnen waren auch alle Aufzüge kaputt. Ich ging durchs Treppenhaus bis in den vierzehnten Stock. Das Treppenhaus ist aus nacktem Beton und fahlgelb gestrichen. Auf jedem Absatz gibt es eine glaslose Fensteröffnung, eine regelrechte Einladung für Selbstmörder.
"Man hätte bloß noch ein Schild drüberhängen müssen, mit der Aufschrift:
'Hier geht's 'raus!'", dachte ich.
Die Wohnungen im "Uferpark" tragen weder Nummern noch Klingelschilder. In jedem Stockwerk gibt es mehr als zehn Wohnungen. Ich klingelte dort, wo ich vertraute Musik durch die Tür hörte. Ich war richtig.
"Was du gesehen hast, war noch gar nichts", verriet mir der Gastgeber. "Hier im Haus ist keiner mehr normal. Hier wohnen fast nur Schwarze, Dealer und Nutten, und fast alle Leute halten sich Kampfhunde. Du lebst hier völlig abgeschirmt; keiner hört dich schreien, wenn was passiert. Ganz oben ist ein Puff, und unten, in den Tiefgaragen, ist ein Drogenumschlagplatz. Im Treppenhaus liegen die Fixer und setzen sich ihren Schuß. Seit ich hier wohne, sind schon sieben Leute aus dem Fenster gesprungen. Das Einzige, was du hier genießen kannst, ist die Aussicht."
Die Häuser sollen übrigens fest in Kakerlakenhand sein. Zweimal im Jahr soll der Kammerjäger in jede Wohnung kommen.
Auf der Party gab es Krimsekt, aber nichts zu essen. Saara beschäftigte sich vorwiegend mit Velvet. Als die Leute zu kiffen begannen - gegen elf -, ließ ich mich von Morten zur Haltestelle bringen. Bei "McGlutamat" traf ich Eveline. Wir tranken zusammen einen Kakao, und ich aß etwas.
Xentrix war stolz auf die musikalische Begrüßung, die er mir im "Elizium" bereitete. Später überließ er das DJ-Pult für gute drei Stunden einem alten Freund, der zu dem Publikum im "Elizium" keinen rechten Draht finden konnte, weder menschlich noch musikalisch. Taylor freute sich, weil ich nicht dauernd tanzen konnte und er endlich genügend Zeit hatte, um mir eine Cola auszugeben und mich mit Komplimenten zu überschütten.
Über das "Exil" hörte ich, daß dort Kappa auflegte. Er sollte sinnlos betrunken sein und lauter Peinlichkeiten von sich geben.
Luie war entsetzt, als ich ihm von dem erwachsenen Menschen erzählte, der nicht wußte, wer die Geschwister Scholl waren.
"Das ist Pflichtprogramm in der Schule", bemerkte er.
Ich erinnerte mich daran, daß in unserer Schule die NS-Zeit ausgelassen wurde. Wenn man von den Römern bis Bismarck vorgedrungen war, fing man noch einmal mit den Römern an. Begründet wurde das damit, daß man mit dem Lehrplan nicht durchkam, weil die Schüler zu langsam lernten. Vielleicht ist Rafas Bruder Toto auch auf so einer Schule gewesen. Und er hat, im Gegensatz zu mir, daheim keine Bücher bekommen, durch die er etwas über die NS-Zeit lernen konnte.
Gegen halb vier fragte mich Derek:
"Hast du deinen komischen Freund schon gesehen?"
"Welchen komischen Freund?"
"Du weißt doch, wen ich meine - deinen Rafa da."
Rafa saß an der Bar, in der Nähe der Schwingtür zum Vorraum. Ich konnte nicht erkennen, mit wem er sprach; es war viel Gedränge im "Elizium". Ich sah lediglich, daß Rafa sich immer noch nicht vernünftig rasiert hatte, daß er silberne Creolen trug und daß er ganz in Schwarz ging, wie in der vorherigen Nacht.
Ich holte meine Tasche und ging hinaus zu den Toiletten, um mich nachzuschminken und die Frisur zu überprüfen. Rafa war unterdessen auch hinausgegangen. In der Schwingtür kam er mir entgegen; da wollte er wieder nach drinnen. Er sah mich mit einem beschwörenden Blick an. Ich guckte ebenso beschwörend und kraulte mit einer "Warte, ich eß' dich noch!"-Geste seine Schulter. Dann gingen wir beide weiter. Ich sah Rafa etwas später an der Bar stehen und bezahlen; alsbald verschwand er.
Rufus war aus HB. ins "Elizium" gekommen und hatte die neue Vinylplatte von Winterkälte dabei. Das Cover besteht aus grober Pappe, die mit Paketschnur zusammengenäht wurde. Es ist von Hand bedruckt mit einem schwarzen Linolschnitt, der einen Strommast darstellt. Vielleicht ist diese Ausgabe deshalb so streng limitiert.
Zu fünft schrien wir auf Xentrix ein, bis er endlich ein Stück von dieser Platte spielte - "Atmosphere vs. CH4". Das Stück hat einen zerschmetternden Rhythmus. Xentrix legte nach mit "Never forget" von P.A.L, das mit dem folgenden Sample beginnt:
"Als ich meiner Familie weggenommen wurde, war ich neun Jahre alt. Man steckte mich in ein Heim für schwererziehbare Kinder. Ich dachte, ich hätte schon genug gebüßt!"
Außerdem liefen das Ölfaß-Percussion-Stück "Gloire au Rhino" von den Tambours du Bronx und der romantische Klassiker "Secret October" von Duran Duran.
Saara kam frühmorgens ins "Elizium" und berichtete, Rafa sei gegen halb fünf, nach seinem Besuch im "Elizium", ins "Exil" gestürmt. Er habe nur rasch seinen CD-Koffer geholt und sei mit diesem und einer Flasche Rotwein wieder fortgerannt. Mit oder zu welcher Person Rafa eilte, war nicht herauszufinden. Es war möglich, daß es sich um das Mädchen mit dem langen roten Zopf handelte. Allerdings soll dieses Mädchen zu Greta gesagt haben, es wolle mit Rafa "gar nichts machen", sondern sich nur "richtig gut mit ihm unterhalten".
Freilich wissen wir nicht, was dieses Mädchen mit "unterhalten" meint.
Rafa soll von sich gegeben haben, daß er schon tagelang nicht mehr daheim geschlafen hat; er sei Nacht für Nacht woanders gewesen. Allerdings betonte er, er sei gar nicht so schlimm, wie die Leute glaubten.
U.W. war in der Samstagnacht im "Exil". Rafa grüßte ihn freundlich. U.W. wunderte sich darüber.
Am Sonntag habe ich geträumt:

Ich kam in ein hell erleuchtetes Konferenzzentrum, einen modernen Palast. Rafa begegnete mir. Ich umarmte und streichelte ihn. Rafa machte sich ein Vergnügen daraus, mir und seinen Begleitern Anweisungen und Erklärungen zu geben. Am oberen Ende einer Rolltreppe meinte er, wir hätten jetzt sicher alle Hunger, und wir könnten kostenlos zu einem Imbiß kommen, wenn wir unten in der Küche bei einem von Rafas Bekannten "bitte-bitte" machten. Da würde es dann belegte Brötchen geben.
"Belegte Brötchen - o.k.?" fragte Rafa in die Runde.

An meinem Geburtstag war es bitter kalt, aber hell und sonnig. Constri und ich liefen im goldenen Licht des Nachmittags Schlittschuh auf der wassergefüllten ehemaligen Tonkuhle in Awb. Ich fotografierte Constri, wie sie mit Ohrenschützern und webpelzbesetztem Mantel weit ausgezogene Schnörkel in die Schneedecke lief, die auf der Eisfläche lag.
Vor über zwanzig Jahren bin ich schon in der Tonkuhle Schlittschuh gelaufen, damals aber weit unten in der Tiefe und nur auf schmalen Pfützen, denn sie war zu dieser Zeit noch nicht stillgelegt.

In einem Traum Anfang Februar wurde in einer Fernsehzeitung eine Doku über Rafa angekündigt, die er selbst filmisch mitgestaltet hatte. Untertitelt war die Doku mit:
"E i n e   S e n d u n g   v o n   W . E"
Der Sender, auf dem die Doku laufen sollte, war neu. Ich mußte ihn erst eintunen. Weil die Sendung gerade begann, setzte ich mich eilig vor den Videorecorder und tunte, bis ich den Kanal bekam. Die Doku war in Schwarzweiß gedreht. Rechts sah man Rafas hübsch geschminktes Gesicht, links liefen die Namen der Mitwirkenden vorbei, und unten liefen die Namen der Titel vorbei, die in der Sendung angespielt wurden. Eine der Mitwirkenden hieß Tessa Reuter. Ich mußte gleich an die Sängerin denken und befürchtete, daß sie diese Tessa war.
Die Doku war gestaltet wie ein Videoclip, mit vielen Tricks. Als Rafa und sein Interviewer in Rafas Schlafzimmer Kaffee tranken, flogen die Tassen durch die Luft wie Ufos. Ich war beeindruckt von der Mühe, die Rafa sich mit der Doku gegeben hatte, und ich war beeindruckt von seiner Kreativität. Kritisch fragte ich mich, ob ich kreativ genug war, um mit Rafa mithalten zu können. Ich wollte nicht weniger können und schaffen als er.

Am Freitag legte Macro im "Exil" auf. Ich traf Ted, Marvin, Cyan und Saara. Saara erzählte, sie habe in der Woche versucht, Rafa zu erreichen. Die Mutter sagte ihr am Telefon, sie habe Rafa schon tagelang nicht mehr gesehen.
"Ich weiß nicht, wo der ist", erzählte sie, "aber das geht mich ja auch nichts an, was der macht. Das ist seine Sache."
Als Saara noch einmal anrief, teilte die Mutter ihr mit, Rafa sei ganz erschöpft nach Hause gekommen und gleich ins Bett gefallen.
"Ich weiß nicht, wo der war", sagte sie, "aber das kann mir ja auch egal sein."
"Mir kann es auch egal sein", meinte Saara.
Die Mutter und Saara unterhielten sich kurz; die Mutter fragte Saara, wie es ihr ginge und derlei Alltäglichkeiten mehr.
Als Saara den Rafa endlich ans Telefon bekam, erkundigte sie sich danach, was er am Wochenende getrieben hätte - er sei mehrere Tage fortgewesen und dann völlig erschöpft nach Hause gekommen. Was ihn denn so angestrengt hätte?
"Du denkst bestimmt, ich war bei einer Frau", schnappte Rafa.
"Natürlich", meinte Saara, "das ist doch klar - wenn jemand mit einer Flasche Rotwein aus dem 'Exil' rennt ..."
"Das war aber nicht so!" verteidigte sich Rafa.
"Ja, ja", sagte Saara und dachte:
"Red' du nur!"
Rafa bekniete Saara, am Freitag zu ihm ins "Contrast" zu kommen. Er bot ihr an, mit ihr danach bei ihm noch einen Kaffee zu trinken. Sie lehnte ab.
"Ich habe am Samstag noch nichts vor", tat Rafa, als hätte er meine Geburtstagsfeier vergessen. "Hast du am Samstag Zeit? Dann könnten wir uns treffen."
"Was ist am Samstag, he?" fragte Saara mit einem strafenden Unterton.
"Was soll am Samstag sein?" stellte Rafa sich dumm.
"Weißt du nicht, was am Samstag ist?" fragte Saara nach.
"Ach, ja - ehm", spielte Rafa den sich Erinnernden.
Er versprach, Saara am Samstag anzurufen und sich mit ihr dann für meine Party zu verabreden. Saara nahm sich vor, Rafa selbst anzurufen, wenn er sie nicht anruft.
Ich glaube, wenn Rafa Saara nicht hätte, die ihn mitnimmt, würde er sich nicht trauen, zu meiner Geburtstagsfeier zu kommen.
Über Kappa will Saara in Erfahrung gebracht haben, daß die Besitzer des "Exil", Blanda und Said, ihm die Mitbeteiligung entzogen haben und daß er jetzt nur noch Angestellter ist und angeblich für vierzehn Mark Stundenlohn arbeitet. Es heißt, Kappa soll zuviel Unfug gemacht haben. Allerdings können das auch alles nur Gerüchte sein, und Kappa verdient in Wirklichkeit mehr.
Saara will gemeinsam mit Stens Freundin Aimée etwas aushecken gegen Sharon, von der sie sich provoziert fühlen. Ich riet Saara von solchen unsauberen Methoden ab.
"Wer moralisch unangreifbar ist, steht am besten da", erklärte ich. "Wer moralisch angreifbar ist, bringt sich selbst in die schlechtere Position."
Weil es Neuschnee gegeben hatte, lieferten sich Ted, Marvin und Cyan auf dem Heimweg noch eine Schneeblallschlacht.



Am Samstagnachmittag rief Saara mich an. Sie hatte mit Rafa telefoniert.
"Ich wäre fast weggewesen", sagte er zu Saara. "Du kannst von Glück reden, daß du mich noch erreicht hast."
"Was ist denn mit heute?"
"Wieso - heute?"
"Ja, heute ist doch Samstag."
"Ja, und?"
"Ja, weißt du nicht, was heute ist?"
"Nein, was ist denn?"
"Na ja, Hettys Geburtstag."
"Aach, Mensch, habe ich voll vergessen!" spielte Rafa Theater. "Aach, eigentlich habe ich auch schon was anderes vor."
"Nein, du mußt mitkommen; du hast es versprochen."
"O.k., ich komme; ich hab's versprochen. Du mußt aber mitkommen. Alleine will ich da nicht hingehen. Aber ist echt blöd - ich habe gar kein Geschenk ..."
Er erkundigte sich danach, wieviele Leute auf der Party sein würden. Saara sagte ihm, es seien etwa fünfzig.
"Oh - em ...", sagte Rafa etwas verschreckt.
Saara fragte ihn, ob er nach der Party noch ins "Exil" wolle.
"Bloß nicht ins 'Exil'!" erwiderte Rafa. "Am Ende muß ich da noch arbeiten! Ich bin froh, daß ich da mal nichts tun muß!"
Er erzählte, vor der Party müsse er noch zu Lara; er wolle aber versuchen, sich dort so früh wie möglich "loszueisen". Um neun, zehn oder elf Uhr abends wollte er Saara vom Bahnhof in SHG. aus anrufen und ihr den Zug nennen, mit dem er nach H. kam. Er fragte Saara, ob es ihr möglich sei, binnen einer halben Stunde von ihrer Wohnung aus zum Hauptbahnhof in H. zu kommen und ihn vom Zug abzuholen. Sie bejahte.
Ich war mir ganz und gar nicht sicher, daß Rafa es schaffen würde, von Lara wegzukommen und Saara anzurufen. Saara aber meinte, Rafa würde hundertprozentig zu meiner Party kommen; er müsse kommen.
Saara und ich plauderten noch ein wenig. Saara erinnerte sich daran, wie sie im letzten Frühjahr mit Rafa bei Kappa war und Kappa sie bat, Rafa mitzunehmen. Sie ließ Rafa ans Steuer ihres Wagens, weil sie getrunken hatte. Rafa hatte aber auch getrunken, und zwar nicht wenig. Er soll fürchterlich gefahren sein.
Zur Party zog ich wieder das rote Samtkleidchen an. Malda schenkte mir ein rotes Schleifchen von der AIDS-Liga, das ich mir an einen der spitzenbesetzten Träger steckte.
Im Balkonzimmer - Carls ehemaligem Zimmer - hängen seit dem Jahreswechsel schwarzweißes Kreppapier und schwarzweiße Luftschlangen von den Wänden, und in Augenhöhe habe ich abstrakte Postkarten von SALT vom "Ant-Zen"-Label vor die Luftschlangen gesteckt. Es gibt eine Lichterkette, Schwarzlicht, Kerzen und Grablichte. Neu ist die Spinnweben-Dekoration in der Eßecke, bei der Clarice mir geholfen hat. Eine schöne Ergänzung ist mein Geburtstagsgeschenk von Constri, ein Mobile. An einem Spinnennetz aus Silberdraht stecken und hängen kunstvoll gearbeitete Tonpapierspinnen, von denen einige ein Kreuz tragen. Es gibt auch Opfer - eine eingewickelte Fliege und einen eingewickelten Brummer.
Über vierzig Gäste zählte ich. Onno brachte mich auf eine Idee:
"Hast du eigentlich ein Gästebuch oder sowas?"
Ich freute mich sehr über diese Anregung und holte rasch ein schwarz eingebundenes Buch. Solche Bücher habe ich lange Zeit fürs Diarium verwendet, und ich habe noch einige unbeschriebene. Das Buch wird mit dem silbernen Schriftzug "Gäste" bepinselt, und als die Farbe getrocknet ist, gebe ich es herum. Onnos Anregung gefällt mir unter anderem deshalb so sehr, weil ich ein Gästebuch meiner Urgroßmutter besitze und mich schon als Kind danach gesehnt habe, auch einmal ein Buch voller netter Eintragungen zu haben.
Derek trinkt auf dieser Party schon wieder zuviel und benimmt sich schauerlich, allerdings in anderer Weise als zu Silvester. In der Küche umarmt er Dags und Rufus' Bekannte Rowena recht heftig. Constri geht wütend mit Folter nach draußen. Rowena ist verzweifelt. Sie hält sehr viel von Constri und möchte es sich auf keinen Fall mit ihr verderben. Ich empfehle ihr, mit Constri ein offenes Wort zu sprechen. Als Constri zurückkommt, erzähle ich ihr, daß Rowena die Geschichte furchtbar peinlich ist, und daß sie das nicht gewollt hat. Constri und Rowena unterhalten sich und kommen überein, daß die Schuld bei Derek zu suchen ist. Derek ist inzwischen so betrunken, daß man ihn als unzurechnungsfähig einstufen muß.
Es geht auf Mitternacht zu. Ich erzähle Constris und meinem langjährigen Bekannten Hector, daß der Mann, den ich liebe, wohl nicht zu meiner Party kommen wird, weil er große Angst davor hat. Hector möchte wissen, ob das nicht traurig sei für mich.
"'Traurig' ist das falsche Wort", meine ich. "Ich weiß ja, wenn einer etwas nicht kann, dann kann er es nicht, oder er kann es erst nach langem Ringen und schweren Kämpfen. Kleine Schritte sind bei so einem Menschen ganz anders zu werten als große, die andere mit Leichtigkeit nehmen."
Es klingelt, und ich gehe zur Tür. Saara kommt die Treppe hinauf, dann ihre Bekannte Berit, und dahinter versteckt sich Rafa.
"So - jetzt werden alle umarmt", begrüße ich diese letzten Gäste.
Ich gehe ins Treppenhaus, lasse mir gratulieren und umarme alle der Reihe nach. Auch Rafa gibt mir die Hand und gratuliert. Ihn umarme ich besonders lange; ich kann gar nicht aufhören damit. Er wehrt sich nicht.
"Oh, Entschuldigung", sage ich, als ich ihm übers Haar streichle. "Es tut mir leid; ich kann einfach nicht anders."
Rafa ist niedlich zurechtgemacht; er hat sich anständig rasiert und trägt einen Wintermantel in schwarzweißem Fischgrätmuster und passend dazu einen schwarzweißen Schal. Die Creolen - seine Lieblings-Ohrringe - trägt er auch.
Als ich mit Rafa nach drinnen gehe, stelle ich ihn kurz dem einen oder anderen vor.
"Oh! Du bist ja wirklich da!" staunt Carl, als er Rafa hereinkommen sieht.
"Mäuschen", haucht mir Malda ins Genick, "ich freue mich ja so! Ich wünsch' dir viel Spaß!"
"Das hast du gut gemacht", sage ich leise zu Saara.
"Tja - auf mich ist eben Verlaß", meint sie nicht ohne Stolz.
Rafa entdeckt "seinen" Platz, einen Stuhl vor dem Fenster in der Eßecke. Er hängt seinen Mantel über die Lehne. Er trägt ein weißes Hemd mit Fliege und eine schwarze Jacke im Uniformstil. Ich muß immer wieder flüchtig die Arme um seine Schultern legen oder mit einem Finger über sein Haar streichen. Rafa bewundert das Spinnen-Konfetti, das ich überall verstreut habe. Der Weihrauch-Duft gefällt ihm nicht.
"Ist das Poppers?" fragt er.
Als ich wissen möchte, was Poppers denn sei, sagt man mir, das sei ein Alleskleber.
Irgendwann hatte ich mal gehört, daß Poppers ein Aphrodisiakum sein soll oder etwas Ähnliches.
Ich frage Saara, Berit und Rafa, ob sie etwas essen wollen, aber sie wollen nichts.
"Willst du etwas Bestimmtes trinken?" frage ich Rafa.
"Hast du Sekt, der nicht trocken ist?"
"Das dürfte schwierig sein", vermute ich. "Das weiß ich nicht, ob wir Sekt haben, der nicht trocken ist. Wir haben aber 'Dracula'."
"'Dracula' ist gut!"
Ich hole "Dracula's Blood" und Likörgläschen. Dann setze ich mich zu Rafa. Wir stoßen an.
"Und?" frage ich ihn. "Wie geht's?"
"Gut."
"Das ist schön."
Rafa gießt sich Bier mit Cola ein. Er gibt mir sein Geschenk, eingewickelt in Papier mit Schachbrettmuster. Es ist verziert mit einer Tarot-Karte, "Der Turm". Ich finde in dem Päckchen eine Karte mit Murnaus "Nosferatu" und Geburtstagsgrüßen:
"Alles Gute und Liebe zu deinem Geburtstag! - ... Hetty
Honey 2 / 96
Prediger 3, 1 - 2"
Dann sind da ein kleiner Hampelmann aus Holz und ein Fläschchen mit Kräuterlikör; "Scheunenspuk" steht darauf. Und eine CD finde ich, "The unacceptable Face of Freedom" von Test Department.
"Das ist eine der besten CD's, die es gibt", bemerke ich.
"Sag' bloß, die hast du schon!" stöhnt Rafa.
"Ja, die habe ich schon."
"Oh, nein! Mensch, warum hast du die schon? Echt, Mensch - warum hast du die schon?"
"Das konntest du doch nicht wissen", versuche ich ihn zu trösten. "Das ist eine Rarität. Ich habe sechs Jahre lang danach gesucht, und erst im letzten Dezember habe ich sie bei 'Soundhouse' gekauft."
Rafa warnt mich vor dem Fläschchen "Scheunenspuk":
"Das schmeckt völlig ätzend."
"Warum hast du es mir dann geschenkt?"
"Das ist das 'Yps-Survival-Paket'", erklärt Rafa. "Was zum Trinken, was zum Spielen und was zum Hören."
"Das ist süß. Hast du früher immer 'Yps' gesammelt?"
"Natürlich. 'Yps' erinnert mich immer an die Achtziger Jahre. Das ist für mich untrennbar verbunden mit den Achtzigern."
"Das hat es aber auch in den Siebizgern schon gegeben."
"Ja, aber in den Achtzigern, da war es doch das Kultheft."
"Jetzt gibt es das nicht mehr, oder?"
"Nein."
"Ich habe immer 'Asterix' gelesen in den Siebizgern."
"Da war aber kein Gimmick bei!"
Rafa kann es nicht verwinden, daß ich "The unacceptable Face of Freedom" schon habe.
"Echt, Mensch - warum hast du die CD schon?" seufzt er.
"Das konntest du doch nicht wissen", beruhige ich ihn. "Die habe ich auch erst seit Dezember. Nach der habe ich sechs Jahre lang gesucht, und dann habe ich sie bei 'Soundhouse' gefunden und gleich gekauft."
Mir fällt etwas ein:
"Du kriegst auch noch ein Geschenk von mir."
Ich stehe auf und streichle Rafa kurz übers Haar. Dann hole ich das "Blood Axis"-T-Shirt aus dem Schrank, sein Geburtstagsgeschenk. Ich hatte es für ihn noch einmal besorgt, damit wir beide es haben. Es ist dunkelrot und aus schwerer Baumwolle. Vorn trägt es in Schwarz, Grau und Weiß das "Blood Axis"-Emblem und das Bild einer Steinskulptur, die den Bezwinger eines Ungeheuers darstellt. Ich finde, daß Rafa Dunkelrot sehr gut steht und daß das Motiv schön zu ihm paßt, fühlt er sich doch Helden eng verbunden. Unverpackt lege ich ihm das Stoffbündel in die Arme und sage:
"Hier."
"Was ist das?"
"Das ist dein Geschenk. Also, ich finde es toll ..."
Rafa faltet das T-Shirt auseinander. Er scheint sich darüber zu freuen.
"Danke schön", sagt er lächelnd und gibt mir die Hand. "Echt - danke schön."
Ich hole die Kamera und fotografiere Rafa. Beim ersten Bild hat er die Kamera noch nicht bemerkt, und er guckt entspannt. Durch das Blitzlicht aufgeschreckt, nimmt er sich eine Colaflasche und hält sie vor sein Gesicht. Er guckt böse und liest geschäftig das Etikett vor. Ich mache ein Bild mit Colaflasche; dann warte ich, bis Rafa die Flasche wegstellt, und mache noch zwei Bilder. Dann bringe ich das Gästebuch her. Rafa schreibt artig ein Sprüchlein in das Buch:
"Alles ist möglich! ... und auch für Hetty ... - !
Honey 2 / 96"
Darunter malt er die aufgerissenen Augen, die auf den "Kleiner Feigling"-Flaschen zu sehen sind. "Rafa ist manchmal wirklich so ein kleiner Feigling", denke ich.
Inzwischen hat er seine Brille mit den gelben Gläsern aufgesetzt. Wahrscheinlich fühlt er sich damit sicherer unter all den Fremden.
Mal und Dedis haben eine Schwarzwälder Kirschtorte mitgebracht. Ich hole mir ein Stück und eine Tasse Kaffee und suche nach einem Platz am Eßtisch. Saara hat den Stuhl neben Rafa belegt, und ich muß mich gegenüber hinsetzen. Rafa schlingt einen Arm um Saara; vielleicht sollen die Leute glauben, er sei mit ihr zusammen. Ich bin wütend auf Rafa, will aber jetzt nichts sagen. Er läßt Saara alsbald wieder los.
Wie Saara mir später erzählt, hat sie Rafa gebremst, als er sie umarmte:
"Was soll das? Hör' auf!"
"Gefällt's dir nicht?" fragte er.
"Nein, das gefällt mir nicht."
"Warum gefällt dir das nicht?"
"Ich mag's halt nicht."
Da ließ er von ihr ab.
Ich möchte mich gern wieder zu Rafa setzen, doch Saara sitzt noch auf dem Stuhl.
"Willst du bei mir auf dem Schoß sitzen?" bietet sie an.
"Ja, gern", antworte ich.
"Nein, du darfst nicht bei mir auf dem Schoß sitzen!" sagt Rafa schnell.
"Das weiß ich doch", entgegne ich, "das kennen wir doch schon. Davon ist hier auch gar nicht die Rede."
Ich setze mich auf Saaras Schoß.
Rikka kommt am Eßtisch vorbei. Sie ist schon recht angeheitert. Als sie entdeckt, daß Rafa gekommen ist, betrachtet sie ihn mit unverhohlenem Staunen und fiept:
"Ooh! Wer ist denn da? Oh, wer ist denn da?"
"Das ist deine Schwester", rät er, zu mir gewandt.
"Nein, das ist Rikka."
Rafa fragt Rikka:
"Warum verwechsle ich dich eigentlich immer mit Hettys Schwester?"
"Das weiß ich auch nicht."
Es wird nach mir gerufen. Ich soll die Platte von der Liedertafel Margot Honecker anmachen, eine Verballhornung "sozialistischer Tanzmusik". Rikka und Constri tanzen dazu eine Art Polka.
Als jemand "Didgeridoo" von Aphex Twin anmacht, ist Rafa beeindruckt:
"Das ist Techno? Sauber."
Merle sagt zu mir, sie habe sich schon gedacht, daß Rafa kommt. Ob ich mich jetzt nicht sehr freue?
"Einerseits freue ich mich sehr", sage ich leise. "Aber bei ihm muß man immer vorsichtig sein ..."
Rafa wäscht Plastikgläschen aus. Saara und Berit nehmen auch Tequila. Jetzt können wir alle gemeinsam mit Salz und Zitrone herummanschen.
Für Mal, Dedis und Hendrik wird es Zeit, zu gehen. Sie kommen an den Tisch und verabschieden sich.
"Wer ist denn dieser Andy Warhol?" fragt mich Rafa.
"Das ist Mal vom Notstandskomitee", stelle ich vor.
"Ach - ja", erinnert sich Rafa an Mals Soloprojekt, "ich wußte doch, ich habe den schon mal gesehen."
Er ruft Mal her und redet kurz mit ihm über den C 64.
"Wir beide haben zusammen zu Kraftwerk getanzt", erinnert sich Rafa.
"Du mußt mal zu 'Klangwerk' kommen", wirbt Mal für seine Tanznacht.
Das will Rafa in Erwägung ziehen. Ich glaube allerdings nicht, daß Rafa sich trauen wird, mit mir diese Reise zu machen.
Nach einer Weile zieht Rafa los, um Kontakte zu meinen Gästen zu knüpfen. Im Flur unterhält er sich mit einigen Leuten darüber, was auf den Bildern an einem Schrank zu sehen ist.
"Was ist das für eine Gruppe auf dem Bild?" fragt mich Rafa.
"Front 242", gebe ich im Vorbeigehen Auskunft.
In Rafas Kopf scheint es neblig zu werden. Er schließt sich mit Saara auf der Toilette ein.
"Die reden da nur", versichert mir Berit.
Ich bekomme nachher von Saara zugewispert, daß Rafa beschlossen hat, sich an Carl heranzumachen.
Es ist schon spät und auch schon etwas leerer, als Rafa sich in das große Balkonzimmer wagt. Er betätigt sich als DJ. Zuerst spielt er Musik, die für die meisten von uns tanzbar ist, etwa "Call it weird", "Going round" und "Louise" von Xymox.
"Nicht mehr reden", weist Rafa uns an, bevor er "Louise" spielt. "Nur noch zuhören und genießen."
Später dann geht Rafa zu seiner eigenen Musik über. Er hat sein aktuelles Album auf dem Stapel gefunden, "Alles ist möglich". Es reicht ihm nicht, ein oder zwei Stücke davon zu spielen; er legt die CD ein und läßt sie durchlaufen.
Rafa fragt mich, ob ich ihm Kaffee machen könnte.
"Ja, ich mache gleich Kaffee", verspreche ich und lege von hinten die Arme um seine Schultern.
Als der Kaffee fertig ist, hole ich Rafa in die Küche und frage ihn, welche Tasse er möchte. Er sucht die Tasse mit der schwarzen Katze aus. Es kommen noch mehr Leute, die Kaffee wollen, auch der von Sadia verlassene Arved. Arved hatte mir einen Strauß roter Rosen zum Geburtstag geschenkt.
Rafa legt drei Kügelchen aus zusammengerolltem Silberpapier nebeneinander auf die Anrichte und gibt Arved eine Aufgabe zu lösen. Er macht Arved vor, wie er die Kügelchen nacheinander in seiner Hand sammelt und wieder ablegt und dabei bis zehn zählt. Wenn er bis zehn gezählt habe, müßten alle drei Kügelchen liegen wie zu Anfang. Arved findet sogleich einen Trick, mit dem die Aufgabe gelöst werden kann. Rafa lobt ihn und meint:
"Ja, das sind immer diese kleinen Sachen, die mag ich so."
Rafa geht schließlich auch in mein Zimmer und hat ein angeregtes Gespräch mit den drei Herren Miro, Seth und Reesli. Er stellt sich vors Sofa, wo sie sitzen, und predigt ihnen etwas vor:
"Ich bin aufgewachsen in der Welt der Sechziger und Siebziger."
"Ja, ja, die Sechziger", sage ich im Vorbeigehen zu Rafa, "alles klar."
Rafa zeigt auf ein Foto über dem Sofa.
"Das hier ist mein Lieblingsbild", erzählt er. "Da hängt nämlich eine kleine Geschichte dran. Der Arm geht nämlich hier noch weiter, und in der Hand halte ich eine Fernbedienung. Und in der Fernbedienung waren keine Batterien drin. Alle anderen wußten, daß da keine Batterien drin waren, nur ich nicht. Alle haben gesagt, daß ich damit den Fernseher nicht anmachen kann. Und ich habe so voll den Könner 'rausgekehrt und gemeint, klar kann ich damit den Fernseher anmachen. Und auf dem Foto gucke ich noch voll siegesgewiß."
Im Balkonzimmer redet Rafa lange mit Constri. Sie nimmt ihn gehörig auf die Schippe, und er spielt mit. Clarice und ich sitzen davor und lauschen.
"Wie alt bist du?" wird Constri von Rafa gefragt.
"Neunzehn", antwortet die achtundzwanzigjährige Constri mit ernster Miene. "Ach, nein - vierzehn."
"Was willst du denn später mal so machen?"
"Abitur."
"Und danach?"
"Mediendesign studieren."
"Ach, so."
"Ich habe gehört, du hast auch künstlerische Ambitionen", sagt Constri. "Daß du malst ..."
"Malen ... ich male eigentlich nicht; ich streiche nur Häuser an", behauptet Rafa. "Das ist bei mir nur handwerklich."
"Wie alt bist du denn?"
"Fünfunddreißig", gibt er sich zehn Jahre mehr.
"Oh", tut Constri erstaunt, "dich hätte ich jetzt glatt auf älter geschätzt."
"Mich? Wieso?"
"Du sieht so ... reif aus."
"Ja, ich habe ja auch schon erwachsene Kinder", fabuliert Rafa. "Mein Sohn, André, der ist schon in der Schule, und meine Tochter, Sarah, noch nicht."
Constri fragt Rafa, wie es ihm auf der Party gefällt.
"Hier lernt man sehr viel", meint er, "besonders über diese Person, die ... wie heißt die noch ... die hat doch, glaube ich, Geburtstag gehabt oder so ..."
Clarice und ich kichern.
"Was lernt man denn so über diese Person?" forscht Constri.
Sie bringt aus ihm heraus, daß es wohl etwas mit dem Innern zu tun hat. Was aber genau, mag Rafa nicht sagen.
"Hat es etwas mit dem Herzen zu tun?" fragt Constri nach.
"Hertz ...", überlegt Rafa. "CD's und Dats laufen mit 48 Kilohertz, Mini-CD's laufen nur mit 40 Kilohertz ... oder so ..."
"Da gibt es aber auch noch das Herz ohne 't'."
"Ach, das ... was war das nochmal ... was war das nochmal ... ach ja, beim Kartenspiel, da gibt es Bube, Dame, König, As, und da gibt es auch Herz, Kreuz, Pik und Karo."
"Ja, aber ich meine jetzt nicht das Herz aus dem Kartenspiel. Da gibt es auch noch ein anderes Herz."
"Ach, ja!" tut Rafa, als fiele ihm das eben wieder ein. "Da gibt es noch das ... sitzt irgendwie über der Bauchhöhle und schlägt irgendwie, oder sowas."
"Er ist furchtbar in mich verliebt und würde lieber sterben, als das zuzugeben", raune ich Clarice ins Ohr.
"He!" ruft uns Rafa zur Ordnung. "Was habt ihr denn da wieder miteinander zu flüstern?"
"Die beiden sind doch gar nicht da!" beruhigt ihn Constri. "Wir sehen sie doch gar nicht! Die Wand ist hier. So ... und jetzt sind wir ganz locker .... ganz entspannt ... und jetzt können wir ganz frei reden! Ganz frei und locker und entspannt! Nun, was lernen wir? Hm, was lernen wir?"
Rafa weicht immer noch aus, auf sehr phantasievolle Art. Das Gespräch entwickelt sich zur echten Nonsens-Unterhaltung. Es geht um die Frage, ob Oslo hinter Spanien liegt oder hinter Köln und ob Köln im Norden oder im Osten liegt. Schließlich kommen Constri und Rafa auf Monatshygiene zu sprechen.
"Nimmst du 'o.b.' oder 'Tampax'?" fragt Rafa.
"Ich nehme beides", antwortet Constri.
"Ich nehme 'o.b.'", erzählt Rafa.
'Tampax' findet er nicht so gut.
"Wieso?" fragt Constri. "Die haben doch diese praktische Einführhülse."
Clarice und ich sind im schönsten Lachen, als Saara heranwankt, kreideweiß im Gesicht. Sie hat vier Tequila getrunken, und das war zuviel. Sie fragt mich, was sie machen soll. Ich empfehle frische Luft. Berit schleppt Saara auf den Balkon.
"Na, und was macht dein Derek?" fragt mich Rafa.
"Der kotzt so vor sich hin", gebe ich Auskunft und führe Rafa zu meinem Sofa, wo Derek liegt, schlafend und schwer betrunken. "Ja, das ist jedesmal dasselbe mit ihm. Entweder er zerlegt die Bude, oder er kotzt."
Rafa entdeckt Clarice für sich und holt Bier aus dem kleinen Zimmer.
"Ich habe da eben wen kennengelernt", sagt er im Flur zu mir, "und ich trinke jetzt ein Bier mit der. Darf ich doch?"
"Ja - solange es nur das ist."
"Eben!"
Er setzt sich mit Clarice auf mein Bett. Ich kümmere mich nicht um die beiden, habe ich doch mit meinen anderen Gästen genug zu tun. Saara geht es immer noch nicht besser, und sie muß für ein Weilchen in der Toilette verschwinden. Mit grauweißer Gesichtsfarbe kommt sie wieder heraus und teilt uns mit, daß es ihr nicht gelungen ist, sich zu übergeben - wahrscheinlich, weil sie nichts gegessen hat.
"Was macht man gegen sowas?" fragt sie mich.
"Am besten ist Schlafen", empfehle ich. "Bloß keinen Kaffee trinken."
"Aach ... Kaffee wollte Rafa mir schon andrehen ... trink' doch einen Kaffee, hat er gesagt. In der Küche war aber keiner mehr. Da hat er gesagt, trink' doch von meinem. Dann war da aber Zucker drin, Milch und Zucker, und davon ist mir erst richtig schlecht geworden."
Rafa will noch mehr Tequila trinken. Ich verspreche ihm, daran zu denken, doch ich finde nicht die Zeit dafür. Rufus meldet schon zum zweiten Mal an, daß er zu Winterkälte tanzen möchte. Ich schalte Rafas CD auf "Stop" und mache für Rufus und mich "Atmosphere vs. CH4" von der Winterkälte-LP an, das ich zum Schutz der Platte auf Band überspielt habe. Es ist ein heftiger Kontrast zu Rafas lieben Liedchen. "Atmosphere vs. CH4" hat einen Rhythmus, der Straßendecken aufreißen könnte, und über dem Rhythmus schleift ein hohes Fiepen, das einen quer über die Tanzfläche schleudert - ob man das nun will oder nicht. Wir tanzen zwischen leeren Stühlen. Hinten in der Ecke liegen Brinkus und Marvin und schlafen, mit einem ordentlichen Pegel im Kopf.
"Heetty!" schreit Rafa vom Flur her.
"Ich kann nicht!" rufe ich. "Ich kann jetzt nicht!"
Anstatt herzukommen und sich zu vergewissern, schreit Rafa noch lauter:
"Heettyy!"
Es ist ähnlich nervenaufreibend, wenn Bisat mich aus dem Schlaf miaut.
"Heettyy!"
Um jeden Preis will Rafa meine Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken. Er scheint eifersüchtig zu sein - auf die vielen Gäste, die meinetwegen gekommen sind, auf mein Vergnügen am Tanz und auf die entfesselte Industrial-Musik, die ich seiner Musik vorziehe. Ihm ist danach, Ärger zu machen. Angst, Alkohol und Eifersucht - wenn das zusammenkommt, muß Rafa irgendetwas anstellen. Da ich den schreienden Rafa nicht leiser regeln kann, beschließe ich, den Baum mit den Wurzeln auszugraben. Ich renne in den Flur und lehne mich an einen Schrank, weil mir schwindelig ist.
"Was is'n?" fragt Rafa.
"Tanzen!" sage ich.
"Los, stell' dich da mal hin!" fordert Rafa mich auf.
Er packt mich bei den Schultern und schiebt mich neben den Schrank.
"Und jetzt dreh' dich mal ... nach links und schau' die Wand an", sagt er und dreht meinen Kopf zu der Seitenwand des Schrankes. "So - und jetzt die Preisfrage: Sag' mit nur einem Wort, was fällt dir an dieser Wand auf?"
"Nichts."
"Und was außer nichts? - Gut, darfst auch zwei Wörter sagen."
"Da hängen Bilder ..."
"Und? Und?"
"Die Bilder sind schön."
"Siehst du?" sagt Rafa zu Revil, mit dem er anscheinend gewettet hat. "Du hast verloren."
Endlich kann ich gehen. Ich bin verärgert, weil Rafa mich wegen einer Wette beim Tanzen gestört hat. Und weil ich weiß, daß Rafa sich ärgert, wenn ich nicht neugierig bin auf die Hintergründe und Ergebnisse seiner Wetten und Denkspielchen, nehme ich mir nicht die Zeit, nachzufragen, um was es bei diesem Spielchen eigentlich ging.
"Los, Rufus, wir tanzen weiter!" rufe ich und stürme fort.
Hinter mir scheppert es. Ich bleibe stehen und schaue mich um. Rafa hat das Bild von Front 242 vom Haken genommen. Es ist ihm aus der Hand gerutscht und auf das Betonregal gekracht.
"Was ist da los?" frage ich.
"Gar nichts", antwortet Rafa.
"Gar nichts?"
"Ja, wieso - ist doch noch heile."
Er hängt das Bild hastig wieder auf, zuerst falsch - hochkant. Dann hängt er es richtig auf, nur ein bißchen schief.
Im Balkonzimmer spule ich die Kassette zurück. Der Tanz beginnt von vorn. Als "Atmosphere vs. CH4" zuende ist, gehe ich in mein Zimmer. Saara sitzt mit Berit auf meinem Bett und rät mir:
"Guck' mal nach Rafa. Der ist mit Clarice ins kleine Zimmer gegangen und hat das Licht ausgemacht. Guck' da mal nach."
Die Tür des kleinen Zimmers ist nicht geschlossen, sondern nur angelehnt. Deutlich ist zu erkennen, daß das Licht gelöscht wurde. Ich überlege, unter welchem Vorwand ich Rafa auf frischer Tat ertappen könnte. Erst fällt mir keiner ein, und ich möchte Rafa bei seinen Sünden auch nicht stören; er soll lernen, ohne Aufpasser zu leben. Dann aber stelle ich fest, daß keine Cola mehr da ist. Ich habe großen Durst und finde kein Schlückchen mehr. Nur im kleinen Zimmer gibt es noch Cola. Also muß ich doch hineingehen. Ich entscheide mich für einen Überraschungsangriff. Mit einer Bewegung mache ich das Licht an und schaue hinter die Tür. Da unten im Winkel sitzen Rafa und Clarice nebeneinander und gucken harmlos. Allerdings hat Rafa seine gelbe Brille abgesetzt, und seine Haare sind deutlich zerzaust.
"Oh, ich brauch' unbedingt Cola ... ist hier Cola?" tue ich so, als sei ich nicht vorgewarnt. "Na ...? Ist man hier in trauter Zweisamkeit?"
"Ja, wir unterhalten uns gerade ganz nett miteinander", spielt Rafa den Unschuldigen.
"Wie traut das ist, wird man ja nachher sehen", sage ich mit einem leise drohenden Unterton.
Dann schnappe mir eine Colaflasche und mache das Licht wieder aus. Während ich ein Glas von der Cola trinke, kommen Rafa und Clarice aus ihrem Versteck. Saara raunt mir zu, daß Clarices Schminke verwischt ist.
"Die haben geknutscht", ist Saara überzeugt. "Ich weiß, wie die Schminke aussieht danach."
Sie möchte aufbrechen und Rafa auf jeden Fall mitnehmen. Wie eine Wärterin steht sie mit Rafa in meiner Zimmertür. Clarice und ich stehen davor.
"Du mußt eben immer auf alles noch ein Sahnehäubchen draufsetzen", sage ich zu dem etwas verwirrt blickenden Rafa. "Im Orient gibt es so einen Spruch über Frauen. Den müßte man auf Männer übertragen. Da müßte man dann sagen:
'Verdresche deinen Mann dreimal am Tag, auch wenn du nicht weißt, warum; er wird es wissen!'
Clarice wird mir erzählen, was dein Sündenregister ist. Danach baue ich dann das Strafmaß auf. Für Küsse gibt es zehn Stockschläge, für Umarmungen gibt es zwei Peitschenhiebe ..."
"Und was gibt's, wenn man sich unterhält?" fragt Rafa.
"Das darfst du", antworte ich.
"Und wie ist es mit Nettsein?"
"Na, ja - 'Nettsein' heißt ja für dich so viel wie 'Coitus'."
"Und wenn ich das auch will?" fragt Clarice.
"Das ist dann deine Sache", sage ich zu ihr. "Meine Sache ist nur das, was er macht."
Ich schaue Rafa scharf an und bemerke:
"Ja, ja, das sind immer diese Männer, die nicht reif werden wollen und immer denken, sie müßten die haben und die haben und die haben, sonst seien sie kein Mann. Du mußtest dich ja auch auf dem Friedhof mit Lara in die Büsche schlagen."
"Du redest immer nur von Sachen, von denen du keine Ahnung hast", zeigt Rafa sich ungehalten.
Das Taxi kommt. Rafa wird auf die letzte Minute unschlüssig, ob er mit Saara und Berit fahren soll. Saara geht mit ihm in mein Zimmer, lehnt die Tür an und bearbeitet ihn sorgfältig. Als sie die Tür wieder öffnet, hat Saara ihr Ziel erreicht: Rafa will sie und ihre "Anstandsdame" Berit begleiten.
"Ich muß mitkommen", sagt er schicksalsergeben. "Ich muß mitkommen."
Nun, da der Abschied nahe ist, läßt Rafa sich nicht nur von mir in die Arme nehmen, sondern er schließt auch die Arme um mich. Er tut ein paar gewagtere Griffe nach meiner Oberweite und drückt mich an sich.
"Du bist aber dünn", findet er.
"Das weißt du doch, daß ich dünn bin."
"Na ja, du wirkst so ... gebrechlich."
"Ich bin aber eigentlich ganz fit."
"Ja, aber ... bei dir traut man sich gar nicht, richtig zuzufassen", erklärt Rafa, "da denkt man, daß da was kaputtgeht."
"Oh ... du kannst ruhig richtig zufassen", ermutige ich Rafa und kuschle mich noch fester an ihn.
"Will ich aber nicht", sagt er. "O.k. ... nächstes Jahr sehen wir uns wieder ..."
"Nächstes Jahr?"
"Ja - auf deinem Geburtstag."
"Vorher sehen wir uns aber noch auf deinem Geburtstag."
"Ja. Vorher auf meinem."
"Aber dazwischen sehen wir uns doch auch nochmal."
"Ja", meint Saara, "ich habe ja auch noch irgendwann Geburtstag."
Das Taxi ist inzwischen weggefahren. Ein neues wird bestellt. Wir versammeln uns noch einmal in der Eßecke. Rafa nimmt Platz auf seinem Stuhl vorm Fenster. Ich bin die Einzige, die sich nicht hinsetzt. Ich bleibe neben Rafa stehen. Mein Bein legt sich an seins, und das gefällt mir sehr.
Rafa beauftragt Miro, ihm aus der Küche etwas zu trinken mitzubringen. Er bekommt Cola mit Tequila vorgesetzt. Nach dem ersten Schluck verzieht Rafa den Mund:
"Bähh ..."
"Was anderes war nicht mehr da", bedauert Miro.
Rafa nimmt damit vorlieb.
Wir unterhalten uns über Brillen. Saara meint, die gelbe Brille sei Rafa vor allem tagsüber von Nutzen; er müsse dann nicht sehen, wie weiß der Schnee ist. Ich finde das so lustig; ich muß Rafa immer anschauen und kichern. Mich begeistert das Niedliche an ihm, an seinem Wesen, seinem Gesicht und seiner Gestalt. Die anderen kichern, weil ich so entzückt bin und keiner recht versteht, weshalb. Rafa fragt schließlich, was denn mit mir sei, und ich erkläre:
"Ich finde das einfach so süß, diese Vorstellung, daß du die gelbe Brille aufsetzt, um den weißen Schnee nicht sehen zu müssen."
"Das ist doch gut", meint Rafa. "Eine Brille verändert die Sichtweise."
Er zeigt auf Miro und setzt hinzu:
"Du trägst ja auch eine Brille."
"Das ist aber keine gelbe Brille", erwidern Saara und ich. "Außerdem trägt er die, weil er kurzsichtig ist."
"Ich sage ja, eine Brille verändert die Sichtweise", nimmt Rafa das als Bestätigung. "Das ist die Freiheit jedes Menschen, seine Sichtweise zu verändern."
"Ich würde dich so gerne mal richtig schön fotografieren", sage ich sehnsüchtig, "so mit der Schirmmütze und der Haarsträhne."
"Mit welcher Schirmmütze?"
"Na, du weißt doch, welche. So eine schwarze, mit Schirm."
"Die hatte ich auf!" ruft Saara.
"Ach, die", erinnert sich Rafa. "Das ist eine Lokomotivführermütze."
"Ach - wolltest du als Kind auch immer Lokomotivführer werden?"
"'türlich!" sagt Rafa. "Drei Sachen wollte ich werden."
Er zählt fünf Sachen auf, darunter Superman und Tarzan. Als wir Rafa darauf hinweisen, daß das mit der Anzahl seiner Berufswünsche nicht so ganz stimmt, dreht er es hin und her und mogelt es zurecht, so daß es beinahe doch stimmt.
Rafa scheint dann nach neuen Wegen zu suchen, mich eifersüchtig zu machen.
"Deine Schwester ist echt nett", bemerkt er.
"Ja, Constri ist sehr nett", stimme ich ihm zu.
"Meine Schwester ist auch nett", sagt Constri zu Rafa.
Er guckt mich zweifelnd an.
"Ich bin unheimlich nett", versichere ich mit einem besonders netten Lächeln.
Rafa will das weder zurückweisen noch bestätigen.
"Wo ist denn der Carl?" erkundigt er sich.
"Der ist schon weg", antworte ich.
"Der ist im 'Elizium'", weiß Constri.
Rafa findet das merkwürdig.
"Ich hätte gedacht, daß es ihn länger in den vertrauten Wänden hält", sagt er.
"Das ist auch meistens so", erzählt Constri. "Nur heute ist es mal nicht so."
"Den Carl finde ich auch echt nett", meint Rafa. "Nur die Mütze, die sollte er sich mal weiter nach hinten ziehen."
Carl geht heute in Lack und hat sich eine Schirmmütze aufgesetzt.
"Ja - wie du es immer trägst", sage ich zu Rafa. "Du trägst sie ja auch immer weiter hinten."
Constri fängt wieder an, mit Rafa Unsinn zu reden - über geistige Sphären. Wo sie denn ihre geistige Sphäre ansiedle, möchte er wissen.
"In Köln", gibt Constri zur Antwort.
"Eins zu null für dich", lobt Rafa. "Und wo liegt Köln? Jetzt sag' bloß noch, hinter Oslo, dann hast du noch einen Punkt."
"Hinter Spanien", sagt Constri.
Dafür verteilt Rafa keinen weiteren Punkt.
Das nächste Taxi ist da. Rafa steht auf und zieht seinen Mantel über.
"Echt, ich könnte dich immer nur die ganze Zeit fotografieren", sage ich leise zu ihm.
Rafa bespricht mit Miro, Computerspiele und Computerzubehör austauschen. Dann sagt Rafa zu Constri:
"Ich ruf' dich mal an."
"Du kannst ja mal zu mir in die Therapiestunde kommen", schlägt Constri vor. "Bis Köln ist es ja nicht weit."
Vor der Küchentür schließe ich die Arme um Rafa, lege den Kopf auf seine Schulter und verharre reglos. Dann blicke ich in sein Gesicht, und weil ich es so süß finde, muß ich Rafa gleich weiter umarmen und meinen Kopf an seine Schulter lehnen.
"Ohh - nochmal", seufzt er, läßt es aber geschehen.
Rafa möchte sich unbedingt noch von Derek verabschieden, der wie tot auf meinem Sofa liegt. Rafa sagt ihm "Tschüß", obwohl er sich denken kann, daß Derek davon nichts mitbekommt. Bisat hat sich aus seinem Versteck unter meinem Bett gewagt, in das er sich vor dem Trubel zurückgezogen hatte. Jetzt liegt Bisat bei Derek auf der Sofalehne. Rafa krault das Tier und sagt auch ihm "Tschüß". Als er nach draußen geht, bittet er Saara noch einmal:
"Saara, paßt du auf mich auf?"
"Ja, ich paß' auf dich auf."
Im Treppenhaus raunt Saara mir zu:
"Ich bin froh, daß ich den mitnehmen kann. Der ist doch völlig betrunken. Ich werde ihm auf jeden Fall ordentlich den Kopf waschen. Der kriegt von mir noch eine ganz schöne Abreibung."
Wir Übriggebliebenen trinken und reden weiter am Eßtisch. Und als meine letzten Gäste einfach nicht gehen wollen, lasse ich mir von ihnen beim Aufräumen helfen. Clarice bekommt nach und nach mit, daß ich Rafa schon seit Langem liebe. Ihr geht es nicht besser als Rowena. Die Angelegenheit ist ihr furchtbar peinlich, und sie entwickelt eine gehörige Wut auf Rafa, der sie offenbar nur benutzt hat, um mich zu ärgern. Sie erzählt mir, was Rafa alles mit ihr angestellt hat. Sie saß im Balkonzimmer auf einer Matratze, da kam Rafa zu ihr und fiel vor ihr auf die Knie. Er sah ihr tief Augen, und sie fühlte sich davon wie gebannt. Revil, der sich vorher an Clarice versucht hatte, war abgemeldet. Clarice machte Rafa ebenso schöne Augen wie er ihr.
"Ich bin übrigens Clarice", stellte sie sich vor.
"Und ich bin Rafa", hauchte er.
"Was wird das eigentlich?" nahm Clarice Bezug auf Rafas seltsame Pose.
"Was könnte das denn werden?" fragte er zurück.
Etwas später fand Clarice Rafa auf meinem Bett sitzen. Er winkte sie heran und klopfte neben sich auf die Überdecke. Clarice setzte sich zu ihm.
"Kennst du W.E?" erkundigte er sich.
Sie bejahte. Als Nächstes fragte er, ob ihr die Musik gefiele, und sie bejahte auch dies.
"Dann hast du die Feuerprobe bestanden", lobte er. "Ich bin nämlich der Sänger."
Rafa gab Clarice vorsichtige Hinweise darauf, daß zwischen ihm und mir mehr ist als nichts:
"Guck' mal, hier hängen überall Bilder von mir."
Sie konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Auch Saaras Andeutungen, daß es da jemanden gibt in meinem Leben, konnten für Clarice das Puzzle nicht vervollständigen. Sie suchte nach einem Winkel, in den sie sich mit Rafa zurückziehen konnte. Aber nirgendwo waren sie allein; überall beobachtete man sie mit scharfen Blicken. Sie waren kurz auf der Toilette, doch dieser Ort schien wenig geeignet für ein längeres Rendezvous. In der Folge rannte Rafa quer durch die Wohnung, und Clarice und er begegneten sich nur flüchtig.
"Warte, es kommt noch der Moment, wo wir uns in Ruhe allein unterhalten können", versicherte er. "Wie wäre es, wenn wir uns in fünf Minuten auf dem Balkon treffen?"
Dort draußen wurde es ihnen schnell zu kalt. Clarice fragte Rafa, ob sie beide nicht besser wieder hineingehen sollten.
"Das mußt du entscheiden", entgegnete er, "du bist doch die Königin."
"Wieso 'Königin'?"
"Wie soll ich dich denn sonst nennen?"
Clarice kam darauf, mit Rafa ins kleine Zimmer zu gehen, das nur als Lager und Garderobe dient. Sie sagte dort zu Rafa, daß sie nie vor jemandem auf die Knie fallen könnte.
"Ich habe kein Problem damit", erwiderte er.
Schließlich zählten sie beide bis drei und knieten sich gleichzeitig hin. Rafa überschüttete Clarice mit Komplimenten. Er bezeichnete sie als "erfrischend" und "spritzig". Auch stellte er ihr eine seiner üblichen Fragen:
"An was denkst du?"
"Ich denke an mein Theaterstück."
Clarice lebt zur Zeit sehr in dem Stück, in dem die die Rolle einer Frau spielt, die von zwei Männern begehrt wird. Der eine ist ein Langweiler; Clarice läßt ihn abblitzen, wie sie Revil abblitzen ließ. Der andere ist ein Vampir, den sie ebenso aufregend findet wie jetzt Rafa. Rafa war also für sie der Vampir, der Verführer. Clarice hatte sich eigentlich vorgenommen, keine Männer mehr für nur eine Nacht zu nehmen. Dieser aber machte ihr solche Lust, daß sie zu allem bereit war. Sie konnte das gar nicht verstehen. Auch Rafa war verwundert darüber, daß Clarice so willig war.
"Ou, Mann", jammerte er, "warum bist du bloß noch nicht achtzehn?"
Die Intimitäten wurden dadurch unterbrochen, daß ich in den Raum kam. Als ich wieder hinausgegangen war, wirkte Rafa wie verwandelt. Er schien die Lust am Liebesspiel verloren zu haben.
Clarice ist überzeugt, daß Rafa nüchtern genug war, um zu wissen, was er tat. Er nutzte Clarices Ahnungslosigkeit gezielt für seine Zwecke aus.
Saara rief mich am frühen Sonntagnachmittag an, als ich noch ganz allein vor mich hinräumte, ohne mich zwischendurch schlafengelegt zu haben. Saara erzählte mir, daß Rafa vor meiner Party nicht bei Lara gewesen ist. Er war mit Lara und einigen anderen Leuten bei Harriet; das berichtete Lara inzwischen. Saara konnte Rafa also am Abend nicht erreichen. Aus diesem Grund soll Rafa sich sehr aufgeregt haben.
"Oh, ich muß noch Saara anrufen", sagte er immer wieder in die Runde bei Harriet. "Oh, jetzt habe ich ihre Nummer nicht mit. Die letzten beiden Ziffern fallen mir einfach nicht ein. Hat einer von euch Saaras Nummer?"
Keiner hatte sie.
"Dann muß ich nach Hause ", meinte Rafa schließlich. "Ich muß unbedingt noch bei Saara anrufen."
Die Mädchen waren recht pikiert, als ihr "Star" sie alleine ließ. Sie alle machten sich Hoffnungen auf Rafa, und nun lief er einfach so weg, und keine wußte, wohin.
Von daheim aus rief er bei Saara an und sagte ihr, mit welchem Zug er nach H. kommen würde. Saara holte Rafa am Bahnhof ab. Während der Fahrt zu mir wurde er immer aufgeregter. In der Straßenbahn sagte er andauernd zu Saara:
"Paß' auf mich auf ... bitte, paß' auf mich auf ... du mußt auf mich aufpassen."
"Ja, ich paß' schon auf dich auf."
"Du darfst nie von meiner Seite weichen. Ich will auf keinen Fall Dummheiten machen."
"Nein, ich weiche nicht von deiner Seite."
"Oh, mir ist so kalt!" klagte Rafa. "Paßt du auch auf mich auf?"
"Ja, Kindchen, ja, ich paß' auf dich auf!"
Sie stiegen eine Haltestelle zu früh aus und hatten einen längeren Weg bis zu mir.
"Ist es noch weit?" fragte Rafa.
"Die Hälfte haben wir schon", beruhigte ihn Saara.
Als die Tankstelle in Sichtweite kam, sagte Rafa erleichtert:
"Ach, jetzt weiß ich, wie es weitergeht."
Kurz vor meiner Haustür fragte er dann:
"Oder wollen wir wieder zurückgehen?"
Das ließ Saara nicht zu.
"Laß' mich nicht allein, bitte, laß' mich nicht allein!" flehte Rafa. "Du darfst mich nicht allein lassen!"
"Nein, ich laß' dich schon nicht allein."
Doch Saara konnte auf der Party nicht dauernd auf ihn achtgeben.
"Wo warst'n?" schimpfte Rafa, als Saara sich für ein Weilchen zurückgezogen hatte, um ihre Übelkeit in den Griff zu bekommen. "Du mußt besser auf mich aufpassen!"
Sie erklärte ihm, daß sie zu viel Tequila getrunken hatte und daß es ihr deswegen nicht gut ging.
"Da kannst du doch einen Kaffee trinken", sagte Rafa unwirsch.
"Da ist kein Kaffee mehr", wandte Saara ein.
"Du kannst doch von meinem trinken", bot er ihr an.
Von dem Zucker im Kaffee wurde ihr dann richtig schlecht. Sie vernachlässigte die "Mutterpflichten", die Rafa ihr zugeteilt hatte. Rafa wurde ungezogen und machte "Dummheiten" mit Clarice. In meinem Zimmer hatten Saara und Rafa danach ein Wortgefecht. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, mit Clarice wegzufahren.
"Mensch, die ist noch keine achtzehn!" warnte Saara. "Wenn du morgen aufwachst, ärgerst du dich tot, weil du mit der gar nichts wolltest!"
Rafa blieb jedoch bei seinem Vorhaben, mit Clarice zu fahren.
"Nein, du kommst jetzt mit", bestimmte Saara. "Du mußt jetzt mitkommen."
"Das muß aber noch viel überzeugender kommen!" bemängelte Rafa ihre Leistung in der Erzieherrolle.
Saara gab sich Mühe, und schließlich fragte Rafa ergeben:
"Ja? Muß ich jetzt mitkommen?"
"Es ist besser, wenn du mitkommst."
"Ja? Ist besser?"
"Ja."
"O.k., ich komm' mit."
Rafa soll nach der Party "voll den Tiefschlag" erlitten haben. Als Saara zu ihm ins Taxi stieg, rief er ihr unwirsch entgegen:
"Kommst du endlich?"
Berit saß vorn. Auf der Rückbank ergriff Rafa Besitz von Saara. Er legte seinen Kopf in ihren Schoß.
"Es ist gut, daß du mich gerettet hast", bedankte er sich. "Es ist gut, daß du mich da weggeholt hast. Du hast aber nicht immer auf mich aufgepaßt!"
Er warf ihr vor, daß sie in der Toilette verschwand, als ihr schlecht wurde. Er beanspruchte Saaras dauernde Aufmerksamkeit, wie ein Säugling die dauernde Aufmerksamkeit der Mutter beansprucht. Ich leite daraus ab, daß man auf Rafa vielleicht nicht genügend aufgepaßt hat, als er klein war. Vielleicht war seine Mutter zu selten anwesend. Vielleicht gab es in seinem Kinderleben zu wenig Regeln und Grenzen.
Rafa übernachtete mit Saara bei Berit. Er holte das "Blood Axis"-T-Shirt hervor und zeigte es den Mädchen.
"Hier, das habe ich von Hetty gekriegt", erzählte er. "Das will ich dann gleich mal anziehen."
Das T-Shirt soll ihm wirklich gut stehen.
Rafa fragte Saara, ob er mit ihr baden dürfe, aber das erlaubte sie ihm nicht. Sie machte ihm nur etwas zu essen; er bekam vier Scheiben Brot. Wahrscheinlich hatte er auf der Party vor lauter Aufregung nichts hinunterbringen können.
Während Rafa aß, erzählte er immer wieder, daß er für den nächsten Tag im Zoo verabredet sei. Er sprach davon so oft und so aufdringlich, daß Saara sich schließlich danach erkundigte, mit wem er sich traf.
"Daß es eine weibliche Person ist, ist ja klar", meinte sie, "nur - wer?"
Das war wohl die Frage, auf die Rafa gewartet hatte. Jetzt konnte er wieder geheimnisvoll tun.
"Is' egal", meinte er.
"Ja, nun sag' schon - wer?"
"Die kennst du nicht. Das ist aber eine Freundin von Kappa."
Als Saara ihn fragte, was er in dem kleinen Zimmer mit Clarice gemacht hat, behauptete er, da sei "nichts" gewesen. Clarice habe ihn nur in den Hals gebissen.
"Und sonst nichts?" fragte Saara.
"Nein, sonst nichts."
Die Bißstelle war deutlich gerötet und geschwollen. Saara ist sicher, daß mehr geschehen sein muß. "Warum hat sie dich denn gebissen?" fragte sie nach.
"Das weiß ich auch nicht", tat Rafa unschuldig.
"Wollte sie Vampir spielen?"
"Weiß ich nicht."
"Fandest du die hübsch, oder was?" fragte Saara.
"Nein, die ist gar nicht mein Typ", erzählte Rafa. "Ich habe das nur gemacht, um Hetty zu zeigen, daß ich nicht in sie verliebt bin. Ich weiß ja nicht, wie ich es ihr sonst zeigen soll."
Damit hat Rafa zugegeben, daß er Clarice benutzt hat wie eine Schachfigur. Und er hat zugegeben, daß er auch unter Alkoholeinfluß zu planvollem Handeln fähig ist.
Rafa legte sich auf eine Gästematratze und bat Saara, sich zu ihm zu legen. Saara wollte lieber zu Berit ins Bett kriechen. Die schlief aber schon, und sie lag so, daß für Saara kein Platz mehr war. Da legte sich Saara mit dem Rücken zu Rafa auf die Matratze.
"Dreh' dich um", bat Rafa.
"Warum?"
"Ich will kuscheln."
Saara drehte sich um. Rafa drückte sie an sich und versuchte, an ihr zu fummeln. Saara wehrte ihn ab.
"Oh, du hast doch so schön zarte Haut", seufzte Rafa.
Berit wachte auf und sah Rafa und Saara in einer verfänglichen Lage. Saara hoffte, daß Berit nichts "Falsches" dachte.
Da hat Rafa sich gleich die Nächste geschnappt ...!
In der laufenden Woche will er sich mit Saara treffen. Er hat davon geredet, daß seine Mutter in den nächsten Tagen Geburtstag hat. Damit ist sie Wassermann und "tödlich", wie Rafa es nennt. Dafür kann er aber schon auffallend lange mit ihr in derselben Wohnung leben.
Rafa hat Berit sein Alter raten lassen. Sie hat ihn auf neunundzwanzig geschätzt und damit vier Jahre älter.
Merle hat mir von ihrer Begegnung mit Rafa auf meiner Geburtstagsfeier erzählt. Sie hatte schon ihren Mantel an und saß auf meinem Bett, um auf ihr Taxi zu warten. Da kam jemand rasch herzu und setzte sich schwungvoll neben sie.
"Hallo, ich bin der Rafa", stellte er sich vor. "Du bist Merle?"
"Ja."
"Kennst du Hetty gut?"
"Oh ja, ich kenne sie gut. Aber warum fragst du das?"
"Ach ... ist nicht so wichtig. - Ich weiß noch gar nichts von dir. Was machst du denn so, beruflich ...?"
"Ach, darüber wollte ich jetzt eigentlich nicht reden", erwiderte Merle. "Mir geht's auch nicht so gut. Ich habe mir schon ein Taxi bestellt."
"Ach - du willst schon gehen?"
"Ja, weil, mir geht's nicht so gut."
"Aber das kann man doch ändern!" meinte Rafa. "Da kann man doch ein Selters oder einen Kaffee trinken ... Komm', wir machen uns das so richtig gemütlich ..."
Merle ließ sich aber nicht zum Bleiben überreden.
Es ist die Frage, ob Rafa bei Merle einen Annäherungsversuch unternahm oder ob er sie wirklich nur kennenlernen wollte.
"Nett ist er ja", dachte Merle bei sich, "aber irgendwie ... wie eine Schlange."
Merle findet Rafa ausgesprochen hübsch, abgesehen davon, daß er bei ihr keine Chance hätte. Merle hat von Rafa den Eindruck, daß er mich mag. Sie glaubt, daß er mich testen will durch seine Provokationen.
Constri ist bei ihrem Gespräch mit Rafa aufgefallen, daß er andauernd provoziert hat.
"Aber er ist dabei auf eine Art charmant", sagte sie. "Er provoziert auf charmante Art."
Constri findet außerdem, daß Rafa sehr redegewandt und sehr kontaktfreudig ist.
Rafa hat es bislang nicht geschafft, Saara und mich zu entzweien. Er hat es nicht geschafft, Clarice und mich zu entzweien. Er hat es nicht geschafft, mich mit Constri oder Carl eifersüchtig zu machen. Es ist ihm nicht gelungen, aus meinem Bekanntenkreis Schachfiguren zu gewinnen, mit denen er gegen mich spielen kann. Das Böse, was er getan hat, fällt allein auf ihn zurück. Kein anderer wird an seiner Statt beschuldigt.
Ich glaube, ich würde es nicht merken, wenn Rafa je eines Tages unwiderruflich an mich gebunden wäre. Ich glaube, er würde es so lange verheimlichen, wie es irgend geht. Er will nie mit dem Rücken zur Wand spielen. Er will nie eine Schwäche zeigen - oder das, was er dafür hält. Er glaubt wahrscheinlich, daß dann sein Selbstbild umstürzt und daß er jede Berechtigung verliert, zu leben.
Während Rafas und meiner Geburtstagsfeier ist mir aufgefallen, wie schwer es für Rafa ist, sich in eine Gruppe einzufügen, sich also zugehörig zu fühlen, ohne sich von den anderen abzuheben. Ihn scheint die Vorstellung sehr zu verunsichern, "Teil eines Ganzen" zu sein und in der Menge "unterzugehen". Er will außen stehen und gleichzeitig die Geschehnisse unter Kontrolle haben. Er nimmt stets eine Führerrolle ein, ob er nun anführt, vorführt oder verführt. Gelingt es ihm nicht, sich in einer solchen Rolle zu halten, scheint er in der Gemeinschaft den Halt zu verlieren, etwas, das ihm unerträglich ist. Er muß die Lage verschieben, um wieder die Oberhand zu bekommen, und dafür wählt er auch zweifelhafte Methoden. Er nimmt dabei durchaus in Kauf, es sich mit Freunden und Bekannten zu verderben und andere Menschen noch weit mehr zu kränken, als er selbst gekränkt wurde. Ich frage mich, ob Rafa bewußt ist, was er anderen Menschen - etwa seinen Freunden und Bekannten - mit diesem Verhalten antut. Ich frage mich, ob er sich überhaupt in diese Menschen hineinversetzen kann und ob er wahrnimmt, wie rücksichtslos und überheblich er sich ihnen gegenüber verhält. Und weiter frage ich mich, ob er sich in irgendeiner Form für sein Verhalten verantwortlich fühlt und inwiefern er deswegen Schuld und Scham empfindet. Ich kenne Rafa bereits mit all seinen Schattenseiten; mir kann er nichts antun, was mir nicht längst von ihm vertraut wäre. Diejenigen jedoch, die unwissend mit ihm Verabredungen und Vereinbarungen treffen und unweigerlich von ihm geleimt werden, um die geht es mir, die will ich warnen und schützen, wann immer mir das möglich ist.
Was Derek betrifft, so habe ich ihm schon mitgeteilt, daß er bei mir stets ein gern gesehener Gast ist - es sei denn, ich gebe eine Party. Von meinen Parties wird er bis auf Weiteres ausgeschlossen. Es hat sich gezeigt, daß er nicht imstande ist, sich beim Trinken zu mäßigen. Er wird das nächste Silvester wohl im "Elizium" feiern müssen. Vielleicht braucht Derek die Erfahrung, daß es auch für ihn Grenzen gibt.
An dem Wochenende, an dem ich meinen Geburtstag feierte, wurde der Professor mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus gebracht. Er hatte eine Grippe verschleppt. Er wird beatmet, und es ist nicht sicher, ob er überlebt. An sich gehört die Berufswelt nicht zu den Hauptsachen in meinem Leben, aber dieser Vorfall beeinträchtigt mich sehr. Ich hatte auch Träume davon. Ich stelle mir vor, Rafa würde mitbekommen, wie ich mir um irgendeinen Menschen aus meinem Umfeld Sorgen mache. Vermutlich wäre Rafa gleich wieder eifersüchtig. Wie sollte das werden, wenn wir Kinder hätten?

In einem Traum lagen Rafa und ich im Bett und umarmten und streichelten uns. Es blieb aber noch "harmlos".

Am Telefon konnte Saara die Geschichte mit der rotgefärbten Sängerin Tessa noch etwas ergänzen. Rafa verkauft es nach außen offenbar so, daß er im Frühjahr 1993 um die Sängerin warb und daß sie zunächst gar nichts von ihm wollte. Als er sie dann hatte, stellte er fest, daß ihr Bein von oben bis unten mit einer Tätowierung geschmückt war. Ihm sei davon übel geworden. Er hasse Tätowierungen. Trotzdem nahm er die Sängerin. Ich denke, vielleicht hatte er es nötig, so eine abstoßende Freundin zu haben. Er lief nie Gefahr, sich in sie zu verlieben und darauf angewiesen zu sein, daß sie seine Gefühle erwiderte.
Ich bin froh, daß Rafa Tätowierungen nicht leiden kann. Mir gefallen sie auch nicht, und es wäre furchtbar für mich, wenn Rafa seine Haut mit solchen Mustern zerstören würde.
Die Sängerin mußte Rafa immer im Auto herumfahren. Als sie einmal krank war und am Wochenende zu Hause bleiben mußte, behalf sich Rafa, indem er bei Velvet übernachtete. So einfach war das.
Rafa schämte sich auch nicht, mit Velvet in der "Halle" herumzuknutschen, während er mit der Sängerin zusammen war. Er soll Velvet sogar geküßt haben.
Velvet soll nach wie vor behaupten, Rafa zu lieben. Sie klagte darüber, daß es ihr nicht möglich sei, sich mit Rafa zu unterhalten, ohne daß es zum Streit käme. Konkurrenz fürchtet die Einundzwanzigjährige nicht; sie hält sich selbst für schöner als alle anderen Mädchen. Das finde ich seltsam. Velvet hat eine auffällige Hakennase. Was ich noch seltsamer finde, ist, daß Velvet trotz ihrer angeblichen Liebe zu Rafa die Sängerin mag, ja regelrecht verehrt. Außerdem ist Velvet Wochenende für Wochenende mit allen möglichen Jungs beschäftigt und hat auch längere Beziehungen mit ihnen.
Saara wollte neulich von Rafa wissen, wie er Velvet findet.
"Doof", antwortete er. "Die ist mir viel zu verrückt. Mit der will ich nichts haben."
Rafa hat die Sängerin Tessa schon lange nicht mehr gesehen. Er äußerte die Vermutung, daß sie nicht mehr lange leben wird oder bereits gestorben ist.
"Hat es mit Drogen zu tun?" forschte Saara nach.
"Unter anderem", antwortete Rafa ausweichend.
Ich frage mich, ob die Mädchen, mit denen sich Rafa Nacht für Nacht die Zeit vertreibt, an AIDS denken. Odette wußte einen Spruch:
"Haste AIDS, iss's zu spAIDS. Haste keins, nimm' meins."
Greta soll übrigens zu Saara gesagt haben, sie habe mit Rafa gar nicht geschlafen.
Saara kennt noch eine weitere Verehrerin von Rafa. Es handelt sich um Yasmin. Rafa hat ihr einmal in der "Halle" die Haare geschnitten. Yasmin ist jetzt in Amerika. Zum Geburtstag hat sie Rafa einen Brief und ein T-Shirt geschickt. Er konnte sich zuerst gar nicht an Yasmin erinnern.
Rafa hat sich mit Saara in der Woche nach meiner Party treffen wollen, aber daraus wurde nichts; angeblich hatte er "keine Zeit". Saara möchte sich mit Rafa auch nicht mehr allein treffen, um Annäherungsversuchen von seiner Seite vorzubeugen. Rafa hat Saara sehr gebeten, am Freitag ins "Exil" zu kommen. Saara befürchtet, daß er bei ihr übernachten will.
Rafa hat angekündigt, Saara noch mehr von sich zu erzählen, da er ihr "voll vertraue". Rafa kann sich an fünf Fingern ausrechnen, daß Saara einen Teil dieser Geheimnisse an mich weiterreicht. Ich habe Saara gegenüber die Vermutung geäußert, daß Rafa sie als Mittel verwendet, um Botschaften an mich zu senden.

In einem Traum rief Constri bei mir an und wußte erstaunlich viel von Rafa zu erzählen. Schließlich fragte sie mich:
"Willst du ihn mal haben?"
"Wen ... den Rafa?"
"Ja. Ich bin bei ihm zu Besuch."
Er hatte sie eingeladen, und sie war sogleich nach SHG. gefahren.
Rafa zierte sich erst, kam dann aber doch ans Telefon. Ich unterhielt mich ein wenig mit ihm.

Constri ist jemand, durch den Rafa viel über mich erfahren kann. Sie ist außerdem jemand, mit dem er keine Liaison anfangen kann. Wenn Rafa Constri einladen würde, so hieße das, daß er mittelbar Verbindung zu mir aufnimmt.



Am Freitag war ich im "Exil". Rafa hatte sich die Haare hochgestellt. Er trug ein schwarzes Sweatshirt mit Aufdruck und seine enge schwarze Hose. Passend dazu hatte Lara sich die Haare ebenfalls hochgestellt und trug ein Sweatshirt und eine enge Hose. Sie versuchte, so wie Rafa zu tanzen. Lara war mit Rafa zum "Exil" gefahren. Laut Saara hat sie aber gegenwärtig nichts mit ihm. Dafür war ein anderes Mädchen auf den Plan getreten, Lisette. Sie hat kurze dunkle Haare und trug ein schlichtes langes Kleid aus schwarzem Pannesamt. Sie ist keine auffällige Erscheinung. Saara erzählte mir, daß Lisette vor Monaten mit Rafa ein kurzes Verhältnis hatte, auf welches eine Episode mit Velroe folgte. Jetzt soll Rafa Lisette gefragt haben, ob sie mit ihm zum Karneval in Venedig fahren will. Lisette versicherte Saara, sie lebe gern als Single und habe nicht vor, mit Rafa eine längere Beziehung zu beginnen. Jedoch liebe sie das Risiko. Außerdem habe sie in der nächsten Woche Urlaub, und es würde sich gut passen. Das Geld wollte sie schon auftreiben. Die Reise soll Rafas Mutter über ihren Arbeitsplatz - das Reisebüro - besorgt haben.
"Dafür könnte ich Rafa schon wieder erschlagen", sagte ich vernehmlich zu Berit. "Ich habe im Keller noch einen Rohrstock, glaube ich."
Wir standen in der Nähe des DJ-Pults, und es ist nicht ganz auszuschließen, daß Rafa von unserem Gespräch etwas mitbekommen hat.
Als ich Lillien von Rafas Reiseplänen erzählte, ging sie zu ihm ans Pult und fragte, ob er für sie in Venedig ein paar Fotos machen könnte.
"Woher weißt du denn, daß ich nach Venedig fahre?" fragte Rafa.
"Ach, das spricht sich 'rum!" meinte Lillien.
Rafa fragte sie, ob sie nicht auch mitkommen wolle. Lillien erwiderte, sie könne schon allein deshalb nicht nach Venedig fahren, weil sie die Tanznacht in der "Halle" am kommenden Freitag nicht verpassen will.
"Wie kannst du nur Venedig mit der 'Halle' vergleichen?" entrüstete sich Rafa.
"Die 'Halle' habe ich schon vor Monaten fest eingeplant", erklärte Lillien, "aber Venedig habe ich überhaupt nicht eingeplant. Wenn du es mir rechtzeitig sagst, fahre ich nächstes Jahr gerne mit."
Lisette war also nicht die Einzige, die Rafa mit nach Venedig nehmen wollte. Rafa fragte außer ihr und Lillien noch Viktoria und Lara, die aber keine Zeit hatten.
Ich glaube, daß es Rafa egal war, mit wem er fuhr, wenn es sich nur um Mädchen handelte. Ich glaube, er wollte fliehen, weit weg von mir, zurück in sein gewohntes Leben, in dem er von einem Bett zum nächsten springt und sich um nichts kümmert.
Lisette kam während der Nacht häufig ans Pult und redete mit Rafa. Ich glaube, sie strebt durchaus ein Verhältnis mit ihm an.
Lillien meinte, daß Rafa es sich ganz schön einfach macht, wenn er Saara auf ihn aufpassen läßt, anstatt selbst auf sich aufzupassen. Ich erwiderte, daß ich von Rafa verlange, sich selbst im Zaum zu halten. Lillien glaubt, daß Rafa sich auch im Alkoholrausch gut unter Kontrolle hat und durchaus imstande wäre, sich im Zaum zu halten, wenn er dies nur wollte.
Rafa verließ während der Nacht fast nie das DJ-Pult. Einmal huschte er an mir vorbei, als ich tanzte. Er lief kurz hoch zu den Toiletten und dann wieder zurück; das war alles. Zu ihm gehen und ihn begrüßen wollte ich auf keinen Fall. Erstens ist es seine Aufgabe, den Kontakt herzustellen, und zweitens wollte ich ihn nicht auch noch belohnen für seine neuerlichen Schandtaten.
Rafa scheint von Mal beeindruckt zu sein. Er spielte zwei Stücke von Mals Notstandskomitee-Album, "Menschenjagd" und "Menschenmaterial". Außerdem spielte er "Heartland" von den Sisters of Mercy, "Verschwende deine Jugend" von DAF, "49 Second Romance" von den Rainy Day Women und "Love in Chains" von Call. Rafa warb fleißig für seine "NDW-Night mit Bingo", deshalb mußten auch Nena und Hubert Kah herhalten.
Saara berichtete, daß Rafa zu Lara gesagt hatte, er würde nicht mit ihr heimfahren. Lara fuhr ohne ihn. Saara schloß daraus, daß Rafa bei seiner Reisebegleiterin Lisette übernachtete.
Lillien, Saara und Berit verließen das "Exil" schon kurz nach drei, und ich ging wenig später.
Ich habe den Verdacht, daß es Rafa schwerfällt, allein zu sein. Er umgibt sich ständig mit Leuten, zu denen er unverbindlichen Kontakt hat.
Wenn Rafa allein ist, ist er sich und seinen Gefühlen ausgeliefert. Wenn er mit mir zusammen ist, ist er mir und meinen Gefühlen ausgeliefert, und außerdem spreche ich mit ihm viel über ihn selbst und seine Gefühle. Solchen Anstrengungen kann Rafa nur entgehen durch dauernde oberflächliche Kontakte.
Ich möchte ihn fragen, ob er Schwierigkeiten hat, allein in seinem Bett zu schlafen. Er hat mir erzählt, daß er beim Einschlafen das Licht brennen läßt und Radio oder Fernseher anschaltet. Immer muß etwas um ihn herum sein, das ihn davon abhält, sich selbst wahrzunehmen. Dazu gehören auch die oberflächlichen Bekannten und die abenteuerlustigen Verehrerinnen, mit denen Rafa übernachtet. Und dazu gehört auch der Alkohol.
Rafa muß lernen, sich und seine Gefühle zu ertragen. Sonst bleibt er immer abhängig von oberflächlichen Beziehungen und betäubenden Außenreizen.
Wie ist diese Abhängigkeit entstanden? Weshalb ist es für Rafa so schlimm, sich selbst zu fühlen? Lehnt er sich ab? Ist er ungern er selbst? Ist er vielleicht als Kind abgelehnt worden, so daß er sich schließlich selbst ablehnte?
Saara hat mir später erzählt, daß sie frühmorgens noch einmal ins "Exil" zurückgekommen ist, als ich schon fort war. Sie unterhielt sich ein wenig mit Lisette, die sich angewöhnte, Saara auf die Wange zu küssen. Saara fragte Lisette, ob Rafa bei ihr schlafen werde.
"Ja", antwortete Lisette zögernd. "Willst du nicht mitkommen?"
Das wollte Saara nicht. Ich erkundigte mich danach, ob Rafa und Lisette Zärtlichkeiten austauschten. Etwas Derartiges ist Saara nicht aufgefallen.
Am Samstag war ich in SZ. auf der Geburtstagsparty von Reesli. Reesli erzählte mir, daß er auf meiner Party ein Streitgespräch mit Rafa gehabt hat. Es ging um Politik und um Musik. Reesli gestand, die DVU gewählt zu haben, weil diese gesagt hätten: "Erst Deutschland, dann Europa".
"Ist das bescheuert!" herrschte Rafa ihn an. "Nur weil die sowas sagen, kannst du die doch nicht gleich wählen! Du kaufst dir doch auch keine W.E-CD, bloß weil ich dir sage, los, kauf' dir die W.E-CD!"
Das hat Reesli schwer beeindruckt. Er wollte Rafas Äußerung widerlegen und schenkte sich selbst Rafas CD "Alles ist möglich" zum Geburtstag.
Bei Reesli war auch ein Pathologie-Assistent zu Gast, der von einem Mann erzählte, den seine Frau verließ. Der Mann hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie seine Wäsche selbst bügeln müssen und entwickelte einen Kontrollzwang. Er befürchtete stets, das Bügeleisen angelassen zu haben. Vor lauter Angst nahm er das Bügeleisen mit zur Arbeit und stellte es vor sich auf den Schreibtisch. Schließlich soll sich eine Psychose ausgebildet haben. Er - ein Mann in gehobener Position - lief auf allen Vieren herum und bellte, weil er glaubte, er sei ein Dackel. Da kam er ins Krankenhaus.
Nach dem Besuch bei Reesli fuhr ich ins "Elizium". Rafa war dort nicht, dafür aber Dolf und seine Freundin. Es beruhigt mich, daß ich Dolf schon längere Zeit ohne Rafa und mit dieser Freundin sehe. Wenn Dolf eine feste Beziehung hat, ist er beschäftigt und klammert sich nicht mehr so an Rafa.
Dolf soll Daria deshalb nicht als Freundin genommen haben, weil sie ihm zu jung sei. Siddra erzählte mir, daß sie früher in Dolf verschossen war. Rafa soll über Dolf immer gesagt haben:
"Der ist so klein, den kann ich mir in die Tasche stecken."
Im "Elizium" war auch das Mädchen mit dem langen roten Zopf. Ich frage mich, was wirklich zwischen Rafa und ihr abgelaufen ist.
Elsa hatte von Nora schon gehört, daß Rafa auf meiner Geburtstagsparty gewesen ist. In der Nacht, in der die Party stattfand, hatte Kappa Dienst im "Exil". Er soll sinnlos betrunken gewesen sein. Er fiel beinahe übers DJ-Pult. Zwischen den Stücken gab es oft lange Pausen, weil Kappa es nicht schaffte, rechtzeitig eine neue Platte aufzulegen. Er soll mit schwerer Zunge durch Mikrophon gebrüllt haben:
"Llos, Lleute, wwünscht euch wwas, aber wwer sich wwas wwünscht, mmuß mmir sswei Saure bringen."
Als einer es wagte, sich von Kappa etwas zu wünschen, ohne ihm Saure zu bringen, brüllte Kappa durchs Mikrophon:
"Wass'n das für'n Bekloppter - was fällt dem ein, sich was zu wünschen, ohne Sauren dazuhaben!"
Rafa hat recht getan, in jener Nacht nicht ins "Exil" zu gehen. Er hätte sehr wahrscheinlich Kappa ablösen müssen.
Ein Junge namens Brian brachte mir Cola. Er erzählte, daß er das "Exil" gar nicht leiden könne. Wie sich herausstellte, ist er erst einmal für eine halbe Stunde dagewesen, und in dieser halben Stunde legte Kappa auf. Ich erklärte Brian, daß man das "Exil" nicht an Kappa messen darf und schon gar nicht an einer einzigen halben Stunde. Vorurteile gegen das "Exil" sind häufig.
Als Toro aus dem "Exil" herüberkam, stellte ich ihm Brian vor. Die beiden kamen ins Gespräch. Später sagte Brian zu mir, der Toro sei "ein Netter". Da mag er wenigstens schon einen von der "Exil"-Mannschaft.
Sarolyn erzählte mir, daß sie sich endgültig mit Laura verkracht hat. Oft habe sie es im Guten versucht, doch umsonst. Ich kann das nachvollziehen. Laura sucht so lange Streit, bis sie ihn findet. Das unerfreuliche Ereignis, welches Sarolyn gewissermaßen "den Rest gab", war eine Verabredung zu einer "Geschlossenen Gesellschaft", der Sadomaso-Partyreihe im "Elizium". Laura und Sarolyn wollten dort wieder einmal "gucken gehen". Für solche Anlässe kleideten sie sich zwar in Schwarz und mit Lack, aber immer so züchtig, daß man nie "was sehen" konnte. Sarolyn hatte sich schön zurechtgemacht und wollte Laura abholen. Die jedoch schickte Sarolyn gleich wieder weg und meinte, sie habe keine Lust, mit Sarolyn etwas zu unternehmen. Das war für Sarolyn der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Sie beendete ihre Freundschaft mit Laura sofort.
Als ich Cyrus bat, endlich Winterkälte zu spielen, machte er mir ein eindeutiges Angebot:
"Der Preis ist eine Nacht mit mir."
Ich erklärte, daß ich dies seiner Freundin niemals antun würde und daß er auch ohne Freundin bei mir nicht landen könne. Cyrus meinte, wenn er solo sei, würde ich seinen Verführungskünsten nicht widerstehen können. Ich wollte ihm eine Wette anbieten, überlegte mir dann aber, daß diese Wette nur durchführbar war, wenn er seine Freundin aufgab, und das wollte ich auf keinen Fall.
Constri und Derek kamen gegen Morgen ins "Elizium", um mich abzuholen; ich sollte noch mit ihnen ins Institut fahren und ihnen am Rechner etwas erklären. Constri und ich krakeelten Xentrix die Ohren voll, weil wir Industrial hören wollten. Ich packte die Winterkälte-LP aus und reichte sie Xentrix. Da endlich spielte er "Atmosphere vs. CH4".

In einem Traum wurden in größerer Runde Weihnachtsgeschenke ausgetauscht. Ich hatte für Rafa Grablichte besorgt. Er hatte auch für mich Grablichte. Ich ärgerte mich darüber, daß ich nichts anderes für ihn hatte.
"Ich habe mir aber Grablichte gewünscht", tröstete er mich.

Inzwischen habe ich die Fotos von meiner Geburtstagsparty abgeholt. Sie sind alle etwas geworden. Constri hat es durch einen Trick geschafft, ein Portrait von Rafa zu machen. Sie ist herumgegangen und hat zu allen möglichen Leuten gesagt:
"Ein Portrait bitte!"
Schließlich war auch Rafa an der Reihe, als einer von vielen, und das konnte er hinnehmen. Das Foto zeigt die Trias einer Fassade: Rafa hat seine gelbe Brille aufgesetzt und eine dunkle Haarsträhne vors Gesicht gezogen, und er guckt schelmisch-durchtrieben in die Kamera.
Jetzt habe ich noch mehr Bilder von Rafa an der Wand hängen.
In einem Buch über Tarot las ich nach, was die Karte "Der Turm" bedeutet. Sie zeigt den Turm von Babel, in den der Blitz einschlägt. Zwei Menschen fallen heraus, ein Mann und eine Frau. Das kann bedeuten, daß etwas sicher Gewähntes zusammenbricht und etwas völlig Neues entsteht, durch den Einfluß einer starken überirdischen Macht. Der Planet zu "Der Turm" ist Mars, der Planet des Kampfes. Kann das heißen, daß eine überirdische Macht für zwei Menschen die Welt verändert und daß der Weg zur Veränderung durch einen Kampf führt?
Malda hat erzählt, daß Ivo Fechtner im "La-Tekk's" keine Konzerte mehr veranstalten darf. Schuld ist die braungetönte Bühnenshow von Predominant. Hoffentlich lernt er aus dieser Erfahrung. Ich glaube es freilich nicht, denn Ivo Fechtner ist kein Mensch, der aus Erfahrungen lernt.
Mitte Februar erzählte mir Saara in der "Halle", daß Rafa tatsächlich mit Lisette nach Venedig gefahren ist. Ich vermute, er wird mit ihr zusammen sein, wenn er zurückkommt.
In der Nacht darauf - am Samstag - ging ich ins "Elizium", und dort begrüßte mich freudig Clarice. Sie hatte sich einen feschen Jungen besorgt, mit dem sie herumschmusen konnte. Später kam sogar Carl noch.
Luie spielte "Memories" von Klinik, "Comisario de la Luz I" von Esplendor Geometrico, "Sundown" von den Overlords und noch ein Stück Edel-Techno der früher Neunziger - "Y" von Bug O-Four. "Y" ist so kühl gehalten und so durchgehend hart und elektronisch, daß man es fast mit einem Industrial-Stück verwechseln könnte.
Elsa und ich unterhielten uns ein wenig in der Damentoilette. Ich erzählte, daß ich Rafa treu bin - im Gegensatz zu seinen sonstigen Verehrerinnen. Da sagte Elsa:
"Stimmt, dich sieht man nie mit einem Lover."
"Es gibt auch keinen."
Ende Februar habe ich Folgendes geträumt:

Im winterlichen Dunkel fuhr ich in einem Bus durch die Stadt. Ich traf Leute, die mir erzählten:
"Saara ist tot."
Innerhalb von wenigen Tagen war sie aus voller Gesundheit von einer Grippe dahingerafft worden.
Ich ging hinunter in die U-Bahn-Station am CITICEN, und ganz unten erkannte ich, daß das Gleis, zu dem ich wollte, eine Ebene höher lag. Ich fand aber keinen Aufgang. Die Rolltreppen kamen mir alle entgegen. Ich versuchte, an einem Gerüst hochzuklettern. Ein Angestellter der Verkehrsbetriebe sagte mir, das dürfe ich nicht. Ich fragte ihn, wie ich denn nach oben kommen sollte. Er entgegnete, das müsse ich halt sehen.
"Wie kommen denn die anderen 'rauf?" fragte ich. "Irgendwie müssen die anderen ja auch 'raufkommen."
"Das kann ich Ihnen auch nicht sagen."
Ich suchte weiter und stellte fest, daß eine der Rolltreppen, die mir entgegengekommen war, jetzt in die richtige Richtung fuhr. Endlich kam ich zum Gleis. Dort traf ich einen Freund von Saara. Wir besuchten gemeinsam Saaras Familie. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Wir setzten uns davor, während die Mutter Essen machte. In einem Sessel saß ein jüngerer Bruder von Saara, der Grippe hatte und nicht im Bett bleiben wollte. Er war in eine Decke eingewickelt. Im Fernsehen kam ein Bericht über Saaras Tod. Ich hoffte, daß ich nicht vergessen hatte, daheim meinen Videorecorder einzuschalten. Es wurden sogar Filmszenen gezeigt, in denen man Saara in der U-Bahn-Station "CITICEN" mit ihren Freunden sah. Am Schluß sah man lauter kleine bunte Metallkästchen in Reihen auf einem weißen Tisch stehen, und die Kamera fuhr auf das Kästchen in der Mitte zu. Es trug die Aufschrift:
"Rafas Kästchen"
Das bedeutete wahrscheinlich, daß Saara mir etwas in Rafa erschließen konnte, an das ich sonst nicht herankam. Sie brachte mir ein Schätzchen, einen Schmuckkasten. Durch ihren Tod war nicht nur meine Verbindung zu ihr, sondern auch eine meiner Verbindungen zu Rafa abgeschnitten. Ein Bereich in meinem Leben fehlte. Ein Platz war leer. Ich war gefangen in diesem Alptraum, bis ich aufwachte.

In Wirklichkeit hat Saara übrigens keinen Bruder, sondern zwei Schwestern.
Saara erzählte mir von Rafas "NDW-Night" am Freitag im "Exil". Lisette war auch da. Saara fragte sie, wie es in Venedig gewesen sei. "Ganz toll" sei es gewesen.
"Seid ihr denn jetzt zusammen?" erkundigte sich Saara.
"Weiß ich nicht", antwortete Lisette.
Saara ging nicht zu Rafa ans Pult. Da schickte er ihre Freundin Tonia nach ihr. Als Saara dann zu Rafa kam, fragte er verärgert:
"He, kannst du nicht mal 'Hallo' sagen?"
"Hi", grüßte Saara.
"Los, komm', nimm' mich in den Arm", verlangte er.
"Wieso soll ich dich in den Arm nehmen?" fragte Saara. "Geh' doch zu Lisette."
Da packte er sie einfach und umschlang sie.
"Komm', drück' mich noch fester", bat er. "Drück' mich fester."
Eifersüchtig schoß Lisette herbei. Es sah aus, als wenn sie doch etwas mit Rafa hat. Das ist aber immer noch unklar. Übrigens soll Rafa zu Velvet gesagt haben, daß er wieder in der Laune ist, eine Beziehung einzugehen.
Am Samstag fuhr ich mit Constri und Carl zu "Klangwerk" nach HH. Es war so, wie es meistens ist - ich betrat den Raum, da lief "Sinaya" von Esplendor Geometrico, und alles tanzte wie verrückt. Ich mußte meine Sachen in eine Ecke werfen und gleich mittanzen. Von der Tanzfläche kam ich fast nie herunter.
Ytong hatte neue Stücke von sich selbst mitgebracht, und er gab mir die Kassette. Ytong schlägt neue musikalische Wege ein. Er möchte rhythmusbetonter und tanzbarer werden. Bislang hat er sehr ruhigen Industrial-Ambient mit ineinander zerfließenden Klängen gemacht. Jetzt wird es schon eher Maschinen-Musik vom Stil eines Dive, allerdings monotoner und schleppender. Die Musik ist gut hörbar für mich, obwohl es nur die Rohform ist. Es sollen noch Vocals dazukommen.
Ytong sagte, ein Kostüm, das zu mir passen würde, müßte hinten einen Schlüssel zum Aufziehen haben. Ich wirke also wie ein Automat auf ihn, eine Olympia-Puppe.
Mal hatte Ytong schon von meiner Geburtstagsfeier vorgeschwärmt; das sei eine "Mischung aus Grufti-Party und Kindergeburtstag" gewesen. Er, Mal, habe sich als Zuschauer gefühlt und sich ausgezeichnet amüsiert.
"Das war voll die irre Mischung", sagte Mal, als ich ihn darauf ansprach.
Ich erzählte ihm, daß meine Parties immer ein bißchen wie Kindergeburtstage sind.
"Der Kindergeburtstag warst du", meinte er.
"Warum war ich der Kindergeburtstag?" fragte ich.
"Weil du die Dreißig knallhart ignorierst", erklärte Mal. "Die meisten Leute verändern sich, wenn sie älter werden. Nur du bleibst immer hektisch und ausgeflippt und abgefahren."
"Aber Sofie ist doch auch so wie ich."
"So wie du ist keiner!" widersprach Mal entschieden. "Du bist einmalig."
"Du meinst, ich bin einmalig."
"Ja. Und jeder kennt dich."
"Warum sollte mich jeder kennen?"
"Weil du so viele Gäste hast."
"Ja, ich hatte viele Gäste."
"Jedenfalls würde ich dir raten: Dieses Hektische, Abgespacete, was du an dir hast - versuch', das zu bewahren. Solche Leute wie dich gibt es viel zu wenige. Die meisten werden mit der Zeit anders, besonders dann, wenn sie heiraten und Kinder kriegen. Deshalb bin ich auch so gegen Kinder."
"Der Kerl meines Lebens war ja auch auf der Party ..."
"Ja, ich weiß - ich hab' ihn ja gesehen."
"Er ist so scheu ..."
"Na, ja - scheu ...?" zweifelte Mal.
"Der hat so eine Angst gehabt, zu der Party zu kommen", erzählte ich. "Saara mußte ihn herschleppen, und er hat immer zu ihr gesagt:
'Saara, paßt du auch auf mich auf? Bitte, bitte, paß' auf mich auf!'
Wenn ich mit Rafa Kinder habe, werde ich nicht anders, als ich bin. Der Rafa will Kinder, genau wie ich - und der Rafa bleibt auch immer Kind."
"Na, ich weiß nicht ..."
"Mal - wenn du sagst, ich bin anders als die anderen, dann kann das doch auch sein, daß ich mich eben nicht verändere, wenn ich Kinder habe."
"Vielleicht ..."
Sofie hatte nicht zu meiner Geburtstagsfeier kommen können. Sie hat Rafa kürzlich auf einem Foto in einer Szenezeitschrift gesehen. Sie findet ihn hübsch; es gefällt ihr, daß er - und auch Dolf - sich so aufwendig zurechtmachen.
Wenn ich den Hampelmann anschaue, den Rafa mir geschenkt hat, geht mir durch den Sinn:
"Wie leicht läßt sich so etwas Kleines zerstören, wegwerfen, verlieren ... wie schwer ist es, dafür zu sorgen, daß es erhalten bleibt."
Ich sorge mich um das Einmalige, Zerbrechliche, das sich selbst nicht wehren kann. Ich hoffe, daß ich für immer meinen Pflichten nachkomme und hege und bewahre, was mir teuer ist. Wir gehen am Rand eines Abgrunds. Schnell ist vernichtet, was langsam entstand. Grobe Gewalt zertritt das Feine und Vielschichtige. Überall lauern Bosheit, Gedankenlosigkeit und Nachlässigkeit, auch in einem selbst. Wenn ich schon die Welt nicht verändern kann, so bitte ich doch mein Schicksal um die Kraft, selbst nie zu straucheln und gegen mich und meinen Willen zu handeln.
Vielleicht kann ich etwas finden, das ein Gegengewicht setzt zur Rohheit. Vielleicht kann ich etwas finden, das fein ist wie Spinnweben und gleichzeitig fest und widerstandsfähig.

In einem Traum sah ich einen Kurzfilm namens "Wasser". Zu Beginn des Films trat ein Wesen auf, von dem keiner wußte, woher es kam und warum es sich so seltsam verhielt. Das Wesen war ein sprechender Pudding. Es freute sich, auf der Erde zu sein, und sonst wollte es auch nichts. Der Film brachte eine Erklärung dafür, indem er den Zuschauer mit subjektiver Kamera in die Rolle des Wesens hineinversetzte. Der Zuschauer wurde zum virtuell Reisenden. Die Reise wurde untermalt von einer elektronisch gestalteten, ruhig dahinfließenden melancholischen Musik. Der Zuschauer ging sehr langsam durch kahle Räume und sah an einem Kleiderständer altmodische Garderobe hängen, darunter Spitzenschleier und Brautkleider, die in Zeitlupe hin- und herwehten. Es stand auch Hausgerät herum, doch es wirkte nur angesammelt wie Schätze in einer Schatzkammer, nicht wie zum Gebrauch bestimmt. Bei jeder Bewegung hörte der Zuschauer Glucksen wie von Wasser. Manchmal sah er auch Fische vorbeischwimmen. Das nebelhafte Licht unterstützte den Eindruck, daß die Räume mit Wasser ausgefüllt waren. Dabei hatten die Filmer nur mit Tricks gearbeitet.
Während der langsamen Reise unter Wasser erlebte sich der Zuschauer als gedrückt und beschwert, abgeschnitten von der Welt auf dem Erdboden, an die nur ein paar Kleider und Gegenstände erinnerten. Im Wasser und ohne einen menschlichen Körper hatte er an diesen Dingen nicht einmal Nutzen.
"Sachen von der Erde", hörte der Zuschauer sich selbst zu anderen Wesen sagen, die er allerdings nicht zu sehen bekam, "Sachen von oben - wo habt ihr sie her? Jetzt habt ihr schon wieder Sachen von oben."
Die Betonräume, durch die er schwamm, wurden immer kahler, und schließlich war da nur noch ein viereckiger Schacht. Ich, als Zuschauer, sah nach oben. Mir wurde schlecht davon, weil sich mein Genick verkrümmte. Dennoch wollte ich sehen, was sich über mir befand. Es war ein helles Viereck; Tageslicht schimmerte durch eine Wand von trübem Wasser. Diese Wasserwand konnte ich nicht durchdringen, und ich konnte durch sie auch nichts sehen als das Licht. Ich war gefangen dort unten, und die Enge drückte mir fast die Luft ab. Ich verstand jetzt das Wesen, das nur oben auf der Erde sein wollte und sonst nichts.
"Lieber Gott", sagte ich, "wer bist du? Wo bist du? Ach, wenn ich nur nach oben könnte!"

Während ich bei "Klangwerk" war, ist Clarice im "Elizium" gewesen. Rafa kam auch, in seiner Kuhfellhose und einem weißen Hemd. Er war mit Lisette da.
Als Rafa Clarice bemerkte, winkte er ihr zu. Sie fragte ihn, ob sie ihn kurz sprechen könne, und er meinte, er müsse noch mit irgendwem reden, käme aber gleich nochmal zu ihr. Er kam tatsächlich wieder an. Clarice ging mit ihm vor die Tür.
"Mir ist zu Ohren gekommen, daß das im Garderobenzimmer nur war, um Hetty zu provozieren", sagte sie zu Rafa.
Er stritt dies rundweg ab. Die Turtelei im Garderobenzimmer habe keineswegs den Zweck gehabt, mich - Hetty - eifersüchtig zu machen. Clarice wußte nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Rafa und sie redeten noch ein wenig über Belanglosigkeiten und gingen dann wieder hinein.
Revil hat mit Clarice telefoniert und sehr bedauert, daß er auf meiner Geburtstagsfeier ihr Herz nicht gewinnen konnte.
"Als Rafa kam mit dem Charme einer Szenegröße, warst du weg", sagte er zu ihr.
Clarice erzählte ihm, daß sie von Rafa schon hingerissen war, bevor sie wußte, was er beruflich macht.
Am kommenden Montag waren Saara und Anwar bei Rafa. Rafa gab Saara endlich die versprochene Kassette mit dem Stigmata-Interview. Die drei spielten Darts und Flipper. Über Venedig verlor Rafa kein Wort, auch nicht über Lisette oder irgendeine "Freundin".
Von Velvet hat Saara gehört, daß Greta mit Rafa und Lisette nach Venedig gefahren ist. Erst soll es für Greta "total blöd" gewesen sein, dann will sie allmählich "daraus gelernt" haben; wahrscheinlich hat sie sich vorgenommen, nie mehr mit Rafa wegzufahren. Lisette hingegen hat von der Venedig-Reise geschwärmt; sie meinte, da sei "immer Party" gewesen. Gretas Anwesenheit erwähnte sie nicht. Ich schließe daraus, daß Rafa sich auf der Reise fast nur um Lisette gekümmert hat und Greta links liegen ließ.
Greta soll nichts anbrennen lassen, was Männer betrifft. Sie soll unter anderem etwas mit Kappa und Xentrix gehabt haben. Und sie soll seit Langem für Rafa schwärmen. Rafa soll einmal bei ihr übernachtet haben, und am Morgen soll er mit ihr in die Kirche gegangen sein, ohne daß die beiden miteinander geschlafen hätten. Das ist kaum zu glauben.
Anfang März war im "Exil" kaum etwas los, getanzt wurde aber trotzdem. Macro spielte meinen Wunsch "Y" von Bug O-Four und so ausgefallene Sachen wie "Stumble and fall" von Xymox und das sehr rhythmusbetonte "Lies" von Klinik, das mich an Kulttänze erinnert. Ich finde sein Programm hervorragend.
Samstags im "Elizium" war es ebenso lohnend, mit "A strange day" von The Cure, "Crowning Glory" von Will und anderem. Dieses Mal fragte mich ein fremdes Mädchen in der Damentoilette:
"Wie kriegst du das hin, so zu tanzen? Das sieht aus, als hättest du keine Wirbelsäule."
Immer frage ich mich, ob die Leute nur lästern oder sich wundern oder mich bewundern. Für mich ist es nichts Besonderes, so zu tanzen, und ich gehe immer davon aus, daß die anderen es durchaus ebenso könnten, wenn es nur ihre Absicht wäre. Ich lebe nicht mit dem Bewußtsein, mehr Rhythmusgefühl oder musikalisches Empfinden zu haben als andere; es wird aber vielleicht doch so sein, angesichts dessen, was ich immer wieder zu hören bekomme.
Ich sagte zu dem fremden Mädchen, daß ich schon jahrelang so viel tanze, und daran werde es wohl liegen.
"Das macht dir keiner nach, echt", sagte das Mädchen.
An jenem Samstag war Saara im "Exil". Lisette tauchte dort erst gegen halb vier auf; sie kam nur, um Rafa abzuholen. Er wollte bei ihr übernachten. Er hatte vor, am nächsten Morgen früh aufzustehen und zu arbeiten. In einer Pizzeria, die Said erworben hat, macht Rafa die Wandmalereien.
Als Rafa mit Lisette fortgehen wollte, hatte Saara ihn immer noch nicht begrüßt, und das schien ihm auf der Seele zu liegen. Er winkte Saara von der Tanzfläche weg. Dann umarmte er sie und meinte:
"Ich will nur 'Tschüß' sagen."
Als ich Saara gegenüber meinen Verdacht äußerte, daß Rafa sich davor fürchtet, alleine zu schlafen, sagte sie sofort:
"'türlich!"
Sie wußte auch, woran das lag. Rafa hat ihr erzählt, daß er als kleines Kind allein zu Hause bleiben mußte, während der Bruder in der Schule war und die Eltern arbeiteten. Er soll dann immer große Angst gehabt haben. Er konnte fortan nicht mehr schlafen, ohne daß etwas da war, das wie ein Schutz wirkte - Licht, Geräusche, Menschen. Ich glaube, Rafa war sehr enttäuscht von seiner Mutter, die ihn mit seiner Angst alleinegelassen hat. Vielleicht sieht Rafa in jedem Mädchen seine Mutter, an die er sich klammert und an der er sich rächt, indem er sie schneller zu enttäuschen versucht, als sie ihn enttäuschen kann.
Rafa hatte in seiner Kindheit wahrscheinlich genügend Freiheiten, aber zu wenig Halt. Er verlangt nach stetiger Zuneigung, nach stets verfügbaren Bezugspersonen. Wenn er mitten in der Nacht Mädchen anruft, versichert er sich ihrer dauernden Erreichbarkeit.
Im "Exil" hatte Saara endlich wieder Gelegenheit, sich länger mit Kappa zu unterhalten. Er war ohne Genna gekommen. Saara und Kappa setzten sich auf den Fußboden. Kappa ließ Saara seine Muskeln fühlen, weil sie ihn für dünn und schwach hielt und er das nicht auf sich sitzen lassen wollte. Kappa besiegte Saara im Armdrücken und verkündete das stolz durchs Mikrophon. Vor Kurzem ist Kappa noch von Saara besiegt worden.
Sharon schien sehr eifersüchtig zu sein. Sie versuchte einige Male, Kappa und Saara zu stören.
Eifersüchtig war auch Kappa, doch auf andere Art. Er warf Saara vor, außer mit ihm noch mit drei anderen Jungen etwas gehabt zu haben. Er wollte aber um keinen Preis verraten, wer diese Jungen denn waren, und er wollte Saara auch nicht glauben, daß sie bislang nur mit ihm etwas hatte. Kappas Verhalten erinnert mich sehr an Rafa, der mir auch vorwirft, mit anderen Jungen etwas zu haben. Auch Rafa will mir nicht verraten, was das für Jungen sein sollen. Rafa und Kappa erzählen sich angeblich "alles"; sie werden vermutlich auch über Saara und mich reden. Vielleicht brüten sie dabei solche fixen Ideen aus. Vielleicht sprechen sie ihr Verhalten bisweilen sogar miteinander ab.
Am Sonntag bekam Rafa endlich ein Special bei Ace im Radio. Das Special war nur eine Viertelstunde lang. Es gibt sonst nie so kurze Specials; die meisten dauern eine halbe Stunde, manche sogar eine oder eineinhalb Stunden. Es gibt auch Musiker, die zweimal im Jahr einstündige Specials bekommen, und es gibt sehr bekannte und innovative Musiker, die nie ein Special bekommen. Ace scheint die Verteilung nicht vom Bekanntheitsgrad der Musiker, sondern von seinen persönlichen Vorlieben abhängig zu machen.
Rafa konnte sich in dem Radio-Interview nicht hinter seiner Spiegelbrille verstecken. Also setzte er eine "akustische Maske" auf. Er sprach durch einen Stimmenverzerrer und ließ auch Dolf durch den Verzerrer sprechen. Ace mußte das den Hörern als besonderen Effekt verkaufen. "Dolf und Honey" verstünden sich als "Sklaven ihrer Musik", als "Medium, das eine Musik realisiert, die schon immer da war"; deshalb würden ihre "entmaterialisierten Stimmen" auch "aus dem Orbit schallen".
Rafa stockte ein wenig, als er zum Sprechen ansetzte; seine verzerrte Stimme schien ihn zu verunsichern. Er meinte, es bestünde ein Defizit an NDW-Musik. Dolf redete von einer "Zerstückelung der NDW durch die Trendmedien".
Zynisch dachte ich:
"Es könnte sein, daß Rafa ihm das zum Auswendiglernen gegeben hat, damit er auch etwas sagen kann."
Kein Wort fiel über eine Sängerin. Und in keinem der vier vorgestellten Stücke war weiblicher Gesang zu hören.
Rafa betonte, nicht nur leichte Schlagermusik machen zu wollen, sondern auch Stücke, "die absolut todernst gemeint sind, 'Monique Martinot' zum Beispiel".
"Gut - das geht halt darum", erzählte er, "da ist irgendsoein Professor in Frankreich, das ist halt der Professor Dr. Martinot, dem halt seine Frau vor drei Jahren, glaube ich, an Krebs gestorben ist, und er wahrscheinlich mit dem Schmerz nicht klarkommen konnte, und der dann irgendwie so ein Serum gespritzt hat, daß es halt wohl möglich ist - obwohl es eigentlich nicht möglich ist -, die in grauer Zukunft halt mal wieder zum Leben zu erwecken. Das würde eigentlich - es geht eigentlich - es geht nicht, allein vom Gehirn her schon nicht. Aber daß man halt mit dem Gedanken lebt, daß die Frau halt nicht irgendwie auf dem Friedhof - eins-achtzig - im Grab ist, sondern daß man die im Keller hat, in der Tiefkühltruhe. Und einen Raum weiter steht dann seine Tiefkühltruhe auch schon - mit einem Notstromaggregat."
Rafa hat offenbar nicht vergessen, was ich ihm über das Einfrieren von Leichen gesagt habe, als wir uns im November im Bahnhofscafé von SHG. unterhalten haben. Rafa scheint auf mein Urteil Wert zu legen.
Im Radio-Interview schwärmte Rafa auch von den Designs der Fünfziger Jahre; das hat er mit seinem Bruder gemeinsam. Vielleicht zeigt sich darin die Verehrung für die Eltern.
Rafa erzählte außerdem die Geschichte von den Kindern, die nach stundenlangem Videospielen die Augen verdreht haben und gestorben sind. Er konnte nicht genau erklären, wie es zum Tod der Kinder gekommen ist.
Ich glaube, daß Videospiele vor allem aus einem anderen Grund eine Gefahr für Kinder darstellen: Sie sind oft gewaltverherrlichend. Bei Lana habe ich kürzlich das Spiel "Doom" ausprobiert. Ich fand es zwar ganz lustig, in einem virtuellen Raum herumzureisen, aber es hat mich sehr gestört, daß man dauernd gezwungen ist, irgendwelche Menschen zu töten. Dieses Spiel vermittelt, daß man alle um sich herum niederknallen muß, wenn man nicht selbst das Opfer sein will. Sozialverhalten und Mitmenschlichkeit bleiben ausgeklammert. Das ist es wahrscheinlich, was Mal in seinem Stück "Gewalt" mit "Steinzeitniveau" meint. Ich finde es bedenklich, daß man Kinder solche Spiele spielen läßt. Dadurch werden sie zu kleinen Monstern erzogen.
Saara ist erkältet, aber eine tödliche Grippe scheint das nicht zu werden. Der Professor ist auch nicht gestorben, wenngleich es nah daran war. Er wird zur Kur gehen; wahrscheinlich nicht ohne Handy.
Am Freitag war ich mit Zoë im "Exil". Zoë habe ich vor neun Jahren auf einer Intensivstation kennengelernt. Ich hatte dort Nachtdienst, und sie lag dort, weil sie einen Autounfall gehabt hatte. Wir unterhielten uns angeregt über das "Base", wo wir beide gern hingingen. Das "Base" gibt es schon lange nicht mehr. Kürzlich habe ich Zoë im "Elizium" wiedergetroffen. Ich erkannte sie nicht; erst als sie mir die Geschichte mit der Intensivstation erzählte, wußte ich, wer sie war. Zoë kennt Rafa ein wenig, hatte aber nichts mit ihm. Sie findet ihn anziehend und beeindruckend; allerdings wirkt er auf sie ziemlich unnahbar.
Im "Exil" war es voller als beim letzten Mal. Zoë und ich trafen viele Leute. Simon stöhnte über die Läster-Cliquen im "Elizium", die ihn nicht mehr grüßen wollten, nachdem er mit Elsa Schluß gemacht hatte. Simon war verwundert darüber, daß ich ihn weiterhin grüßte. Er kennt das wohl nicht, daß es auch Leute gibt, die sich nicht in das Beziehungsleben anderer Leute einmischen.
Macro erfüllte fast alle Musikwünsche. Es liefen "Murder" von Suicide Commando, "Warm Leatherette" von Blok 57, "Operating Tracks" von Front 242, "Lies" von Klinik, "The Darkness ends the Day" von Leæther Strip und "Ulysses" von Dead can dance.
Am Samstag war ich mit Brinkus in HB. Zuerst besuchten wir Rufus. Er hat sich die Musik von Derek angehört, und er möchte Dereks erste CD auf seinem neugegründeten Label produzieren. Rufus macht selber Musik, zusammen mit Ciril. Das Projekt heißt Totale Etah Matrix, und das erste Werk ist eine LP voller Krach, eingewickelt in ein Poster aus Malerkrepp. Der Malerkrepp ist bedruckt mit einem Holzschnitt von Ciril, der ein ausgehungertes Kind zeigt. Ich vermute, das Kind stellt den Künstler selbst dar. Es guckt so ähnlich wie Ciril, embryonenhaft unreif und unversorgt. Die Umhüllung der Platte ist versiegelt mit einem Büschel Haare und Acryl-Klarlack. Ich möchte auch eine Platte kaufen, aber als Sonderedition - ohne Haare. Ich finde die Haare eklig; außerdem will ich das Poster aufhängen. Im großen Zimmer ist noch eine Wand frei.
Nachts waren wir in der "Ruine". Leider hielt sich dort auch der Sockenschuß auf; er behelligte mich jedoch nicht. Sareth umarmte mich stürmisch, als er mich entdeckte. Stolz zeigte er mir eine CD, die er sich hat brennen lassen. Viele Raritäten befinden sich darauf, auch "Ash Nazg" von M.O.A.T.A. Omen & The Rorschach Garden.
"Wenn ich nachts weggehe, fühle ich mich oft so verlassen", klagte ich Rufus mein Leid. "Ich kenne so viele Leute ... aber ich vermisse den Rafa so sehr. Es wäre so schön, wenn er bei mir leben würde und wir überall gemeinsam hingehen könnten."

In einem Traum ließ ich aus Versehen zwei Frettchen von Lana aus dem Käfig. Damit die Tiere nicht entwischten, mußte ich schnell alle Türen schließen. Auf einem Türblatt saß rittlings ein weißgekleidetes Einjähriges - mein Kind. Damit ich die Tür schließen konnte, nahm ein Mann - mein Mann - das Kind herunter und trug es weg. Als die Türen alle geschlossen waren, entdecke ich eine Hornisse, die durchs Zimmer schwirrte. Ich betrachtete meinen Arm und fand einen blutenden Stich.
"Hornisse!" gab ich Alarm. "Hier ist eine Hornisse im Haus! Kommt mal einer, bitte ..."

Die Hornisse in diesem Traum könnte bedeuten, daß Rafa wieder eine Freundin hat. Die Hornisse kann aber auch ein Hinweis sein auf sonstige Eifersüchteleien. Es ist möglich, daß Macros Freundin Janu einen Haß auf mich hat, weil Macro gern mit mir spricht und Freude zeigt, wenn er mich sieht.
Der Traum könnte außerdem vorhersagen, daß Rafa für unser gemeinsames Kind sorgen würde, wenn ich in dem selbstgemachten Wirrwarr meines Alltaglebens untergehe.
Die beiden Frettchen sind in Wirklichkeit nicht mehr am Leben. Sie waren Lanas Lieblinge und meine "Patentiere". Sie könnten stehen für die vielen Freundschaften, um die ich mich kümmere, weil sie wertvoll für mich sind.

In einem Traum Mitte März redete ich lange mit Rafa. Ich erzählte ihm von einem Erlebnis, das mich belastete. Zwischen uns herrschte eine Atmosphäre des Vertrauens.

Vielleicht war dieses belastende Erlebnis eine Erfahrung mit Malda. Bei ihrem Geburtstagskaffee offenbarte sie mir nach längerem Nachfragen, daß Carl ihr "über geworden" sei; sie könne "mit ihm nichts mehr anfangen". Ich meinte daraufhin, dann wäre ich ja wohl die Nächste, mit der sie nichts mehr anfangen könne.
"Neeiin", antwortete sie. "Mit Frauen ist das doch anders."
"Ich stehe nicht auf Sadomaso", warnte ich. "Vielleicht hast du mit mir bald auch keine Gesprächsthemen mehr."
"Aach, wiesoo ... mit Frauen ist das doch anders. Mit Cassandra bin ich doch auch immer noch befreundet."
"Ich werfe Menschen nicht so einfach weg."
"Und was war mit Ivo?"
"Der hat mich abgelinkt. Den mußte ich in die Wüste schicken."
"Und Daria?"
"Der war ich über."
"Und Laura ..."
"Die ist so aggressiv, daß sie es sich mit allen verdirbt, sogar mit Sarolyn", erklärte ich. "Wenn ich mit irgendwelchen Leuten nichts mehr zu tun habe, hat das schwerwiegende Gründe. Ich trenne mich nicht gern und nicht freiwillig von denen. Ich gebe denen manchmal sogar eine Chance. Lana hat ihre Chance genutzt und ist wieder angekommen, drei Jahre, nachdem ich sie in die Wüste geschickt hatte."
Tags darauf stellte sich heraus, daß Carl ebenfalls zu Maldas Geburtstagskaffee gekommen ist, eine Viertelstunde eher als ich. Malda tat so, als sei er ein Fremder. Sie bot ihm keinen Stuhl an und warf ihm vor, daß er gekommen sei, ohne eingeladen zu sein. Carl sagte zu ihr, auf solche Freunde könne er verzichten. Er ging. Als ich kam, verschwieg Malda mir seinen Besuch. Seit ich das weiß, gebe ich auf Maldas Freundschaft auch nichts mehr.
In der Freitagnacht war ich in den "Katakomben". Siddra erzählte mir in der Toilette, wie furchtbar sie Maldas Verhalten findet. Sie zweifelt ebenfalls an Maldas Freundschaft. Außerdem ekelt es sie, daß Malda sich von dem impotenten Ivo Fechtner zu allerlei Praktiken benutzen läßt.
Siddra erinnerte sich an vergangene Zeiten. Vor etwa fünf Jahren war sie in Dolf verliebt. Sie kuschelte in OS. mit ihm in dem Auto von Ivo Fechtner. Damals fuhren Ivo Fechtner, Siddra, Dolf und Rafa öfters gemeinsam nach OS. zu den Tanzparties im "Helix".
Rafa war einmal zu Gast bei Gart, der aus OS. stammt und im Irrenhaus von Kth. seinen Zivildienst ableistete. Als Rafa sich mit Schwung auf Garts Bett setzte, soll es gekracht sein.
Am Samstagmorgen habe ich Folgendes geträumt:

Eine Gruppe von Reisenden - darunter auch Rafa, Dolf, Vivien und ich - wurde in Süddeutschland aus dem Zug gewunken. Wir sollten der Polizei als Zeugen dienen bei der Aufklärung eines unbekannten Verbrechens. Zwölf Tage lang wollten sie uns festhalten und verhören. Wir sollten auch als Schauspieler eingesetzt werden, zum Nachspielen der vermuteten Ereignisse. Uns wurde befohlen, Viviens Kleider anzuziehen, die auf die Polizisten besonders angepaßt und gefällig wirkten. Vivien freute sich, weil man ihren eher schlichten, sportlichen Stil lobte.
Wir Zeugen wohnten in einer großen Herberge. Ich schaute mich dort ein wenig um. Dolf folgte mir fast überall hin. Er beobachtete mich und lauschte den Gesprächen, die ich führte. Ich knüpfte schnell Kontakt zu meinen Leidensgenossen und fragte, wie ich an einen Rechner herankommen konnte. Auch während der zwölf Tage des Eingesperrtseins sollte meine Arbeit weitergehen.
In einem Saal voller Stockbetten verhörte uns die Polizei. Ich wurde ausgefragt wie jemand, der selbst eines Verbrechens verdächtigt wird. Dolf wurde freundlicher behandelt. Er quasselte unbefangen drauflos. Rafa mußte nichts sagen. Er sollte in einem anderen Raum verhört werden.
Als es Abend wurde, lief Rafa im T-Shirt zwischen den Stockbetten herum und spielte mit einer Horde kleiner Jungen. Es schien ihm viel Spaß zu machen. Um die Frauen kümmerte er sich nicht, auch nicht um mich.

In diesem Traum versetzte Rafa sich in die Kinderrolle und übernahm gleichzeitig die Vaterrolle. Währenddessen konnte er sich nicht mit mir beschäftigen. Dolf mußte auf mich "achtgeben".



Als ich nachts ins "Elizium" kam, war Rafa nicht da. Malda ließ sich von Ivo Fechtner "bewachen". Sie ist sonst immer auf mich zugegangen, um mich zu begrüßen. Dieses Mal tat sie es nicht. Ich kümmerte mich nicht um sie.
Malda und Ivo Fechtner gingen, bevor Carl erschien. Das freute mich. Jetzt mußte Carl ihnen gar nicht begegnen.
Xentrix bemühte sich, es mir, seiner "Lieblings-Nervensäge", einigermaßen rechtzumachen. So wurde es halb fünf. Ich stieg mit einem Glas in der Hand die Treppe hinunter. Rafa lief eilig an mir vorbei nach oben. Ich kraulte ihm den Hals, ohne daß wir in unserem Schritt innehielten. An der Bar holte ich mir das Glaspfand. Dann setzte ich mich aufs Podest, weil mir schwindelig wurde.
Rafa hatte sich die Haare himmelhoch gestellt und war stark geschminkt. Er trug die Jacke mit den vielen Westernschnallen an den Ärmeln und passend dazu die Hose mit den Westernschnallen an den Seitennähten und spitze Stiefel mit den gleichen Schnallen. So hatte er rechts und links eine einzige Schnallenreihe. Die Jacke war offen, und ein weißes Rüschenhemd schaute darunter hervor.
Rafa hatte eine Gruppe von Leuten aus dem "Exil" mitgebracht, darunter auch Ivco und Lisette. Kappa und Dolf waren nicht dabei. Rafa unterhielt mit vielen Leuten, aber kaum mit Lisette. Mal war er oben auf der Galerie, mal an der Theke. Ich stieg zu Carl aufs Podest. Von dort aus konnte ich den Tanzraum gut überblicken. Ich beobachtete Rafa scharf, wobei Lisette mein Blickfeld störte. Zwischendurch nahm ich mir einige Minuten, um meine Bekannten aus dem "Exil" zu begrüßen.
Es dauerte etwa eine Stunde, ehe Rafa Verbindung zu mir aufnahm. Er stellte sich allein in den Seitengang. Mit lässiger Pose lehnte er sich an das Ablagebrett an der Wand und zog an seiner Zigarette. Dann legte er den Kopf schief und lächelte mir zu, als wollte er sagen:
"Nun mach' die paar Schritte, komm' her."
Ich legte ebenfalls den Kopf schief und lächelte. Damit wollte ich sagen:
"Nein, ich komme nicht. Du mußt kommen, oder du mußt mich herwinken. Du mußt mir eindeutig zeigen, daß du mit mir reden willst."
Rafa ging schließlich in meine Richtung, aber er kam nicht zu mir, sondern zu Violet. Er unterhielt sich ein Weilchen mit ihr. Ich fächelte und beobachtete Rafa aus geringer Entfernung. Schließlich ging er auf mich zu, aber er kam immer noch nicht zu mir; er warf mir nur einen kurzen Blick zu und ging an mir vorbei. Er fuhr fort, zwischen Galerie und Theke hin- und herzulaufen.
Violet erzählte mir, daß sie mit Rafa über ihr Kind gesprochen hat. Rafa kennt das Kind; Violet deutete an, daß er sie mit dem Kind in der Stadt getroffen hat und vielleicht auch schon bei ihr zu Besuch war. Nach der Unterhaltung mit Rafa war Violet ganz beschwingt und heiter geworden. Sie sang Liedtexte mit, hüpfte im Takt und lachte.
Carl wurde von Rafa im Vorbeigehen begrüßt. Rafa gab ihm die Hand und fragte:
"Alles klar?"
Es kamen einige NDW-Stücke. Rafa tanzte aber nicht. Eine Zeitlang saß er allein im hintersten Winkel links neben der Bar; er kauerte auf einem Hocker und rauchte. Dann spielte Spheric "Tornskin" von :wumpscut:. Während ich tanzte, dachte ich nach über den Eindruck, den Rafa in mir zu erzeugen versucht. Ich kam zu dem Schluß, daß Rafa auf mich wie ein Taugenichts wirken möchte, ein lächerlicher "Kindergrufti", um den sich das Mühen nicht lohnt. Stumm bat ich mein Schicksal:
"Wenn ich auf diese Maskerade hereinfalle und diesen Menschen nicht annehme, will ich auf der Stelle tot umfallen, weil ich die Aufgabe meines Lebens verfehlt habe."
Mit den Gedanken an einen solchen "gerechten Ausgleich" im Rücken fühlte ich mich in der Lage, den Kampf mit Rafas Selbsthaß aufzunehmen.
Als "Tornskin" zuende war, stand Rafa wieder am Tresen, mir zugewandt. Ich weiß nicht, ob er mich beobachtet, wenn ich auf der Tanzfläche bin.
Gegen sechs Uhr ging Carl heim. Es schien, als wenn Rafa nur darauf gewartet hätte, daß meine "Garde" fort war. Er strich an mir vorbei, als ich allein neben der Säule vorm Podest stand. In meiner Nähe schwatzte er wieder mit Violet. Auf dem Rückweg sah er mir in die Augen und lächelte scheu. Er blieb dicht vor mir stehen.
"Und?" fragte er. "Wie geht's?"
"Ich bin total fertig."
"Und, warum?"
"Wenn ich dir das sage, läufst du bestimmt gleich wieder weg", vermute ich. "Ich bin nämlich voll erkältet."
Mein Gesicht lehnt an seiner glattrasierten Wange. Rafa versichert, er sehe in meiner Erkältung keinen Grund, davonzulaufen, weil etwas anderes viel bedeutsamer für ihn sei. Er nuschelt, weil er betrunken ist. Ich bitte ihn, das Gesagte zu wiederholen.
"Denn es ist das erste Mal nach langer Zeit, daß ich mit dir rede, ohne daß du mich gleich in den Arm nimmst und streichelst", erklärt Rafa.
Ich schließe die Arme um ihn. Er befreit sich hastig und seufzt:
"Nein ... schon wieder ... schon wieder ..."
"Ich dachte, das wäre für dich schön, wenn ich dich in den Arm nehme", entgegne ich und greife nach seiner Schulter.
"Nein, nein, genau das meine ich!" ruft er und zieht meine Hand weg. "Nein, nein, nein! Ich will doch nur einfach mal normal mit dir reden."
Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter. Dagegen wehrt er sich nicht.
"Das war echt so wunderschön, mit dir ganz normal einfach nur zu reden, ohne daß du mich gleich in den Arm nimmst", schwärmt er.
"Gut, dann reden wir einfach miteinander."
"Du saugst mich immer so aus", klagt Rafa.
"Sind meine Augenbrauen noch in Ordnung?" frage ich, weil ich befürchte, daß sie verwischt sind, als Rafa sich gegen meine Umarmung gewehrt hat.
Er nimmt mein Kinn zwischen zwei Finger und dreht mein Gesicht so, daß er die Augenbrauen beurteilen kann.
"Ja", sagt er.
Er hat sich ein Auge mit einer Ponysträhne zugehängt. Ich kann ihm also nur in das andere Auge sehen. Es ist mir, als wenn viele Wände zu Glas werden und den Blick freigeben auf einen Abgrund. Rafa beginnt zu lächeln, als wolle er die Trauer in seinen Augen überdecken.
"Was denkst du?" fragt er.
"Ich finde, du guckst so traurig."
"Nö, mir geht's eigentlich ganz gut", meint Rafa. "Ich hatte nur einen harten Tag."
"Was hast du denn so gemacht?"
"Na ja, um sieben aufgestanden ..."
Er beschreibt flüchtig seinen Tagesablauf. Von einem Mädchen sagt er nichts.
"Da ist noch ein Problem", schalte ich dazwischen.
"Was für ein Problem?"
"Du kannst nur mit mir reden, wenn du solo bist."
"Ich bin solo."
"Gut, dann kannst du mit mir reden", bestimme ich. "Also - wie geht's dir?"
"Das habe ich dir doch eben schon gesagt", erwidert Rafa ärgerlich. "Mir geht's ganz gut."
"Du hast mir doch so hübsche Sachen geschenkt. Warum hast du mir denn die Tarot-Karte 'Der Turm' geschenkt?"
"Kennst du das Tarot-Spiel?"
"Ich habe es gleich nachgelesen, was 'Der Turm' bedeutet."
"Hast du das auch das andere nachgelesen, in der Bibel?"
"Ach - 'Prediger 3, 1 - 2'?"
"Ja!"
"Ach", staune ich, "das ist aus der Bibel?"
"Ja!"
"Oh, ich habe keine Bibel."
"Das ist schlecht."
"Ach, ich muß das unbedingt noch nachlesen", nehme ich mir vor. "Aber 'Der Turm', das habe ich schon nachgelesen, was das bedeutet."
"Ja, und was?"
"Das ist der Turm von Babel."
"Richtig", lobt Rafa.
"Und da schlägt der Blitz ein, und da fallen zwei Menschen 'raus."
"Richtig."
Er beginnt ein neues Spiel. Immer wenn ich spreche, pustet er mir in die Halsbeuge. Ich puste zurück.
"Und für die Menschen gibt es eine große Veränderung", fahre ich fort.
"Richtig."
"Unter dem Einfluß einer großen spirituellen Macht."
"Ja?"
"Ja, die dafür sorgt, daß diese Veränderung stattfindet."
"Richtig."
"Und es ist noch nicht klar, was aus den beiden wird."
"Richtig."
"Und warum hast du mir die Karte geschenkt?"
"Sagtest du doch schon", spricht Rafa in Rätseln.
Ich höre auf, zurückzupusten; ich lasse Rafa pusten und kichere nur noch.
"Hast du ein Tarot-Spiel?" erkundige ich mich.
"Nein."
"Wo hast du denn dann die Karte her?"
"Weiß ich nicht", behauptet Rafa und läuft davon.
Er scheint mir etwas verschweigen zu wollen, das ihm unangenehm ist. Vielleicht befürchtet er auch, daß ihn die körperliche Sehnsucht nach mir überwältigt.
Ich bleibe am Rand der Tanzfläche stehen. Es dauert nicht lange, bis Rafa wieder auf mich zugeht. Er trägt ein volles Bierglas und schaut mich freundlich an. Eben jetzt beginnt das Stück "Aufprall" von Calva y Nada. Ich lege zart einen Arm um Rafas Schultern und sage entschuldigend:
"Das Lied ist geil. Ich muß tanzen."
Er macht eine einladende Geste in Richtung der Tanzfläche. Er möchte mich nicht am Tanzen hindern; wenn er verletzt ist, soll ich es nicht sehen. Während ich zu dem Stück tanze, bleibt Rafa noch kurz in meiner Nähe; er wird dann aber ungeduldig und geht wieder zur Bar.
"Jetzt ist er schon zu Tode gekränkt", denke ich betroffen. "So schnell fühlt er sich durch mich zurückgewiesen. So wenig Vertrauen hat er zu mir."
Vielleicht fühlt er sich durch mich viel schneller enttäuscht als durch andere Menschen. Vielleicht ist ihm gerade meine Zuwendung besonders wichtig, und er hat eine besondere Angst, sie zu verlieren. Vielleicht erwartet er von mir nichts anderes, als verletzt zu werden, und sucht für diese Annahme nun immer die Bestätigung:
"Ich habe es gleich gesagt, sie enttäuscht mich nur."
Es ist so schwer, diese Sichtweise zurechtzurücken und Rafa zu vermitteln, daß ich ihn eben nicht enttäusche. Und daß ich ihn bis in alle Ewigkeit nicht enttäusche, kann ich ihm erst recht kaum vermitteln, könnte ich es doch nur beweisen am Ende aller Ewigkeiten. Für das Jetzt muß ich hoffen, daß er eines Tages lernt, zu glauben.
Vielleicht erwartet Rafa von einer Bezugsperson, daß sie vierundzwanzig Stunden am Tag unausgesetzt zu seiner Verfügung steht. Vielleicht kann er sich nicht vorstellen, daß ein Mensch auch dann noch für ihn da ist und an ihn denkt, wenn er nicht bei ihm ist. Vielleicht kann er sich nicht vorstellen, daß ein Mensch in Gedanken immer bei ihm ist, auch wenn er sich gerade anderswo aufhält und sich mit etwas anderem beschäftigt.
Als das Stück zuende ist, bleibt Rafa an der Bar stehen. Weil er vorhin auf mich zugekommen ist, kann ich nun den Faden weiterspinnen. Ich gehe zu ihm an die Theke, berühre ihn an der Schulter und sage:
"Wenn du mit mir reden willst, mußt du nur kommen."
"Hier, kennst du schon Sten?" fragt mich Rafa und reicht mich an den Sänger von Xrossive weiter.
Ich gehe nicht darauf ein. Ich begrüße Sten nur kurz und schaue dann wieder nach Rafa. Der steht jetzt einen Schritt entfernt von mir und läßt sich sein Glaspfand geben. Ich lege noch einmal vorsichtig eine Hand auf seine Schulter.
"Wie gesagt - wenn du mit mir reden willst, mußt du nur kommen", wiederhole ich mein Angebot.
Rafa sagt nur:
"Ja."
Ich gehe zurück zum Podest.
"Es ist eine Gratwanderung mit Rafa", denke ich. "Wenn man ihm nicht genügend Zuwendung gibt, ist er enttäuscht, und wenn man ihm zu viel anbietet, enttäuscht er einen."
Während ich zu "Let your body die" von Cyber-Tec tanze, verschwindet Rafa. Es ist halb sieben. Das ist die Zeit, um die sonntags die ersten Züge nach SHG. fahren.
Im November wollte Rafa mich an einem Sonntagmorgen mitnehmen nach SHG. Wahrscheinlich hat er nicht bedacht, daß der von ihm ausgewählte Zug um 4.53 nur werktags fährt. Wir hätten damals erst viel später fahren können. Ich frage mich, was Rafa sich hätte einfallen lassen, wenn wir tatsächlich zum Bahnhof gegangen wären.
Am Morgen habe ich Folgendes geträumt:

In einem Flugzeug sah ich Rafa mit einem jungen Mädchen. Sie saßen nebeneinander. Sie schienen mich nicht zu bemerken. Es wurde mir zugetragen, daß das Mädchen seinen Kopf an Rafas Schulter gelegt hatte. Ein blau uniformierter Stewart winkte Rafa und das Mädchen heraus. Er schimpfte mit ihnen, als wenn sie etwas Böses angestellt hätten. Sie durften aber nach der Landung ins nächste Flugzeug umsteigen und die Reise fortsetzen. Dieses Flugzeug mußte auch ich nehmen. Rafa verschwand mit dem Mädchen in einem leeren Großraumabteil. Ich konnte den beiden Übeltätern nicht nachgehen und schauen, was sie trieben. Sie hätten mich in der Leere und Stille unweigerlich bemerkt. Der gestrenge blaugekleidete Steward kam aber wieder und tat, was ich nicht konnte. Er winkte zuerst das Mädchen aus dem Abteil und schimpfte mit ihm. Ich sah heimlich zu und freute mich. Das Mädchen durfte nach der Predigt wieder hineingehen. Dafür mußte Rafa herauskommen. Der Stewart nahm ihn mit in ein tiefergelegenens Stockwerk. Ich vermutete, daß Rafa dort unten bestraft werden sollte für seine Sünden.

Der strenge Stewart scheint eine moralische Instanz darzustellen, entweder eine, die von außen kommt, oder eine, die Rafa in sich trägt. Der Stewart hatte einen kräftigen Wuchs; er war noch mächtiger und kräftiger als Rafa. Er bildete eine Vaterfigur. Es ist möglich, daß Rafa moralischen Halt in seinem Vater gefunden hat und daß ihm dieser Halt mit dem Tode des Vaters verlorenging. Um anzuzeigen, daß ihm dieser Halt fehlte, benahm Rafa sich fortan so schlecht, wie er konnte - in der Hoffnung, daß sich ein Mensch bereitfand, Rafas moralische Erziehung fortzusetzen.
Das Bibelzitat "Prediger 3, 1 - 2" lautet:
"Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist."
So ein Spruch paßt zu Beerdigungen. Weshalb schreibt Rafa ihn auf meine Geburtstagskarte?
Saara hat mir erzählt, daß Velvet im Krankenhaus liegt. Rafa rief sie dort an. Er fragte sie nach Saaras neuer Telefonnummer und erklärte, er wolle mit Anwar bei Saara "Party machen".
Rafa ist darüber im Bilde, daß Velvet es auf ihn abgesehen hat. Vielleicht möchte er Velvet entmutigen, indem er sie glauben macht, er wolle etwas von Saara.
Rafa treibt ein Maskenspiel; von daher ist er in Venedig durchaus am richtigen Ort.
"Das ist schön, daß es wieder lauter Gerüchte gibt, wenn ich mit irgendwelchen Mädchen mitgehe", sagte er zu Saara.
Meistens laufe zwischen ihm und den Mädchen gar nichts, aber die Leute sollten ruhig denken, da liefe etwas.
Lisette soll zu Saara gesagt haben, daß sie mit Rafa im nächsten Jahr wieder nach Venedig fahren wird. Rafa soll nichts dergleichen geäußert haben.
Am Donnerstag war Saara bei mir zu Besuch. Sie hatte am Vortag bei Rafa angerufen und ihm mitgeteilt, daß sie jetzt eine Geheimnummer hat.
"Ach, die kriegt wohl nicht jeder?" folgerte Rafa.
"Nein, die kriegt nicht jeder", bestätigte Saara. "Aber bei dir will ich mal nicht so sein. Hast du was zum Schreiben da?"
"'türlich."
Sie diktierte ihm die Nummer. Ehe sie ihm die letzten beiden Ziffern sagen konnte, sagte Rafa sie schon vorweg.
"Woher weißt du die Nummer?" fragte Saara erstaunt.
"Habe ich geraten", behauptete Rafa.
Vielleicht hat Velvet sie ihm doch gegeben. Rafa erzählte nämlich, daß er Velvet im Krankenhaus besucht hat.
"Mensch, da machst du der doch bloß wieder Hoffnungen!" rügte ihn Saara.
"Nein, nein!" beteuerte Rafa. "Das war nur ... ich war sowieso in H. Ich habe in der Pizzeria von Said dreißig Stühle gestrichen."
"Ach ... du bist doch einer, der immer 'Bäumchen, wechsel' dich' spielt."
"Das ist überhaupt nicht wahr!" wehrte sich Rafa gegen diesen Vorwurf.
"Also, ich weiß von mindestens fünf Mädchen im 'Exil', daß du mit denen schon geschlafen hast."
"Nein, das waren nur zwei."
"Und wer waren die?" fragte Saara.
"Velvet und Viktoria."
"Da kenne ich aber noch ein paar mehr! Mit Sharon hast du doch auch ..."
"Die? Die finde ich doch nur blöd."
"Erzähl' mir nichts ... als ihr das 'Exil' eingerichtet habt, hast du doch eine Woche bei ihr übernachtet."
"Da habe ich nur auf dem Sofa geschlafen."
Von Lisette will Rafa angeblich nichts mehr wissen. Er meinte, die würde ihn nur noch nerven. Er duldet sie höchstens noch "als Kumpel". Die Geschichte mit der Sängerin Tessa allerdings ist für Rafa immer noch nicht abgeschlossen. Er hat mehrmals versucht, sie anzurufen. Es hat aber niemand abgenommen. Schließlich ist er zu ihr gefahren und hat geklingelt. Es hat niemand geöffnet. Rafa vermutet deshalb, daß die Sängerin für ein Jahr nach Amerika gezogen ist. Das soll sie schon einmal gemacht haben. Wahrscheinlich hat sie Verwandte dort. Vielleicht legt sie sich auch einen Mann zu, der sie aushält. Ich würde mich freuen, wenn die Sängerin einen amerikanischen Millionär heiraten würde. Dann wäre ich sie endlich los.
"Vielleicht tut sie einen Rothaar- und Tattoo-Fetischisten auf", werde ich in Gedanken wieder zynisch. "Oder sie kommt mit so argen Piercings aus Amerika zurück, daß Rafa sich übergeben muß, wenn er versucht, sie oral zu befriedigen."
Rafa hat die Angewohnheit, sich seine Verflossenen warmzuhalten. Vermutlich braucht er einen Pool von Frauen, über die er nach Bedarf verfügen kann. Die Sängerin war für ihn ein ganz besonderes Schmuckstück. Ich finde sie so abstoßend, daß Rafa sie ganz leicht als Waffe gegen mich einsetzen kann.
Saara hat sich mit Rafa auch über sein Radio-Interview unterhalten. Sie bemängelte, daß man ihn gar nicht habe verstehen können, weil er seine Stimme verzerrte.
"Ach, fandest du das nicht toll?" fragte Rafa. "Das haben wir uns ausgedacht. Das klingt doch wie aus dem Weltraum."
"Warum war das Interview denn nur eine Viertelstunde lang?"
"Ach, die anderen Bands kriegen doch auch nur zwanzig Minuten. Außerdem war das erst mein zweites Interview."
Das erste Radio-Interview ist neulich im "Contrast" gemacht worden, von einem Lokalsender.
"Die Hetty mag meine Musik ja sowieso nicht", kam Rafa auf mich zu sprechen.
"Ach ... das glaube ich nicht", meinte Saara. "Woher willst du das denn wissen?"
"Wieso, hat sie gesagt, daß sie die mag?"
"Nein. Aber ich kann mir gar nicht vorstellen, daß die die nicht mag."
Ich erzählte Saara, daß ich die Musik von Rafa zum großen Teil wirklich nicht mag und daß ich ihm das auch gesagt habe. Ich glaube, daß Rafa traurig darüber ist. Und weil er traurig ist, bin ich auch traurig. Ich will seine Musik nicht niedermachen. Ich will ihn aber auch nicht belügen. Ich möchte ihm ehrlich vermitteln, daß ich die glatten, kitschigen Klänge und die niedlichen Texte als Heile-Welt-Fassade erlebe, die die Abgründe in Rafa weitgehend ausklammert.
Übrigens soll er ein Weihnachtslied gecovert haben. Ich bin neugierig darauf.
Saara fragte Rafa, wann er wieder im "Exil" auflege.
"Weiß ich nicht", antwortete er. "Irgendwann."
Er schwärmte davon, wie lustig es am letzten Samstag im "Exil" gewesen sei. Am kommenden Samstag wollte er allerdings nicht hingehen.
"Ich habe kein Geld", sagte er. "Außerdem muß ich zu Ivco; der hat nämlich Geburtstag. Du kommst auch!"
"Nein. Ich gehe ins 'Exil', mit Hetty."
"Ach - die ist wohl jetzt deine beste Freundin, oder was?"
"Ich kenne sie halt so", meinte Saara. "Morgen bin ich bei ihr."
"Wieso?"
"Na ja, zum Kaffee."
"Ach ...", staunte Rafa. "Ja ... Hettys Party, die ist ja auch wirklich ganz lustig gewesen ..."
"So, so!" sagte Saara streng. "Da hast du ja auch wieder eine gefunden. Mit der wärst du ja auch wieder glatt mitgegangen."
"Quatsch!"
"Wieso, das hattest du doch vor! Wenn ich gegangen wäre ohne dich ... du wolltest doch dableiben; du wärst doch dann mit der weggegangen, mit der Clarice."
"Welche Clarice?"
"Weißt doch, die Clarice!"
"Ach, die Dicke!"
So besonders dick finde ich Clarice nun auch wieder nicht; Edna, May und Daphne sind wesentlich massiver. Wahrscheinlich wollte Rafa etwas Verletzendes sagen, um seine Neigung zu Clarice verleugnen zu können.
"Ja!" bestätigte Saara und warf Rafa vor:
"Wenn ich dich nicht mitgenommen hätte, wärst du glatt zu der gefahren."
"Nein."
"Wieso, was hättest du denn sonst gemacht?"
"Ich hätte wohl bei Hetty geschlafen."
"Ach, dann hättest du mit Hetty was gehabt", vermutete Saara.
"Nein", erwiderte Rafa. "Mit Hetty kann man doch gar nicht schlafen."
Er soll zu Saara gesagt haben, daß ich "voll anständig" und noch Jungfrau sei und daß ich auf ihn warten würde.
Rafa warf Saara vor, ihn nicht zu mögen. Angeblich soll ich ihm erzählt haben, daß sie ihn nicht mag. In Wirklichkeit habe ich ihm nur gesagt, daß Saara nichts von ihm will. Rafa scheint immer noch die Absicht zu haben, einen Keil zwischen Saara und mich zu treiben.
Es gibt immer wieder Leute, die glauben, daß zwischen Rafa und Saara etwas ist.
"Na, schon im Rafa-Fieber?" soll Daphne zu Saara gesagt haben. "Du bist doch auch in den verknallt; man sieht es dir doch an."
Daphne soll es selbst auf ihn abgesehen haben.
Während Saara mit Rafa telefonierte, klingelte es bei ihm an der Tür. Er öffnete. Saara fragte, wer da sei, und Rafa antwortete:
"Ach, das ist nur die Blumengieß-Tante."
Seine Mutter sei für eine Woche im Urlaub, und da käme jeden Tag eine ihrer Freundinnen, um die Blumen zu gießen. Wahrscheinlich traut die Mutter ihrem Sohn nicht zu, dieses Amt zu übernehmen.
Rafa scheint in der Tat nicht mit dem Haushalt zurechtzukommen.
"Auf den Abwasch darfst du nicht gucken", gestand er. "Ich habe tagelang nichts gemacht. Ich habe heute auch noch gar nichts gegessen und voll Hunger."
"Was?" fragte Saara verwundert. "Du hast den ganzen Tag nichts gegessen?"
"Na, ja - ich bin ja eben erst aufgewacht."
Es war bereits neunzehn Uhr.
Wahrscheinlich nimmt die Mutter Rafa alle Hausarbeit ab und verhindert dadurch, daß er selbständig wird. Vielleicht bezahlt sie ihm auch das Essen und läßt ihn mietfrei wohnen, als wäre er noch ein Schulkind. Wie soll Rafa in solchen Verhältnissen jemals erwachsen werden?
Immer fehlt ihm Geld. Er scheint mit den Jobs und Konzerten auch nicht mehr als ein Taschengeld zu verdienen. Das, was er für das Streichen in Saids Pizzeria bekommen hat, will Rafa schon wieder ausgegeben haben.
"Mein Bruder hat zwar Geld, aber der gibt mir nichts", sagte er.
Der Bruder wird wissen, warum. Rafa wird kaum je in der Lage sein, ihm auch nur einen Groschen zurückzuzahlen.
Ein wenig sorgt der Bruder aber doch für Rafa; er hatte ihn für den Abend zum Essen eingeladen.
Übrigens meint Rafa, er selbst könne kochen, seine Mutter aber nicht. Insgesamt betont Rafa den familiären Zusammenhalt:
"Wir Dawynes sind eben ein besonderer Schlag."
In der nächsten Zeit soll Rafa wieder viele Konzerte geben. Auf seiner Geburtstagsparty hat Saara mitgehört, wie Dolf Rafa vorgeworfen hat, sich um nichts zu kümmern. Die gesamte Organisation müsse er, Dolf, allein machen. Das wird schon seine Richtigkeit haben. Wenn Rafa den ganzen Tag über schläft, kann er nichts organisieren. Vielleicht kommt es wegen solcher Angelegenheiten eines Tages zur Trennung der Bandmitglieder Rafa und Dolf. Dolf gibt die Dienerrolle endgültig auf, die er für Rafa gespielt hat, und Rafa muß sich entweder einen neuen Diener besorgen, oder er muß die Arbeit selbst machen. Vielleicht wächst er an seinen Pflichten.
Kappa soll übrigens auch nicht ganz selbständig sein. Er lebt im Hause seiner Großmutter, in der Einliegerwohnung. Kappa muß immer darauf achten, daß er nicht zu laut ist; sonst klingelt sie bei ihm.
Kappa soll zugegeben haben, daß er schon mit Rafa geknutscht hat. Kappa findet, daß Rafa nicht gut küssen kann.
Rafa soll auch schon mit dem Sonnengott geknutscht haben, dem Kellner vom "Trauma". Das muß im Sommer 1992 gewesen sein. Damals trennte Rafa sich endgültig von Luisa. Sie begann einen Flirt mit dem Sonnengott. Vielleicht knutschte Rafa mit dem Sonnengott, um Luisa zu ärgern.
Skinhead Lennart Brehler soll übrigens Vater werden; er soll aber nicht mit der Mutter des Kindes verheiratet sein.
Saara ist in der Donnerstagnacht im "Elizium" gewesen. Dort war Kappa nicht. Rafa kam aber für ein halbes Stündchen herein und sagte zu Saara, er sei nur ihretwegen gekommen. Lisette war auch im "Elizium", aber Rafa sprach nicht mit ihr; er begrüßte sie nicht einmal. Rafa soll nach dem kurzen Besuch im "Elizium" mit Lara zu Kappa gefahren sein.
Am Freitag gab es in der "Halle" wieder eine EBM-Nacht. Schnell hatte sich herumgesprochen, daß das "Exil" zwei Tage vorher verkauft worden war, an die Besitzer des "Flash". Blanda und Said haben jetzt nur noch die Pizzeria, und Kappa hat nur noch seine Veranstaltungen in der "Halle". Mit einem braven Pferdeschwanz stand Kappa hinterm Pult und vertrieb einen Teil seiner Gäste, indem er eine lange Predigt über sein Verhältnis zum Kokain hielt und beide CD-Player abwürgte. Er mußte vom Dat spielen.
Saara hatte sich von Aimée ein schwarzes Pannesamtkleidchen geliehen und stöckelte in roten Lackschuhen durch die "Halle". Ich fand es begrüßenswert, daß Saara sich etwas mutiger und femininer zurechtgemacht hatte als sonst. Sie ist schlank, und so ein Kleidchen steht ihr.
Saara und Daphne setzten mich als Boten ein, um Kappa zu Daphnes Geburtstagsparty in der kommenden Nacht einzuladen. Das sollte Saaras nächste Gelegenheit werden, Kappa zu treffen.
Rafa gab auswärts ein Konzert; er wollte aber nach dem Konzert noch in die "Halle", angeblich Saaras wegen. Dies schaffte er freilich nicht. Dafür waren viele von Rafas Verehrerinnen in der "Halle" - außer Daphne auch Lara, Greta, Viktoria und Lisette. Lara grüßte mich. Ich frage mich, ob sie mich für eine Gefahr hält. Saara nimmt an, daß Lara sich damit abgefunden hat, nicht die Freundin von Rafa zu sein.
Als ich Zoës Freundin Branca erzählte, daß Rafa Uhren sammelt, meinte diese:
"Ach - ich dachte, der sammelt Mädchen."
Sandro ist inzwischen von seiner Freundin getrennt. Er trägt es mit Fassung.
Onno hätte Lust, einen Tanzladen namens "Phoenix" zu eröffnen, der sich aus der Asche des "Exil" erhebt. Er würde Rafa als DJ einstellen.

In einem Traum fuhr ich in der U-Bahn stadteinwärts. Malda sah mich aus verheulten Augen an und rief mir hilfesuchend zu:
"Sie will nicht mitkommen!"
Offenbar hatte Malda zu mir fahren wollen, doch das Mädchen, das sie begleitete, war dagegen. Ich schaute mir dieses Mädchen näher an. Es wirkte heruntergekommen, wie eine Drogensüchtige.
"Ja, du willst nicht mitkommen?" fragte ich das Mädchen.
Es machte ein böses Gesicht und murmelte etwas.
Wir stiegen alle drei an derselben Haltestelle aus. Das fremde Mädchen entfernte sich mit einem hämischen Laut. Ich wurde wütend.
"Die ist aber doof", sagte ich vernehmlich.
Das Mädchen drehte sich um und kam auf mich zu; es sah aus, als wenn es mich zusammenschlagen wollte. Ich sprang auf die Schienen, doch ehe ich unten ankam, wachte ich auf.

Wahrscheinlich soll das böse Mädchen Ivo Fechtner darstellen.

In einem weiteren Traum ging ich spätabends im Nebel durch unser Wohngebiet nach Hause. Auf der verlassenen Straße erschienen Malda und Ivo Fechtner. Es kam mir vor, als wenn sie mir aufgelauert hatten. Ich ging ohne Scheu auf sie zu und fragte Malda, ob sie mich bis zu meiner Wohnung begleiten könne, da es nachts doch so unsicher sei. Malda war einverstanden, und wir gingen nebeneinander durch den Park. Ivo Fechtner watschelte hinter uns her. Ich konnte Malda leider keine Strafpredigt halten, weil Ivo Fechtner alles mithörte, was wir redeten. Als wir angekommen waren und ich mich von Malda verabschiedete, sagte sie:
"Der Ivo will dir noch was schenken."
"Ja, was? Gib es her."
Sie reichte mir ein Plüschtierchen. Aus dem Hintergrund rief Ivo Fechtner giftig:
"Für jemanden, der schon alles hat!"
Mir wurde ganz unheimlich zumute. Ich nahm das Plüschtierchen und schloß eilig die Wohnungstür.

In einem weiteren Traum tanzte ein drogensüchtiges Mädchen mit einer silbernen Schlange. Die Schlange bog sich so, daß sie die Arme und Beine des Mädchens darstellte. An dem weichen Körper der Schlange waren blutende Wunden zu sehen, und darum tat mir die Schlange sehr leid. Ich wußte nur nicht, wie ich der Schlange helfen konnte. Ich zerbrach mir den Kopf deswegen. Die Leute, denen die Schlange gehörte, hatten das Tier absichtlich verletzt. Die Wunden waren Teil der Schau. Es sollte ein Tanz mit einer verwundeten Schlange sein.

Ich bin mir fast sicher, das Rafa die Schlange gewesen ist, auch weil Merle ihn mit einer Schlange verglichen hat. Rafa wirkt auf mich verletzlich und verletzt. Die Mädchen schmiegen sich an ihn und benutzen ihn, um sich selbst darzustellen. Sein Wohl kümmert sie nicht.
Rafa will mich glauben machen, daß er keine Hilfe braucht, schon gar nicht die meine. Ich muß mir aber den Kopf zerbrechen, wie ich ihm helfen kann. Ich kann nicht anders. Ich fühle, daß ihn etwas quält und beeinträchtigt, und wenn es nur das ist, was ich mit ihm anstelle.
Rafa wird mich für selbstsüchtig halten, weil ich unbedingt etwas für ihn tun will, obwohl er das ablehnt. Er wird mir vorwerfen, nur meinen eigenen Wünschen zu folgen und an seine gar nicht zu denken. Ich stelle mir vor, er würde sich eines Tages umbringen wollen und von mir verlangen, ihn bei seinem Selbstmord nicht zu stören. Vielleicht würde er dann sagen, es läge ausschließlich in meinem Interesse, daß er am Leben bliebe, und ich solle doch seinen Todeswunsch achten.
Am Samstagnachmittag hat Rafa bei Saara angerufen und sie an Daphnes Geburtstagsfeier erinnert.
"Du kommst auch, ne?" fragte er erwartungsvoll.
"Nein."
"Oh, warum denn nicht?"
"Ich bin schon zu einer anderen Party eingeladen."
"Oh, schade!" klagte Rafa. "Oh, warum kommst du denn nicht? Wegen der Party, ne?"
"Ja."
"Oh, das finde ich jetzt echt schade! Ich habe auch schon Anwar bescheidgesagt, und der hat sich auch schon voll gefreut. Na, dann werde ich es eben so einrichten, daß ich nach H. komme, so um zwei oder drei."
Er kam aber nicht. Dafür kam Kappa zu Daphnes Party. Saara machte ihn mit einem Jungen eifersüchtig. Kappas Beziehung mit Genna soll schon ziemlich brüchig wirken.
Im "Elizium" gab es einen Sturm der Entrüstung, als Zoë sich ein Lied von Rafa wünschte. Die DJ's Nini und Lolo fragten entgeistert, wie Zoë dazu käme, so etwas hören zu wollen. Ich glaube gar nicht einmal, daß es Rafas Musik ist, die Nini und Lolo nicht mögen. Ich glaube vielmehr, daß die beiden mit Rafa ein persönliches Problem haben.
Am Montagabend meldete sich Rafa bei Saara. Er fragte sie am Telefon, ob sie Lust hätte, ihn in SHG. zu besuchen. Der Hintergrund war folgender: Velvet war aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte sogleich Rafa angerufen und darum gebeten, zu seinem montäglichen Spieleabend kommen zu dürfen. Rafa erlaubte es, allerdings unter dem Vorbehalt, daß Velvet in Begleitung kam. Saara hatte aber keine Lust, mit Velvet nach SHG. zu fahren. Rafa bat und bettelte:
"Am Donnerstag bin ich auch extra wegen dir nach H. gekommen!"
"Stimmt nicht", entgegnete Saara. "Du bist auch noch mit Lara bei Kappa gewesen."
"Woher weißt du denn das schon wieder?"
"Tja - ich weiß alles!"
"Bitte, komm' doch! Tu's für Anwar ... der findet dich voll gut."
"Nein, ich komme nicht."
Später rief Velvet bei Saara an und bettelte und klagte ihr Leid. Saara blieb hart. Velvet konnte Rafa also nicht besuchen.
Inzwischen hat sich herausgestellt, daß Rafa nicht allein zu Velvet ins Krankenhaus gekommen ist. Er ging mit Daphne hin. Die soll ihn zum Mitkommen überredet haben.
Saara hat von Velvet den Eindruck, daß sie den Kontakt zu ihr nur sucht, weil sie über sie den Kontakt zu Rafa finden möchte. Es soll häufig vorkommen, daß Velvet sich mit Saara trifft und dann fragt:
"Los, wollen wir bei Rafa anrufen?"
Vor etwa einem Jahr hat Rafa in der "Halle" mit Velvet geknutscht, während er noch mit der Sängerin zusammen war. Die Sängerin war zu diesem Zeitpunkt auch in der "Halle".
Rafa hat Velvet auf den Mund geküßt. Er wollte mit ihr schlafen, war aber so betrunken, daß es nicht geklappt hat. Rafa hat Velvet später nie wieder auf den Mund geküßt. Er hat aber mit ihr geschlafen; das war auch im Frühjahr des letzten Jahres, wahrscheinlich nach seiner Trennung von der Sängerin. Velvet hatte die Regel, als er mit ihr schlief, und er verwendete kein Kondom. Drei Monate später machte Velvet einen AIDS-Test. Der war negativ. Freilich weiß niemand, ob Velvet sich inzwischen nicht doch AIDS geholt hat.
Kurz nach meiner Geburtstagsparty hat Rafa noch einmal mit Velvet geschlafen, und wieder ohne Kondom. Danach hat er sie gefragt, weshalb sie mit ihm ins Bett gegangen sei. Sie antwortete:
"Um dich zu vergessen."
Dann fuhr Rafa mit Lisette nach Venedig. Saara hat Lisette vor ein paar Tagen gefragt:
"Und, wie ist es mit Rafa?"
"Ach ... der hat schon seit zweieinhalb Wochen nicht mehr angerufen", erzählte sie. "Wenn der sich nicht meldet, melde ich mich auch nicht bei ihm. Ich laufe dem nicht hinterher."
Velvet glaubt, daß Rafa sich ihretwegen von Lisette abgewendet hat. Rafa soll aber vor Kurzem zu Daphne gesagt haben, er wolle mit Velvet niemals eine feste Beziehung eingehen.
Saara und ich finden die Vorstellung eklig, daß der Mann, den man liebt, schon von vielen Frauen angefaßt worden ist, die wir eklig finden. So ein Mann hat in unseren Augen Ähnlichkeit mit einem öffentlichen Klo oder einer abgetragenen Uniform. Ich finde es auch eklig, daß die Sängerin schon die Schnallenjacke von Rafa angehabt hat. Und Viktoria soll in Rafas Kuhhose aufgetreten sein, als er sie für seine Band im "Contrast" singen ließ. Ich weiß nicht, wie ich mit diesem Widerwillen umgehen soll. Ich weiß nur, daß ich Rafas Frauengeschichten abstoßend finde, ihn selbst jedoch - seltsamerweise - nicht.
Es beruhigt mich ein wenig, daß Rafa sich allem Anschein nach nicht nur bei den Mädchen aufhält, um mit ihnen zu schlafen. Oft geht es ihm bloß um ein Nachtlager, Bewirtung und Fürsorge. Vor etwa einem Jahr soll Kappa in der "Halle" durchs Mikrophon gefragt haben:
"Welches nette Mädchen ist bereit, den Rafa mit nach Hause zu nehmen? Der muß sonst auf der Straße schlafen."
Bei Rafa habe ich das Gefühl, daß man ihn nicht alleine lassen kann, ohne daß er Dummheiten macht. Was Rafa schon in seinen Kindertagen für Dummheiten gemacht hat, erfuhr Saara über Velvet. Rafa soll "aus Rache" versucht haben, das Haus seiner Eltern anzuzünden. Stimmt das? Und weshalb soll das passiert sein ...?
Velvet hat nach dem "mißglückten" Montag noch weitere Versuche unternommen, Rafa zu treffen. Sie fragte ihn, ob er am Mittwoch ins "Zone" gehen wolle; da sei sie auch. Rafa erwiderte, er habe "keine Zeit". Am Samstag will Velvet in aufreizender Kleidung ins "Elizium" gehen. Sie rechnet damit, Rafa dort zu sehen und ihn mit nach Hause nehmen zu können.
Ende März waren wir bei "Klangwerk". Unter anderem liefen "Josef Reiser is dead" von P.A.L, "Israel" von SPK, das rasend schnelle "Analogue Bubblebath" von Aphex Twin und das klassische, harte EBM-Stück "Sequence I" von In sotto voce. Frühmorgens, nach der Veranstaltung, machten Constri und ihre Kommilitonin Kyra in der "Klangwerk"-Location Videoaufnahmen, Fragmente als Vorläufer für einen Kurzfilm. Das war das zweite Mal, daß ich beim Tanzen gefilmt wurde, so daß ich die Möglichkeit habe, mich selbst tanzen zu sehen und kritisch zu betrachten, dann auch etwas ändern oder verbessern zu können.
Der schmucke Darien half beim Lichtsetzen. Er kommt fast immer zu "Klangwerk" und tanzt zu den härtesten, schrägsten Stücken mit mir. Ich habe Darien gefragt, ob er sich auch einmal mit mir beim Tanzen filmen lassen würde. Er war einverstanden. Also muß ich Constri und Kyra davon überzeugen, daß ein "Pas de deux" zu einem dröhnenden Whitehouse-Inferno einen ganz besonderen Reiz hat. Ich dachte an das Stück "To die".
Es wird wohl noch Jahre dauern, bis ich den scheuen Rafa dazu überreden kann, mit mir vor der Kamera zu tanzen ... wenn es denn jemals möglich ist.
Constri und Kyra wollen vorerst im Studio weiterdrehen. Dort gibt es eine Blue Box. Es soll mit professionellerer Technik gefilmt werden.
Rufus brachte Reklamebriefchen für die erste Vinylplatte von Totale Etah Matrix mit zu "Klangwerk". Die Briefchen waren mit dem Titel der Platte bedruckt, "Fleischrottung durch Bakterien". In den Umschlägen lag Asche. Einige Umschläge waren auch mit Kunstharz bestrichen, und in dem Kunstharz klebten tote Insekten. In gewissen Bereichen ist die Industrial-Kultur eben eine Anti-Kultur, die das Gewohnte auf den Kopf stellt und versucht, den Leuten das zu geben, was sie nicht wollen.
Saara hat mir erzählt, daß Rafa in dieser Samstagnacht gar nichts ins "Elizium" gekommen ist. Velvet war aber da. Sie trug einen hoch geschlitzten Rock. Weil Rafa nicht kam, tröstete sie sich mit einem anderen Herrn. Saara war in Begleitung von Lisette im "Elizium". Saara und Lisette verstehen sich gut. Ich lege keinen Wert darauf, Lisette näher kennenzulernen, ob sie nun von Rafa etwas will oder nicht.

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