Stille Nacht

Wie ein Teppich lag die Stille über der Stadt, wie Bauklötze standen die Häuser im Schnee, als hätte ein Außerirdischer sie beim Spielen vergessen.
"Das Himmelstor steht offen", war auf einem Schild zu lesen, das neben dem Portal eines historischen Gasthofs angebracht war.
Hinter schmiedeeisernen Fenstergittern flackerte Kerzenlicht. Telgart ging nach drinnen und wurde empfangen von der Wärme des Kaminfeuers. Der Flammenschein malte bewegte Muster auf die Bruchsteinmauern. Telgart war mitten unter den Menschen und fühlte sich doch nicht anwesend, als sei ein Teil von ihm draußen geblieben in der eisigen Luft. Die Menschen waren ihm wieder so fremd. Die Damen nickten ihm zu, doch er witterte Falschheit dahinter. Sie hatten so viel über ihn geredet, daß es auch heute nicht ehrlich gemeint sein konnte. Selbst das Bier, das sein alter Schulkamerad Calvin ihm hinstellte, trank Telgart mit zweifelndem Blick. Calvins Geste wirkte auf ihn wie das Relikt einer Freundschaft, die längst der Vergangenheit angehörte.
"Sylphide ist da", sagte Calvin. "Hast du Sylphide schon gesehen?"
"Hat Zeit."
Mit seinem Bier in der Hand ging Telgart langsam durch das Gedränge.
"Ach, wen haben wir denn da?" dachte er. "Bellastriga, die Hexe."
In gefährlich dekolletierter Samtcorsage stand sie umringt von Männern, die ihre Taille umfaßten und mit ihr anstießen. Sie hatten sich Feuerzangenbowle eingeschenkt.
"Feuerzangenbowle, endlich wieder Feuerzangenbowle!" rief Bellastriga.
"Affektiert", dachte Telgart. "Künstlich. Ein falsches Frauenzimmer. Jede Frau, die den Mund aufmacht, ist eine Hexe."
Als Telgart sich an Bellastriga vorbeischob, schloß sie ihre Arme um ihn.
"He, weg da", sagte Telgart und machte, daß er fortkam.
Bellastriga hatte sich schon wieder abgewandt und trank ihre Feuerzangenbowle. Sie unterhielt sich mit Ceno und Ares, die ihre Meinung kundtaten:
"Telgart hat einen Knall. Den kannst du doch in die Tonne treten."
"Stimmt", pflichtete Bellastriga ihnen bei. "Und ich finde es abartig, daß man sich nicht aussuchen kann, wen man liebt. Ich finde es widerwärtig, wenn man verflucht ist, sich sein Leben lang mit einer Niete herumzuärgern. Wenn Telgart mir egal wäre, hätte er von mir längst bekommen, was er verdient: Ich hätte ihn vergessen. Aber leider, leider liebe ich ihn, diesen Menschen, der mich nicht wert ist."
"Wieso liebst du sowas?" fragte Ares verständnislos.
"Dafür gibt es keine vernünftige Erklärung", antwortete Bellastriga. "Das Schicksal hat sich mit mir einen schlechten Scherz erlaubt und mir diesen Versager zugeteilt. Vielleicht ist das die Strafe für meine Sünden in einem früheren Leben."
Telgarts neue Freundin Sylphide saß mit versteinerter Miene in einem Winkel und starrte Bellastriga an.
"Guck' mal, der hat sein Plastikspielzeug mitgebracht", kicherte Ceno. "Ist die überhaupt schon volljährig?"
"Sylphide ist achtzehn", erzählte Bellastriga, "halb so alt wie Telgart."
"Was will der mit so einer?" fragte Ares. "Hat der pädophile Neigungen?"
"Ist doch praktisch", meinte Bellastriga. "Läßt sich leicht manipulieren."
"Aber die ist doch bestimmt totenlangweilig", meinte Ceno. "Die betet ihn nur an und hat nichts zu sagen, sowas würde mich zu Tode langweilen."
"Na, dafür geht er ja auch fremd."
Bellastriga tanzte zu dem kühl-elektronischen, ruhigen, fast statischen Clubhit "Being boiled" von Human League. Telgart stürmte auf sie zu und schrie:
"Soo, jetzt wollen wir das mal klarstellen! Kannst du mich vielleicht endlich mal in Ruhe lassen? Du bist mir vollkommen egal, ich will mit dir nichts zu tun haben, also - könntest du mich dann auch mal in Ruhe lassen? Echt, dann wärst du sowas von nett ... netter geht es nicht ..."
Bellastriga wollte ihn fragen, ob er es gern hätte, wenn sie tot wäre. Telgart fiel ihr ins Wort und schrie weiter:
"Ich will endgültig nichts mehr mit dir zu tun haben, so lange ich lebe! Du hast es geschafft!"
"Das ist nichts Neues. Das ist schon seit Jahren so."
"Aber ab jetzt bist du mir so egal, so egal warst du mir noch nie."
"Gibt es denn egaler als egal?"
"Dein Gequatsche will ich nicht hören!" schrie Telgart, und der Lärm übertönte Bellastrigas Worte. "Ich will überhaupt nichts mehr von dir hören!"
Sie wandte sich ab und ging zu Ceno an den Tisch.
"Jetzt hörst du mir zu!" schrie Telgart und lief ihr hinterher. "Du bist naiv genug, zu glauben, das hätte keine Folgen, was du treibst. Aber du wirst eines Besseren belehrt werden. Wir haben bereits Aktionen geplant, von denen du in deiner Beschränktheit nichts ahnst. Und diese Aktionen werden die Neutronenbombe sein, die deine Arroganz pulverisieren wird."
"Wir?" fragte Bellastriga. "Wer ist 'wir'? Redest du im Pluralis majestatis?"
"Das interessiert mich nicht, was du sagen willst!" fiel Telgart ihr ins Wort. "Das interessiert mich nicht! Ich will nur, daß du hörst, daß du deinen Haß schon bald bereuen wirst! Dein armseliges Hirn kann sich ja nicht vorstellen, was für Aktionen stattfinden werden! Hahaha!"
"Kannst du mir nochmal eine Runde mit deiner dämlichen Plastikpuppe vorknutschen, Telgart? Ich will mir dieses verlogene Schauspiel nochmal ansehen."
Telgart konnte ihre Worte nur hören, weil er gerade mit Luftholen beschäftigt war.
"Du hast Glück, daß du eine Frau bist", keuchte er, "sonst hättest du jetzt auf die Fresse gekriegt, daß du drei Tage die Sonne nicht mehr siehst."
Telgart holte sich Bier.
"Er mag dich nicht", flötete Sylphide, die herangekommen war. "Merkst du das nicht? Er hat keinen Bock auf dich."
"Und dich betrügt er mit Amee", entgegnete Bellastriga, "und du merkst es nicht."
"Du bist doch bloß neidisch, hahahaha."
"Dein Telgart ist gut im Bett", sagte Amee zu Sylphide. "Nimm ihn ruhig mit nach Hause und bilde dir ein, daß er nur dir gehört."
Sylphide folgte Telgart an die Bar. Beide schauten sich zu Bellastriga um und begannen, Zungenküsse auszutauschen.
"Wirkt ganz schön verkrampft", sagte Bellastriga zu Ceno. "Letzte Woche waren sie überzeugender. Gießt du mir Bowle nach?"
Ares forderte Bellastriga zum Engtanz auf und warnte sie, er könne überhaupt nicht tanzen. Sie bewegten sich in merkwürdigen Schrittfolgen merkwürdig ineinander verknotet über die Tanzfläche. Nach dem dritten Stück blieben sie stehen, weil von der Bar her lautes Geschrei ertönte, in einer Frequenz oberhalb der Höhen aus dem Lautsprecher. Sylphide stand vor Telgart und schrie mit erstaunlicher Ausdauer auf ihn ein.
"Glaubt sie Amee am Ende doch?" fragte Bellastriga.
Telgart lauschte dem Geschrei von Sylphide, als höre er eine Sinfonie. Sylphide ging schließlich mechanisch wie eine Laufpuppe in ihren Winkel, kauerte sich dort auf die Bank und drehte das Gesicht zur Wand. Telgart lächelte vor sich hin.
"Wenn ich nicht wüßte, wie arrogant Sylphide ist, würde sie mir leidtun", meinte Bellastriga.
Ares zupfte an Bellastrigas langen Abendhandschuhen.
"Haben wir nicht auch noch eine Rechnung offen?" wandte Telgart sich mit heiserer Stimme an Ares.
"Seit wann mache ich Geschäfte mit Idioten?" fragte Ares. "Die sind doch gar nicht geschäftsfähig."
Telgart packte Ares und wollte ihn mit dem Kopf gegen die Bruchsteinmauer schlagen. Die bulligen Türsteher hatten das gesehen und liefen herbei. Sie rissen Telgart beiseite.
"Gebt ihm eins aufs Maul!" rief Bellastriga. "Er hat es nicht anders verdient! Er hat genug auf anderen Menschen herumgetrampelt, jetzt soll er mal spüren, wie das ist!"





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