|
 
.
Am Samstag begegnete mir im "Elizium" zuerst nur Dolf, der mich begrüßte. Dolf hatte sich feingemacht. Er war ganz in Scharlachrot gekleidet wie ein Lakai, und ich hatte auch das Gefühl, mit einem Diener von Rafa zu sprechen. Ich fragte ihn nach Rafa, und er meinte:
"Der muß auch irgendwo 'rumschwirren."
"Ich finde ihn nicht."
"Der hat hohe Haare. Den findest du."
"Hohe Haare? Ich sehe ihn nicht und erkenne ihn nicht."
"Da vorne ... da an dem Tisch ..."
"Wo?"
"Ach, jetzt ist er weg ..."
"Kannst du ihn für mich suchen?" bat ich. "Ich sage, er fällt mir nicht auf. Er ist mir auch früher nie aufgefallen."
"Komisch. Rafa ist normalerweise dafür bekannt, daß er auffällt."
Widerwillig ging Dolf los und suchte ihn. Ich tanzte. Als gerade ein Lied zuende war, griff eine vertraute Hand nach meinem Rücken. Ich drehte mich um, und da stand Rafa und lächelte. Er hatte sich kunstvoll bis zum Geht-nicht-mehr aufgeputzt. Die Kajalstriche waren besonders lang ausgezogen, die Haut gepudert, die Lippen zierlich in einem dunklen Grauton geschminkt. Rafa hatte einen ärmellosen Überwurf aus schwarzem Samt an, der mit Borten gesäumt war. Darunter trug er ein weißleinenes Totenhemd und weiße Strümpfe. Die Füße steckten in Schnallenschuhen, die vorne spitz zuliefen. Eine Kette war mit zwei ovalen Haltern an die Brust geheftet. Den Stehkragen des Hemdes schmückte eine silberne Brosche, die, welche Rafa auch am vergangenen Samstag getragen hat. Die dunklen Haare standen steil nach oben, bis auf mehrere dunkle Strähnen, die das Gesicht fast zudeckten.
Rafa umarmte mich wortlos, und ich lehnte mich mit geschlossenen Augen an ihn. Er drückte mich, doch es war kein Vergleich zu den Umklammerungen vor einer Woche. Er löste sich rasch wieder von mir, und ich fragte ihn, wo er gewesen sei.
Er sei eben aus dem "Nachtbarhaus" gekommen.
"Schick hast du dich gemacht", bewunderte ich sein Kostüm.
Rafa drehte sich vor mir und zeigte mir die Stickerei auf dem Rückenteil des Überwurfs: ein Α und ein Ω.
"Oh! Alpha est et omega!" war ich begeistert. "Wo hast du das denn her?"
"Aus einem Antiquitätenladen."
"Das Hemd ist aus echtem Leinen, nicht?"
"Das ist ein Totenhemd von irgendeinem Urahn von mir."
Rafas Augen blicken wie immer bedeutungsschwer. Ich hebe die Strähnen in die Höhe, um sie beide sehen zu können. Auf Rafas Wange finde ich eine Zeichnung.
"Was hast du denn da gemalt?"
"Das ist das Symbol des Saturn und von Feindsender", erklärt Rafa.
Er macht unter dem Namen "Feindsender" Musik.
"Ist Saturn dein Planet?" frage ich.
"Ja."
"Meiner ist Uranus."
Da ist man ja wieder Welten voneinander entfernt ...
Es ist anzunehmen, daß die Pracht und Herrlichkeit, in der Rafa erschienen ist, bei einer leidenschaftlichen Begegnung mit mir schnell dahin gewesen wäre. Schon die Zeichnung auf der Wange wäre bald verwischt, wenn wir uns aneinanderschmiegen würden. Bremst sich Rafa um seiner Schönheit willen so sehr? Oder wollte er sich bremsen und hat sich deshalb so hübsch zurechtgemacht? Eine dünne Schicht Schminke und zwei Lagen feiner Stoff können bereits ein Panzer sein.
"Und? Wie war deine Woche?" erkundige ich mich.
"Schlecht."
"Warum?"
"Wenn dauernd Jochens anrufen ..."
Jochen Hockerfuß, der Sockenschuß, versucht augenscheinlich, Rafa auf seine Seite zu ziehen.
"Was, der hat dich auch belästigt?" frage ich erstaunt. "Mich auch. Sonntag hat er angerufen. Ich habe sofort den Hörer aufgeknallt und für eine halbe Stunde den Stecker 'rausgezogen. Hast du ihn ausreden lassen?"
"Ja."
"Was hat der denn so erzählt?"
"Oh, viel. Ist es wahr, daß du mit Schuhen wirfst?"
"Nein."
Mir kommen doch wieder Zweifel daran, daß Rafa erkannt hat, von welchem Zuschnitt der Sockenschuß ist.
"Weshalb hast du ihn denn ausreden lassen?" forsche ich.
Rafa gibt keine Antwort.
"Jetzt ist er schon aus dem 'Elizium' entfernt worden, und Rafa glaubt immer noch nicht, daß ..." bemerke ich mit einem Seufzen.
Rafa geht in eine andere Ecke und unterhält sich mit verschiedenen Leuten.
Adi hat beobachtet, wie ich mich an Rafa gelehnt habe.
"Verliebt bist du", stellt er fest.
Ich schüttele den Kopf.
"Doch, das seh' ich", meint Adi.
"Das hält nicht lang", sage ich bestimmt.
Für Adi - und nicht nur für ihn - ist es ungewöhnlich, mich in Leidenschaften verstrickt zu sehen.
"Was will die? Was sucht die? Wartet die auf den Märchenprinzen, oder was?" hatte Adi im letzten Winter seinen Freund, den Steinsetzer, gefragt.
Nun ist Adi ihm begegnet, dem Mann, den ich will.
Nach längerer Zeit stellt sich Rafa wieder zu mir in die Ecke zwischen Fenster und Podest.
"Hast du schon mal eine rosa Brille aufgehabt?" fragt er mich.
"Nein."
Er setzt mir eine auf.
"Rosa ... blau ... grün ... mit jeder Farbe kommt man in eine andere Stimmung", meint er.
"Das ist richtig ... Meinst du, man sollte eine rosa Brille aufsetzen?" frage ich und gebe ihm seine Brille zurück.
"Ja", erwidert er.
"Warum?"
"Warum nicht?"
"Ich finde, daß eine rosa Brille etwas Gefährliches ist."
"Warum?"
"Weil man die Abgründe nicht sieht, an denen man entlangläuft."
"Solange man nur dran langläuft, können da ja ruhig Abgründe sein", findet Rafa.
"Ich sehe nur alles tintenschwarz", erzähle ich. "Ich sehe nur die Abgründe und den Rest nicht."
Rafa steht da wie aus Marmor gehauen. Er sucht nicht meine Nähe. Er scheint unser Verhältnis tatsächlich auskühlen zu wollen. Ich erkenne, daß ich es gar nicht verhindern kann, Rafas Nähe zu suchen. Während ich mit ihm spreche, ziehe ich an seinem samtenen Überwurf herum und vergesse meine Hände auf seinen Schultern.
"Wann setzt du deine rosa Brille auf?" möchte ich wissen.
"Wenn es mir gut geht."
Das Scheinwerferlicht fällt auf Rafas Augen.
"Grün sind sie", bemerke ich.
"Was?"
"Deine Augen."
"Nein."
"Welche Farbe haben sie denn?"
"Grau."
"Rate mal meine Augenfarbe."
"Die sind manchmal blau und manchmal grün."
"Sie sind blau."
Rafa hat also graue Augen. Es ist schade, daß ich sie nie bei Tag sehen konnte - immer nur in dem trüben Licht farbiger Scheinwerfer, abgeblendeter Lampen und Straßenlaternen.
"Was ich unbedingt mal fragen wollte - kannst du eigentlich dich selbst leiden, oder magst du dich nicht?" wage ich den Vorstoß.
"In dieser Hinsicht bin ich schizophren", antwortet Rafa ohne Zögern. "Ich meine - ich hoffe, du verstehst - nicht die Krankheit, sondern die Tatsache, daß ich in dieser Beziehung gespalten bin. Einen Teil von mir mag ich und einen Teil nicht."
"Genauso ist es bei mir! Ich nehme mich an und lehne mich ab. Das heißt ... es ist nicht ganz so bei mir. Es ist nicht so, daß ich einen Teil von mir annehme und einen Teil ablehne, sondern ich nehme mich im Ganzen an und lehne mich gleichzeitig ab."
"Dann sind das bei dir drei Personen", meint Rafa. "Die eine nimmt dich an, und die andere lehnt dich ab."
"Dann sind das bei dir auch drei Personen. Die eine wird von dir abgelehnt und die andere angenommen."
"Es sind nur zwei, denn ich bin beide Personen."
"Dann sind das bei mir auch nur zwei."
"Nein, drei."
"Du hast davon erzählt, du und Ivo, ihr wärt früher öfters in BO. gewesen, wolltest aber nicht sagen, was ihr dort gemacht habt. Was habt ihr denn nun auf den Touren gemacht?"
"Was für Touren?" mimt Rafa den Ahnungslosen.
"Weshalb schweigst du eigentlich über so vieles?"
"Schweigen ist der beste Schutz."
"Wovor willst du dich denn schützen?"
Das will er nicht sagen.
"Was hat dein Blick diesmal zu bedeuten?" frage ich.
"Den habe ich, wenn ich besoffen bin."
"Und was hat dein Lächeln diesmal zu bedeuten?"
"Darauf antworte ich nicht."
"Weshalb nicht?"
"Damit ich nicht lügen muß."
"Lügst du oft?"
"Ganz selten", erwidert Rafa. "Ich sage lieber gar nichts. Ich mag den Teil in mir nicht, der immer über mich redet."
"Gerade der ist es, der mir an dir gefällt."
"Nur der?"
"Hauptsächlich der."
"Nur der?"
"Vorwiegend der."
Rafa stellt sich neben einen runden Tisch. Ich vermute, er will den Abstand zu mir noch etwas vergrößern. Seine Jacke mit den Metallknöpfen trägt er ordentlich gefaltet über dem Arm. Er steht bewegungslos da und guckt so unschuldig wie eine Puppe. Mir fällt auf, daß er aus Versehen seinen Überwurf hochgerafft hat, als er sich die Jacke über den Arm legte. Ich kann nun den Saum seines Hemdes sehen. Die weißbestrumpften Beine schauen darunter hervor. Rafa hat seine Beine so eng nebeneinandergestellt, daß es aussieht, als seien sie zusammengewachsen. Ich betrachte das Bild, das sich mir bietet, und ich finde es so rührend, so goldig, daß in mir ganz weiche Gefühle hochkommen. Leider kann ich ihnen nicht nachgeben ...
Ich zupfe Rafa an seinem Überwurf, und er macht große Augen, als er feststellt, was ich alles sehen kann. Eilig läßt er den Überwurf wieder herunter.
"Wie geht es?" frage ich.
"Gut!" antwortet Rafa. "Seit heute gut. Wie geht es dir?"
"Nicht gut."
"Weshalb nicht?"
"Sieh her ...", fordere ich ihn auf und lege einen Finger auf den Mund.
"Siehst du, ich kann das auch", sage ich.
"Du sollst mich nicht mit meinen Waffen schlagen", beschwert sich Rafa.
"Das tue ich immer, denn es sind die Waffen, die ich auch von mir aus verwende", entgegne ich. "Wir können uns ja mal prügeln ..."
"Ich schlage niemanden."
"Du hattest erzählt, die Grabsteine in deinem Zimmer stammen von eingeebneten Gräbern."
"Also: Beim Friedhof ist ein Schutthaufen, da liegen die Grabsteine von den Gräbern, die eingeebnet worden sind."
"Und von dem Haufen sind die."
"Von dem Haufen sind die."
"Das wollte ich wissen."
"Ich war gestern im 'Trauma'", erzählt Rafa.
"Da waren wir auch."
"Ich war von elf bis zwölf da. Die Musik konnte ich nicht ab."
"Wir waren von halb zwei bis vier da."
"Ich war danach im 'Elizium'."
"Du warst so früh im 'Trauma'."
"Ich habe Kappa ein Tape von mir gegeben, das soll der spielen."
"Ist es Absicht, daß du die Tapes für mich immer vergißt?"
"Nein."
"Aber du hast sie vergessen."
Rafa holt tief Luft.
"Du kriegst alles, Mädchen", beteuert er. "Du kriegst alles, was du willst."
"Woher weißt du denn, was ich will?"
"Einer muß es ja wissen."
Es ist nicht einfach, herausfinden, wieviel Rafa von dem aufnimmt, was ich ihm zu verstehen geben will. Zur Sicherheit frage ich nach:
"Meinst du demnach, über mich etwas zu wissen, das ich nicht weiß?"
"Ja."
"Und hältst du es für möglich, das ich über dich etwas weiß, das du nicht weißt?"
"Ja."
Ich betrachte ihn schweigend. Ich weiß nicht, ob es das letzte Mal ist, daß ich ein solches Gesicht entdecke. Mir fallen darin immer wieder neue Feinheiten auf. Ich hoffe, es ergibt sich die Gelegenheit, Rafa von meinen Beobachtungen zu erzählen. Ich hoffe, es ergibt sich die Gelegenheit, weiter in dem Gesicht zu forschen.
"Bevor du Anfang des Jahres auf mich zugegangen bist, bist du mir nie aufgefallen", erzähle ich.
Rafa entfernt sich wieder. Ich entdecke ihn später neben der linken Box, schräg gegenüber von der Ecke, in der ich mich aufhalte. Er steht allein dort, und ich gestatte mir, zu ihm zu gehen.
"Eine schöne Fassade hast du um dich herumgebaut", stelle ich fest.
"Ja."
"Du hast dich eingemauert. Eingekalkt. Wie ein schöner Grabstein siehst du aus."
Etwas verlegen sagt er:
"Schön ... na ..."
"Findest du es gut, dich mit einer Fassade zu umgeben?"
"Ja."
"Du stehst da, hältst dein Bier mit Cola in der Hand und hast deine rosa Brille auf - was ist daran so Besonderes?"
"Du mußt es machen, nur dann weißt du es."
"Ich meine, wenn von zwei Leuten nur einer offen ist und der andere verschlossen, haut das nicht hin. Das ist einfach Unsinn."
"Meine Verschlossenheit ist nicht immer vorhanden."
"Unter welchen Bedingungen ist sie nicht vorhanden?"
"Das sage ich dir nicht."
"Ich kann nichts mit dir anfangen, wenn du dich so einmauerst", erkläre ich. "Du bist dann wie ein Stück Plastik für mich. Dein Getue wirkt so furchtbar künstlich."
"Damit hätte meine Fassade ... einen Zweck schon erfüllt."
"Wenn du dich mit deiner Fassade so wohlfühlst, müßte ich dir recht gleichgültig sein - ist das richtig?"
"Ich habe nicht gesagt, daß du mir gleichgültig bist."
"Was meinst du eigentlich, was ich für ein Mensch bin?"
"Du bist kein Mensch", behauptet Rafa unbeirrt.
"Was könnte ich dann sein?"
"Ich sage es ja. Kein Mensch."
"Was dann?"
"Kein Mensch. Ich hoffe, du bist kein Mensch."
Ich beschließe, Rafas Selbstwertgefühl zu ergründen.
"Wie wertvoll findest du dich?" frage ich.
"Wertvoller als dich", gibt er zur Antwort.
"Und mich findest du wertlos."
"Wenn ich sage, ich bin für mich wertvoller als du, heißt das nicht, daß du wertlos bist."
Aus Rafas Antworten kann ich keine Rückschlüsse auf sein Selbstwertempfinden ziehen. Er ist mir ausgewichen. Ich beschließe, beim nächsten Anlauf Fangfragen zu stellen.
Kappa spielt ein Lied, das unverkennbar von Rafa stammt. Es kann ganz neu sein; ich meine, die Worte "heute geschrieben" von Rafa gehört zu haben. Ich finde das Stück recht einfallslos; es gehen aber mehrere Leute auf die Tanzfläche. Ich sehe aus einigen Metern Entfernung Rafa zu, wie er tanzt und mitsingt. Er scheint meinen belustigten Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Nach kurzer Zeit geht er von der Tanzfläche herunter und stellt sich neben die rechte Box, mir genau gegenüber. Er singt immer noch und sieht mich dabei an. Ich lehne mich an die Säule beim Podest und lache. Da steht er in voller Montur - in Galatracht, könnte man sagen - und wirkt auf mich doch unfertig und ausgezogen. Die rosa Brille, die er seit unserer letzten Unterhaltung nicht mehr abgesetzt hat, macht seinen Aufzug endgültig lächerlich.
Ich frage mich, ob ihn mein Lachen verletzt. Ich frage mich, ob er die Unsicherheit, die ich bei ihm vermute, selbst empfindet. Ich frage mich, ob es ihn stört, daß ich zu seinem Lied nicht tanze.
Zu "Ulysses" von Dead can dance tanze ich. Gelegentlich schaue ich nach Rafa, der mit einigen Leuten spricht. Mit seinen glänzenden Lippen erinnert er wirklich sehr an einen Kunstmenschen.
Rafa geht öfters an mir vorbei und streift mich beinahe - aber nur beinahe. Ich tanze lange, und als ich aufhöre, ist Rafa verschwunden und mit ihm alle anderen Leute aus SHG. Das genau ist es, was ich nicht verarbeiten kann - er ist gegangen, ohne sich zu verabschieden. Das ist ein Abgrund, den eine rosa Brille nicht verbergen kann, weil man nämlich hineinfällt.
Wie kann Rafa von mir Vertrauen erwarten, ohne sich dementsprechend zu verhalten?

Am Sonntag fuhr ich mit Ivo zu einer Ausstellung für Medienkunst, die in HH. stattfand. Auf der Autobahn erzählte Ivo, er hätte Rafa auch schon seinen Wagen fahren lassen.
"Rafa ist ein sehr guter, ruhiger Fahrer", meinte Ivo. "Er fährt allerdings nie schneller als 130. Deshalb kommt man mit ihm nur recht langsam voran."
"Sein Vater ist nach einem Autounfall gestorben. Er hat den Mercedes mit Totalschaden in die Garage gestellt, ist hinauf ins Wohnzimmer gegangen, hat sich aufs Sofa gelegt und ist gestorben. Wer sowas hinter sich hat wie Rafa ..."
Mir kommt wieder in den Sinn, daß Rafa nur fremde Autos fährt. Er hat nie ein eigenes besessen. Allerdings scheint er bisher recht gut ohne Auto auszukommen.
"Immer, wenn Rafa irgendwo hinwill, startet der eine riesige Telefonaktion, um eine Mitfahrgelegenheit und Mitfahrer zu finden", weiß Ivo.
Ich berichte von Rafas maskenhafter Verschlossenheit.
"Da ist etwas, da sind Empfindungen für mich; der kann die nur anscheinend nicht zulassen", vermute ich. "Vielleicht schämt er sich seiner Gefühle."
Vielleicht hatte Rafa vor, nie Gefühle zu entwickeln, um nie mehr abhängig von einem anderen Menschen zu sein ...
Ivo erinnert sich an eine der vielen Wohnungen, in denen der Sockenschuß bereits gelebt hat. Ich kannte jene Wohnung auch; allerdings bin ich 1988 dort gewesen und nicht - wie Ivo - 1989. Ivo hat die Wohnung in einem fortgeschritteren Zustand gesehen. Sie soll unbeschreiblich vergammelt gewesen sein.
"Das große Zimmer war voller Müll und die Badewanne voll mit Gerümpel", erzählt Ivo schaudernd. "Das Klo hättst du nicht sehen dürfen ... Das Einzige, was ich in der Wohnung zu mir genommen habe, war eine Dose Bier. Und die habe ich erst mit dem Pulloverärmel abgewischt und dann eigenhändig geöffnet. Ich sage, irgendwann lebt der in der Irrenanstalt. Da hat der dann endlich sein festes Zuhause. Da hat der's gut! Drei warme Mahlzeiten am Tag ... er kann niemandem was tun ... Der ist nicht fürs Alltagsleben geschaffen. Was mich nur wundert, ist, wie der es immer wieder schafft, irgendwo unterzukriechen. Andere hätten längst den Abstieg zum Penner gemacht."
Ivo und ich besuchten die Ausstellung zusammen mit dem Industrialmusiker Mal und dessen Freundin Alanna. Nach der Ausstellung lud Mal uns beide noch zu einem Tee ein. Er wohnt zusammen mit Ytong hinterm Schlachthof in einem Gäßchen in einer ebenerdigen, sehr baufälligen Wohnung.
"Ich komme selten dazu, Staub zu wischen", sagte er entschuldigend, als wir sie betraten.
"Staubwischen genügt eh nicht", tröstete ich. "Da hilft nur eine Vollrenovierung."
Wir nahmen im "Wohnzimmer" Platz, das eingerichtet war mit Schrottskulpturen, selbstgefertigten Instrumenten aus Holz und Eisen, Tierbehausungen, Sperrmüll und Schallplatten. Das Eindrucksvollste war wohl ein gigantisches Regal aus grob geschnittenem Stahl, das kaum etwas gemein hatte mit dem, was man sich unter einem Möbelstück vorstellt.
"Der Mal hat wohl deshalb ein Lied über Einbauküchen gemacht, weil er selber keine hat", glaubt Ivo.
"EBK" - "Einbauküchen" - befindet sich auf einer Kassette, die ich zur Zeit viel höre. Die Musik von Mal ist atonal, kühl, glatt und elektronisch. Die deutschen Texte sind schlicht und griffig. Mir gefallen besonders "Bericht aus fliegenden Maschinen" und "Interstellare Liebe".
Ivo scheint stolz darauf zu sein, daß er mit Mal befreundet ist. Er erzählt oft davon, daß er seinen Freundeskreis auslichten und umbauen wolle. Er habe zuviel mit Leuten zu tun gehabt, die ihm nicht viel gäben. Ich führe das auf Ivos arrogantes Verhalten zurück. Es gibt eine kleine Geschichte, an die er sich ungern erinnern läßt:
Vor sechs Jahren kam Ivo im"Base" auf mich zu, mit lackglänzenden Haaren und in weißer Matrosenjacke. Ich trug eine selbstgemachte Kette aus Lüsterklemmen und kleinen Glühbirnenfassungen. Ivo wies mich darauf hin, daß ich diese Kette im "Base" nicht tragen dürfe, da sie nicht in dem Underground-Modeladen "Cages & Chains" gekauft worden sei.
Mit dieser Geschichte habe ich schon öfters für Heiterkeit gesorgt. Ausgerechnet Ivo spricht sich heute gegen die sogenannten Szenetrachten aus und hat sich ein elektronisches Bauteil an den Schlüsselbund gehängt. Es ist Ivo jedesmal peinlich, wenn ich ihn an seine Vergangenheit erinnere.
Am Montag rief ich Adi an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren.
"Und? Was ist mit deinem Rafa?" erkundigte er sich.
"Er mauert. Er ist schwierig. Das habe ich ihm auch gesagt."
"Das hat ihm wohl noch keiner gesagt."
"Es hat ihn wohl auch noch keiner so unmittelbar auf ihn selbst angesprochen", meinte ich. "Bisher hat er sich seine Freunde wohl so ausgesucht, daß sie eher oberflächlich sind. Ich bekomme von Rafa selten richtige Antworten. Ich wollte wissen, ob er sich selber leiden kann. Er meinte, in dieser Hinsicht sei er gespalten. Einen Teil von sich würde er mögen und einen Teil nicht."
"Das ist ja auch keine rechte Antwort."
"Doch, das ist eine. Ich bin nämlich genauso."
"Das ist ja ein richtiges Psychologiestudium."
"Du, dieser Mensch ist ein Psychologiestudium. Ein Labyrinth, das mit Methode ergründet werden muß. Da sind immer wieder neue Sachen. Das mit der rosa Brille ..."
"Das habe ich ja mitgekriegt."
"Der empfindet schon irgendetwas für mich, aber der schämt sich wohl deswegen. Der will also ... und darf gleichzeitig nicht ... ist entsprechend hin- und hergerissen. Folglich ist er entweder zugeneigt und abgeneigt auf einmal ... oder abwechselnd zu- und abgeneigt. Das ist das Ergebnis."
"Hat Rafa nicht eine Freundin?"
"Ich weiß von keiner. Ich kann nicht ausschließen, daß er mich hintergeht, nur ... wir haben im 'Elizium' lange Gespräche geführt, und ich beobachte ihn auch. Ich habe nichts dergleichen mitbekommen."
Eigenartig kommt es mir schon vor, daß Rafa unser Treffen so weit in die Zukunft rücken will. Gewöhnlich sind doch die Männer, die besonders anziehend sind, auch besonders eilig im Erobern.
Derek erzählte mir am Telefon, der Sockenschuß habe an dem Sonntag nach seinem Angriff gegen mich bei Lena vor der Tür gestanden. Lena habe ihn hereingelassen. Lenni, der anwesend war, drohte:
"Ich gehe ins Auto und komme erst wieder hoch, wenn der Affe weg ist."
Der Sockenschuß jammerte:
"Ich bin wegen Hetty aus dem 'Elizium' geflogen!"
Er vertritt die Meinung, daß ich daran schuld bin, daß er mich angegriffen hat.
"He, was hältst du von Hettys Getue?" versuchte Sockenschuß, den wütenden Lenni auf seine Seite zu ziehen.
Der aber riet ihm nur:
"Frag' sie doch selber."
Und er ging und setzte sich ins Auto - so lange, bis der Sockenschuß fort war.
"Inzwischen wissen auch die, die bisher noch mit dem Sockenschuß zu tun hatten, daß er geisteskrank ist", sagte Derek. "Rafa zum Beispiel ..."
Meine Mutter hörte sich die Geschichte vom Sockenschuß an und erkundigte sich, wer das denn sei, mit dem ich im "Elizium" geflirtet hätte.
"Rafa", antwortete ich. "Wir gehen gemeinsam aus, das heißt, wir gehen in den gleichen Laden. Wir sehen uns fast nur im 'Elizium'. Den Flirt habe ich so mitgenommen. Es ergab sich. Rafa will mir ums Verrecken nicht sagen, was er von mir will."
"Oh! Paß' bloß auf!" warnte meine Mutter. "Wer weiß, was der vorhat! Da haben schon viele ..."
"Was soll der vorhaben?"
"Was Schlimmes!"
"Was denn Schlimmes?"
"Ich weiß nicht ... was Schlimmes."
Dann wollte sie seinen Beruf wissen und wo er denn arbeite.
Rikka soll über Rafas "Galatracht" gesagt haben:
"Oh Gott, jetzt sieht der ja noch blöder aus! Also, das macht wirklich nicht mehr aus dem!"
Constri hat vor einigen Tagen Folter besucht. Sie haben miteinander die Nacht durchgemacht. Er hat ihr einen Pierrot gegeben und sie gefragt:
"Willst du den geschenkt haben?"
"Was soll ich denn damit?" fragte Constri. "Weißt du nicht, daß ich nicht auf Pierrots stehe?"
"Hoffmann hat mir den geschenkt, und ich weiß nicht, wohin damit. Ich sage dir, wenn du den nicht mitnimmst, reiße ich dir auf der Stelle den Kopf ab."
"Oh - warum denn gleich den Kopf?" fragte Constri und steckte den Pierrot ein, nur, um ihn Folter anschließend zwischen die Platten zu schmuggeln.
Folter tat ihn ihr heimlich in die Tasche zurück, und so ging das hin und her. Am Ende hatte Folter gewonnen. Constri kam ahnungslos heim und fand den Pierrot in ihrem Gepäck. Sie will ihn Folter mit der Post zurückschicken.
In einem Traum sind Rafa und ich durch Straßen voller Baustellen gegangen. Es war Nacht. Über unseren Köpfen hing eine Leuchtreklame - von der Parfümerie Liebe. Ich beschloß, dafür zu sorgen, daß Rafa nicht nach oben sah.
Rafa trug wieder die seltsame Tracht mit dem Überwurf. Ich hatte die Arme um seine Schultern liegen und er seine Arme um meine Taille. So gingen wir in ein teures Kleidergeschäft, das trotz der nächtlichen Stunde geöffnet hatte. Es war Schlußverkauf und recht viel Betrieb. Fast alle Kunden kannten wir aus dem "Elizium". Sie begafften Rafa und mich und lästerten laut über uns. Jemand sprach uns sogar auf unser Verhalten an. Wir fanden nichts Rechtes zu kaufen; in meiner Größe gab es gar nichts. Zum Schluß suchten wir an einem Rundständer mit Jacken aus Waschseide. Wir nahmen uns vor, den Laden über einen Schleichweg zu verlassen. Wir gingen durch einen leeren Flur mit weißgestrichenen Betonwänden. Ich fühlte immer dieses leinene Totenhemd unter meinen Fingern.
Ich kann einfach nicht glauben, daß Rafa mich beobachtet, über mich nachdenkt und Verlangen nach mir hat. Ich kann mir nur vorstellen, daß er aus einer Laune heraus auf mich zugegangen ist und mich inzwischen wieder loswerden möchte, weil ihm die Sache zu eng wird.
Ich glaube, daß wahre Liebe zu schön ist, um echt zu sein.
Wenn ich Rafa mit Henk vergleiche, fällt mir auf, daß ich von den beiden sehr unterschiedlich träume oder geträumt habe. Auch von Henk habe ich viel geträumt, besonders damals, als ich in ihn verliebt war. Die Träume hatten alle etwas gemeinsam:
Ich suchte Henk und fand ihn nicht. Ich wollte ihn heiraten, schaffte das aber nicht.
In meinen Träumen von Rafa geschieht meist Folgendes:
Ich bin fies zu ihm, und wir tauschen Zärtlichkeiten aus.
Ende März habe ich von einem leeren Ausstellungsraum geträumt, in dem ein bastbezogener Stuhl stand. Ivo und ich wollten den Raum eben verlassen, da griff Ivo nach meiner Schulter und sagte:
"He, den Stuhl, wollen wir den nicht mitnehmen? Das ist deiner. Er steht seit Jahren da, und du hast den immer übersehen und nicht mitgenommen - es ist deiner."
Ist mit diesem Stuhl Rafa gemeint? Er war jahrelang im "Elizium", und ich habe ihn immer übersehen ... und nicht mitgenommen.
In einem anderen Traum saß Rafa auf einem Stuhl, und ich stand vor ihm. Ich hatte eine große, runde Brosche an mein Oberteil gesteckt. Broschen trage ich immer in der Mitte, ein paar Fingerbreit unter dem Halsausschnitt. Rafa zog mich an der Brosche zu sich herunter, als wollte er sagen:
"Los, umarm' mich."
In dem darauffolgenden Traum erzählte Rafa, er sei schon wieder mit einem Artikel in der Zeitung.

Während der Fahrt zur "Halle" sagte Ivo, er wisse gar nicht, ob er sich binden wolle.
"Ich will", sagte ich.
"Dann wird man abhängig", meinte Ivo.
"Man wird es", bestätigte ich, "auf Gedeih und Verderb."
Ich wollte nicht sagen "auf Leben und Tod", denn das reine Überleben des Körpers ist auch ohne Liebe möglich.
"Wenn Rafa fremdgeht, gehe ich auf Abstand", nahm ich mir vor.
"Das wird Rafa nur recht sein", vermutete Ivo.
"Und? Das ist mir gleich", erwiderte ich. "Ich will mich nicht rächen. Es geht mir um meine Selbstachtung, und die kann ich nur durch Abstand erhalten."
Wir redeten über das Heiraten.
"Die Frau, die Rafa heiratet, muß erst noch geboren werden", glaubt Ivo.
Ich erzählte, daß ich überhaupt nicht heiraten will. Ivo denkt, daß er heiraten wird:
"Warum nicht?"
Als wir zur "Halle" kamen, sagte ich:
"All das, was wir besprechen, ist vielleicht in ein paar Monaten faktisch unbedeutend."
"In Tagen oder Stunden kann sich schon alles wandeln. Rafa braucht nur ein anderes Mädchen in der "Halle" zu gefallen, schon bist du abgemeldet."
"Es wird sich bald totlaufen", war ich mir sicher.
In der "Halle" trafen wir viele Leute, auch Dolf. Ich sprach mit Dolf über Rafas musikalisches Projekt. Dolf berichtete, das Label habe von Rafa verlangt, daß er den Namen "Feindsender" umändert. Es ist nicht ganz klar, weshalb; ein Grund wäre, daß der Name "Feindsender" zu sehr an die Namen rechtsradikaler Bands wie "Störkraft" erinnert, ein anderer wäre, daß es da wohl schon eine Band gibt, die "Feindsender" heißt.
Rafa hat jetzt ein Buch über Feindsender gelesen und seiner Band den Namen eines solchen Feindsenders gegeben. Dieser Name - abgekürzt "W.E" - gefällt mir nicht. Er klingt nach Sendungsbewußtsein, im wahrsten Sinne des Wortes. Er hört sich ähnlich an wie "Stimme der neuen Zeit", "Kosmos 2000" oder "Radio Universum" - naiv, bombastisch, überladen, fortschrittsgläubig und zukunftsverherrlichend. Ich kann einen solchen Namen nicht ernstnehmen.
In der "Halle" konnte ich Rafa nicht finden. Laut Dolf sollte er bald nachkommen.
Am Rand der Tanzfläche unterhielt ich mich mit Cilly.
"Und, dir geht's gut?" erkundigte sie sich. "Frisch verliebt, habe ich gehört ..."
"Du, mir geht's gar nicht gut."
"Entschuldige. Ich hatte das nur so gehört."
"Verknallt sein kann schon ganz schön sein. Aber wenn man absehen kann, daß das Ganze nur eine vorübergehende Phase, ein vorübergehendes Abenteuer ist, dann ist das alles andere als schön."
"Rafa, nicht?"
"Ja, ja", sagte ich. "Der Mensch ... oh je. Oh je."
Nach längerer Zeit fragte mich Constri:
"Na? Kein Kontakt mit Rafa?"
"Der ist doch gar nicht da."
"Doch, der ist da. Talis hat gesagt, der lief hier eben 'rum."
Ich fand Rafa in der Nähe der Stahltreppe, die zum DJ-Balkon hinaufführt. Er war sehr beschäftigt. Er redete mit vielen Leuten nacheinander, durcheinander und gleichzeitig. Er schien sich in ihrer Aufmerksamkeit zu sonnen. Ein solches Verhalten ist mir höchst zuwider. Als Rafa mich entdeckte, bekam ich meine Umarmung, und das war es fast schon.
"Weshalb hast du am Samstag nicht 'tschüß' gesagt?" wollte ich wissen.
"Tschüß", sagte Rafa.
"Was heißt das jetzt?" fragte ich verwirrt.
"Das heißt, daß ich am Samstag wohl vergessen habe, 'tschüß' zu sagen und daß ich das jetzt nachhole", erwiderte er kühl.
Gleich darauf mußte er "unbedingt mit seinem Manager reden"; gemeint war Dolf. Im Hin- und Herrennen streifte Rafa mich gelegentlich mit einem tiefsinnigen Blick.
Vielleicht muß Rafa sich einbilden, daß ein Haufen Leute sich für ihn verfügbar hält. Vielleicht ist er einsamer, als er zugeben will.
Ich überlegte, wie lange ich mir sein Verhalten bieten lassen konnte, ohne mir etwas zu vergeben. Rafa benahm sich wie eine dauernd besetzte Toilette. Als er gerade einmal "frei" war, fragte ich ihn schnell:
"Willst du am 09. kommen, oder wollen wir's lassen?"
"Ich bin da."
"Welchen Zug willst du nehmen? Ich hole dich dann ab, so wie du mich abgeholt hast."
"Können wir das morgen im 'Elizium' besprechen?"
"Ich gehe vielleicht nicht hin. Ich bin vorher bei einer Party."
"Die Party wird langweilig", sah Rafa in die Zukunft. "Erst ist sie ganz nett, aber dann wird sie langweilig."
"So, woher weißt du denn das?"
"Ich weiß das", behauptete er. "Also, morgen im 'Elizium' ... halb vier ..."
"Das ist noch nicht heraus, daß ich morgen im 'Elizium' bin."
"Doch, du bist morgen um halb vier im 'Elizium'."
"Das muß ich noch sehen."
"Du bist morgen um halb vier im 'Elizium'", beharrt Rafa.
Eine Zeitlang schweigen wir uns nur an.
"Meinst du, wir haben noch viel Stoff, um uns zu unterhalten?" frage ich. "Oder findest du mich langweilig?"
"Wenn ich dich langweilig finden würde, würde ich mich überhaupt nicht mit dir unterhalten."
"Leider verhältst du dich so, daß ich nicht weiß, was ich von dir halten soll."
"Ich will auch nicht, daß du weißt, was du von mir halten sollst", erklärt Rafa.
Dann entfernt er sich. Nach dem Konzert von S.P.O.C.K. kann ich Rafa schon wieder nirgends finden. Er scheint sich vor mir zu verstecken. Ivo erwartet mich auf dem Podest mitten in der "Halle", das als Bühne dient. Er legt den Arm um mich und meint:
"Siehst du? Ich hab's dir gesagt. Jetzt ist es soweit; du bist ihm gleichgültig. Nimm's nicht so schwer ..."
Ich höre leisen Triumph aus seinen Worten.
"Es geht nicht darum, wie ich es nehme", erwidere ich. "Es geht darum, wie es ist. Es handelt sich einfach um Tatsachen. Ich habe das immer nüchtern gesehen, und das will ich auch weiterhin tun."
Dolf weiß nicht, wo Rafa steckt. Ich sage zu ihm, ich hätte nicht vor, die ganze "Halle" nach Rafa abzusuchen.
"Fährst du mit Rafa gemeinsam nach Hause?" frage ich Dolf.
"Ja."
Ich bitte ihn, mir bescheidzugeben, wenn man fahre, damit ich Rafa mitteilen könnte, daß ich nicht ins "Elizium" käme. Dolf bietet mir an, Rafa auszurichten, er solle mich anrufen, aber das will ich nicht.
"Der ruft dich morgen an", versichert Dolf.
Ich winke ab:
"Ach ... ich will das lieber persönlich mit ihm besprechen."
Dolfs Vertrauen in Rafas Zuverlässigkeit kann ich nicht teilen.
Es laufen viele Stücke, die mir gefallen, darunter "Adrenalin Rush" von Leæther Strip. Beim Tanzen denke ich darüber nach, wo ich mit dem Übermaß an Sehnsucht hinsoll, die ich nach Rafa habe:
"Was nützen mir all diese Gefühle, wozu habe ich sie? Ich kann sie ihm nicht schenken, er will sie nicht, und wenn ich sie nicht verschenke, vergiften sie mich."
Ich gehe zu Ivo auf das Podest. Er sucht meine Hand und ergreift sie.
"Wollen wir morgen früh ins 'Trauma'?" frage ich ihn.
"Mal überlegen ... es wäre eine Maßnahme", antwortet er.
"Und? Ist nichts mit Rafa?" erkundigt sich Constri.
"Er ist unauffindbar", antworte ich müde. "Sogar Dolf weiß nicht, wo er ist."
"Wieso, da vorne sitzt er doch."
"Wo?"
"Da, an der Bar."
Ich entdecke Rafa an dem Tresen, der sich einige Schritte weit hinterm Podest befindet. Er hat einen Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt. Ihm gegenüber sitzt ein Fremder.
"Na?" spreche ich Rafa an. "Hast du heute wieder deinen merkwürdigen Tag?"
"Ich bin immer merkwürdig", sagt er, nah an meinem Gesicht.
"Das stimmt nicht", erwidere ich. "Du bist mal normal und mal merkwürdig."
Rafa schiebt mir ein Glas hin.
"Willst du?"
Ich trinke und fragte:
"Was ist das?"
"Osborne mit Cola."
Ich trinke weiter.
"Ja, trink's aus", sagt Rafa, "und erinnere mich morgen daran, daß du mir einen ausgeben mußt."
Unwillkürlich habe ich meine Hände schon wieder an seiner Jacke und an seinem Hals.
"Rafa ... wie bist du eigentlich letzten Freitag darauf gekommen, ins 'Trauma' zu gehen?"
"Ich wollte hingehen. Ich tue, was ich will."
"Waren deine Leute mit?" frage ich weiter.
"Sie waren nicht mit."
"Du warst allein da", schließe ich.
"Mit Dolf."
"Wollen wir beide mal hin?"
Er ist einverstanden.
"Morgen früh?" schlage ich vor.
"Oh, nein."
"Heute nacht?"
"Dann lieber morgen früh."
"Dann ... komme ich vorher ins 'Elizium' und hole dich ab?"
"Halb vier", legt Rafa fest.
"Fünf."
"Halb vier."
"Können wir uns denn nicht in der Mitte treffen?"
"Nein."
"Du kannst doch nicht immer alles bestimmen."
"Ich bestimme, daß du um halb vier im 'Elizium' bist", sagt Rafa. "Und du bestimmst, daß wir ins 'Trauma' gehen."
"Das ist schon etwas ausgewogener."
Ich möchte wissen, wie er mein Spitzenkleid findet.
"Da müßtest du erst drei Schritte zurückgehen", meint er.
Er betrachtet das Kleid.
"Unten an den Saum müßte auch noch Spitze hin", urteilt er. "Das ist dann ausgewogener."
"Ich hatte nämlich geträumt, dich störte etwas daran", erkläre ich. "Und ich habe auch noch allerlei anderes geträumt; das erzähle ich dir aber jetzt besser nicht."
Ich grabe meine Fingernägel in seinen Handballen.
"He, laß' mich leben", bittet Rafa.
"Nein. Du läßt mich ja auch nicht leben."
"Doch, ich laß' dich leben."
"Gerade so leben. Ich werd' dich auch gerade so leben lassen!"
"Du kannst mich eh nicht umbringen", ist er sicher. "Ich bin unsterblich."
"Ich werde dich foltern, bis du dir wünschst, sterben zu können."
Der Fremde, der dabeisitzt, lacht.
"Hee! Hee!" ruft er.
"Bevorzugst du sauerstoffarmes oder sauerstoffreiches Blut?" stelle ich Rafa die nächste Frage.
"Ich bevorzuge Rhesusfaktor positiv, Blutgruppe null."
"Woher willst du denn wissen, daß ich die habe?"
"Ich weiß das."
Ich ziehe Rafa lachend am Kragen und sehe ihn mit einem ausgelassenen, gierigen Blick an. Er guckt belustigt, zweifelnd und staunend. Dann steht er auf und entschuldigt sich:
"Ich komm' gleich wieder."
Er geht zu der Bar unterm DJ-Pult und fährt fort, sich mit allerlei Leuten zu unterhalten. Ich gehe ihm schließlich nach und frage ihn:
"Weshalb, glaubst du, bist du mir früher nie aufgefallen?"
"Weshalb ich dir nie aufgefallen bin? Ich entscheide, wann ich dir auffalle."
"Damals, als du mich anrufen wolltest ... hast du da tatsächlich meine Nummer gewählt?"
"Ich habe deine Nummer gewählt."
"Dann gilt das schon als Anruf ... ich habe da meine Richtlinien ..."
Er eilt von dannen, und ich tanze mit Ivo. Währenddessen sehe ich immer wieder nach, ob Rafa noch in der "Halle" ist. Als ich von der Tanzfläche komme, finde ich ihn zwischen der Stahltreppe und der Bar, an der er gesessen hat. Er steht bei einer Gruppe von Menschen an einem runden Tisch. Ich berühre Rafas Schulter und setze zum Sprechen an. Sogleich geht er mit mir zu einem freien Tisch, der abseits steht.
"Fürchtest du dich davor, die Kontrolle über dein Verhalten zu verlieren und dich nicht mehr steuern zu können?" frage ich.
"Ja", antwortet er. "Das heißt, nein. Ich vermeide es nur, die Kontrolle über mich zu verlieren."
"Weil du dich davor fürchtest."
"Nein, ich fürchte mich nicht davor, weil es mir immer gelingt, es zu vermeiden."
"Hast du schon einmal irgendjemandem vertraut?"
"Ja. Mir!"
"Nur dir selbst. Sonst keinem Menschen."
Er bestätigt.
Ich frage Rafa, ob er sich denn niemals binden möchte.
"Nein, nie."
"Dann weißt du nicht, was Liebe ist", folgere ich.
"Ich weiß, was Liebe ist!" widerspricht er.
"Wer liebt, bindet sich auch."
"Ich binde mich nicht."
"Rafa, ich glaube, du mußt noch viel lernen."
"Ich muß nichts lernen", trotzt er. "In dem Stadium, in dem du bist, war ich schon."
"Vielleicht ist es ja umgekehrt - und in das Stadium, in dem ich bin, kommst du erst noch."
"Vielleicht komme ich eines Tages dahin zurück."
"Welchen Zug willst du am 09. nehmen?" erkundige ich mich. "Du weißt die auswendig. Und ich will das nicht erst im 'Elizium' besprechen."
"Der 09. ist Karfreitag, nicht? Da habe ich ja sowieso frei. Wann wollen wir denn?"
"Vier ... drei ..."
"Drei. Um 15.20 ist einer in H."
Wir einigen uns darauf, daß ich Rafa vom Gleis abhole.
"Augenblick - ich komme gleich wieder", sagt er wie schon einmal und geht zur Bar unterm DJ-Pult. Er spricht mit mehreren Leuten und sieht dann zögernd zu mir her. Ich winke leicht. Er kommt zurück an unseren Tisch. Wir nehmen auf Hockern Platz. Die Musik verstummt. Kappa hat die Anlage "hingerichtet". Das passiert ihm öfter. Dank seiner Schwierigkeiten mit der Technik kann ich nun die Stimmen von Rafa und mir deutlich und unverfälscht hören.
"Wie kommt es", frage ich, "daß du in der Realschule so häufig sitzengeblieben bist?"
"Das hatte ... mit dem Tod von meinem Vater zu tun."
"Genau das habe ich mir gedacht."
"Ich war vorher ein sehr guter Schüler", erzählt Rafa. "Danach konnte ich nichts mehr. Ich weiß noch, wie ein Lehrer mit meinem Vater sprechen wollte. Mein Vater war da gerade gestorben.
'Rafa, so geht das nicht weiter', hat der Lehrer gesagt. 'Ich möchte gern deinen Vater sprechen.'
Ich habe nur geguckt - alles ging durcheinander - ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das dauerte vielleicht ein, zwei Minuten - für mich waren das Jahre. Schließlich hat ein Kumpel von mir mir geholfen und so gesagt, der Vater von Rafa ist gestorben. Das Verhältnis zu meinem Lehrer war von da an völlig anders."
"Völlig anders."
"Es war ein völlig anderes Verhältnis."
"Inwieweit anders?"
"Erst war ich der Star gewesen. Und dann ... er hat herumerzählt, ich hätte Sachen gesagt, die ich nie gesagt habe. Ich hätte gesagt:
'Mein Vater schwebt über den Wolken und in den Sternen.'
Es hieß dann, der Rafa ist - hier" - er tippt sich mit dem Finger an die Stirn - "der Rafa hat eine Macke."
Rafa will nie solche Merkwürdigkeiten gesagt haben, wie sie ihm angehängt werden. Ich kenne aber seine Phantasie. Zutrauen würde ich es ihm. Er spricht gern in Bildern, die Bühnenszenarien ähneln. Beim Reden zieht er den Vorhang auf und holt die Welt auf die Bretter.
"Weshalb bist du eigentlich zur Realschule gegangen und nicht zum Gymnasium?" möchte ich wissen. "Du hast ein helles Köpfchen ..."
"Ich hatte auch eine Empfehlung fürs Gymnasium. Aber meine Mutter hat gesagt, ich soll zur Realschule gehen, das sei besser."
"Weshalb soll das besser sein?"
"Es ist besser."
"Weshalb?"
"Es ist besser."
Ich muß daran denken, daß der in der Realschule hoffnungslos unterforderte Rafa nun wahrscheinlich sein Leben lang Komplexe haben wird, weil er nicht so gebildet ist, wie er es hätte sein können. Außerdem dürfte er einen Bildungsneid auf mich entwickeln und Schwierigkeiten damit haben, daß ich als Frau nicht nur älter bin, sondern auch als gebildeter gelte als er. Das paßt nicht ins herkömmliche Muster und gibt einen schweren Stand für unsere Beziehung.
"Du willst mir ja nicht sagen, wie alt du bist", spreche ich diesen Themenbereich an. "Ich nehme das mal so hin ... nur ... bist du gerne so alt, wie du bist, oder wärst du lieber älter oder jünger?"
"Warum stellst du mir immer diese Fragen?" beschwert er sich.
"Ich möchte über dich bescheidwissen", erkläre ich. "Ich möchte, daß du für mich berechenbar wirst."
"Wenn ich berechenbar werde, nehme ich mir einen Strick."
"Wie soll man dir dann vertrauen?"
"Weshalb soll man mir nicht vertrauen können?"
"Ich kann dir nicht vertrauen, wenn ich dich nicht wirklich kenne."
"Was ist denn dabei, wenn du mir nicht vertraust?" fragt Rafa.
"Das wirst du noch sehen", antworte ich. "Sieh', ich nehme hin, daß du mir dein Alter nicht sagen willst, und du nimm hin, daß ich dich durch und durch kennen will, um dich einschätzen zu können."
"Also, sag' mal, das eine hat ja wohl mit dem anderen nichts, nichts zu tun", entgegnet Rafa aufgebracht. "Das ist ja wohl ein unmöglicher Vergleich."
"Es hat ..."
"Nein, nein. Das ist ja wohl absolut bescheuert. Ich kann doch auch nicht sagen, ich nehme hin, daß du dich hier am Hallendach aufhängst, und du nimmst dafür hin, daß ich ... warte mal ..."
"Es ..."
"... nein, warte ... daß ich so laut rülpse, daß hier die Wände einfallen."
"Stört dich, daß ich Sachen gegeneinander aufrechne?"
"Mich stört, daß die Sachen nichts miteinander zu tun haben", erklärt Rafa.
Daß ich ihn ausfrage, hat aus seiner Sicht folgenden Grund:
"Du hast Angst vor dem Ungewissen."
"Hast du die nicht auch?" gebe ich zurück.
"Nein."
"Du hast gesagt, du hättest Angst vorm Tod, weil du nicht wüßtest, wie es danach weitergeht."
"Wir beide ... sind Teile von Gott", meint Rafa. "Wir ergänzen einander. Und Gott ist kein Mensch."
"Ich glaube nicht, daß es Gott gibt."
"Weißt du denn, daß es ihn nicht gibt?"
"Ich weiß es nicht, ob es ihn wirklich nicht gibt. Ich glaube nur nicht an ihn. Glaubst du an Gott?"
"Ich glaube, daß es ihn gibt."
"Sollen wir keine Menschen sein, weil Gott auch kein Mensch ist?" frage ich nach.
"Wir sind keine Menschen."
"Was veranlaßt dich, zu vermuten, ich sei kein Mensch?"
"Weshalb sagst du über den Fußboden: das ist Holz?"
"Weil ich aus Erfahrung weiß, daß das Holz ist."
"Siehst du, und ich weiß aus Erfahrung, daß du kein Mensch bist", sagt Rafa. "Was Gott ist, kannst du genausowenig sagen, wie du sagen kannst, was Liebe ist."
"Was Liebe ist, kann man wirklich nicht sagen", stimme ich ihm zu - mit einem Seufzer und einem Blick in die Ferne.
Dann komme ich wieder auf unsere Verabredungen zu sprechen:
"Für morgen möchte ich gerne einen emotionalen Voranschlag haben. Ich möchte wissen, wie du morgen drauf bist."
"Das kann ich dir nicht sagen."
"Dann können wir das wieder abwarten ... Wie ist das denn nun eigentlich? Bist du nun gerne so alt, wie du bist, oder wärst du lieber älter oder jünger?"
"Mein Alter ist mir ganz egal. Ich finde das bescheuert mit diesem Alter. Ich habe das Alter abgeschafft. Es gibt für mich keine Zeit mehr."
Als wir so dasitzen und über Gott und keine Menschen reden, kommt der Sockenschuß in Begleitung eines Türstehers in unsere Nähe. Ich springe auf und verstecke mich hinter Rafas Rücken.
"Rafa!" ruft der Sockenschuß. "Sag', das ist meine Jacke! Sag' ihm, daß das meine Jacke ist!"
Der Türsteher trägt die fragliche Jacke über dem Arm. Er hat angenommen, sie gehöre dem Sockenschuß nicht. Der Türsteher kann sich nicht vorstellen, daß dem Sockenschuß eine Lederjacke gehören könnte.
"Da ist ein Zettel in der Jacke", sagt der Sockenschuß, und seine Stimme ist ein überdrehtes Leiern. "Da steht was drauf."
"Was steht da drauf?" fragt Rafa.
"Da ist ein Zettel drin", wiederholt der Sockenschuß hastig.
"Das wissen wir schon", sagt Rafa ärgerlich. "Was - steht - da - drauf?"
Unwillkürlich reibe ich meine Wange an Rafas Schulter.
"Da ist ein Zettel drin ... ein Zettel ...", stammelt der Sockenschuß.
"He, laß' dir nichts erzählen von dem, der hat einen Schuß weg", sagt der Türsteher zu Rafa.
Kappa kommt dazu und rät dem Türsteher:
"Hier, gib dem die Jacke, der hat einen Schlag weg und macht Ärger."
Constri, Ivo und die anderen sind auch herbeigekommen und wollen mit mir weggehen. Rafa und ich geben uns die Hand, und er sagt:
"Tschüß."
Carl hat mich mit Rafa beobachtet, und es gefiel ihm, was er sah. Er glaubt, daß es kein Zufall ist, daß Rafa und ich miteinander zu tun haben. Er sieht Parallelen zwischen uns.
Als ich Ivo mitteilte, daß ich mich mit Rafa fürs "Elizium" verabredet hatte, wollte er sich auf einmal nicht mehr mit mir fürs "Trauma" verabreden. Er kam aber noch auf einen Bailey's zu uns nach drinnen. Er erzählte, wie die vielgerühmten Parties von Rafa tatsächlich abgelaufen sein sollen:
"Wir Gäste waren Statisten, Rafa war Regisseur und Hauptdarsteller. Jeder bekam von ihm seine Rolle zugeteilt, und wenn er sie nicht spielte, wurde er mit einem Spruch zur Ordnung gerufen. Es war ein Marionettentheater. Stimmung kam nicht auf."

Am Samstag, einen Tag nach der EBM-Nacht, gab Adi seine Geburtstagsparty. Die Party war nicht nur von der Beheizung des Raumes her unterkühlt. Rikka und Constri wollten für Heiterkeit sorgen, indem sie den Jungen die Schnürbänder aufzogen und sie durchkitzelten. Deswegen wurden sie von zwei Behindertenpflegerinnen als "kindisch" bezeichnet. Die eine Pflegerin ist mit einem alten Freund von Adi verheiratet. Sie hat ein Kind und glaubt, aus diesem Grunde erwachsen zu sein. Sie störte sich unter anderem an den geschminkten Gesichtern von uns Mädchen.
"Mein Mann hat nichts dagegen, wenn ich Falten habe", behauptete die Pflegerin. "Übrigens können wir die Diskussion gern später noch fortsetzen."
"Ich verzichte", sagte Constri.
Im "Elizium" fand ich Dolf, der sagte, Rafa sei dagewesen, aber seit etwa halb eins wisse niemand mehr, wo er sich aufhielte. Dabei blieb es. Das erste Mal, seit ich Rafa kenne, hat er das "Elizium" um diese frühe Stunde verlassen ... und das ausgerechnet, nachdem er mich beschworen hatte, auf jeden Fall um halb vier dort zu sein. Ich hatte den Eindruck, daß Rafa vor mir geflüchtet war.
Es kamen einige schöne Stücke, auch "Deiche" von den Sex Gang Children. Doch nie habe ich das "Elizium" so als Folterkammer erlebt wie in dieser Nacht. Rafa war nicht da, und alles andere hatte nun auch seinen Wert verloren.
Weil Ivo nicht mitwollte ins "Trauma", hätte ich allein hingehen müssen. Das war an sich kein Hindernis für mich. Nun aber, nachdem Rafa sein Versprechen gebrochen hatte, konnte ich einfach nicht mehr ins "Trauma" gehen, so gern ich es getan hätte. Ich war wie gelähmt.
Ich will mich jemandem schenken, der mich verdient. Ich finde ihn aber nicht und verliere meinen Reiz wie eine gedeckte Tafel, an die sich niemand setzt. Die Blumen verwelken, auf die Teller fällt Staub.
Die Sehnsucht, die ich seit vierzehn Jahren habe, vergiftet mich langsam. Äußerlich wirke ich immer anziehender, offener, geselliger und selbstsicherer. Innerlich schreitet der Verfall langsam fort. Eines Tages ist der Scheitelpunkt erreicht, und der Verfall wird sichtbar.
Mein ewiger Feind ist die Sehnsucht, mein dauernder Begleiter. Kein Wesen war mir so treu. Ich war immer meinen Empfindungen ausgeliefert und immer ihr Opfer. Das ist es, was Rafa vermeidet, und er scheint mit seinem oberflächlichen, gefühlsarmen Leben gut zurechtzukommen.
Immer dann, wenn Rafa einen Rückschlag erleidet - etwa, indem er Freunde loswird -, münzt er diesen Mißerfolg für sich um in einen Erfolg. Er belügt und betrügt sich selbst ebenso, wie er andere belügt und betrügt - schamlos, kalt und gewissenlos. Wenn seine Bedürfnisse nicht befriedigt werden, schafft er diese Bedürfnisse ab.
Und er betrügt sich nicht nur, er läßt sich auch von sich selbst betrügen. Was in sein Bild von der Wirklichkeit nicht hineinpaßt, ist für ihn nicht vorhanden. Er will es nicht wahrnehmen - und nimmt es nicht wahr. Er führt einen bewußten Selbstbetrug aus nach dem Schema des "Zwiedenken" nach Orwell. Er weiß, was er tut. Und er fällt darauf herein. Er fällt darauf herein, weil er darauf hereinfallen will. Infolgedessen verläuft sein Leben sehr gleichmäßig. Er bekommt nie Schwierigkeiten, weil er die Schwierigkeiten, die er bekommt, weglügt.
Mein Fehler war, mich auf Rafa und auf unsere Verabredung am Samstag zu freuen. Er wird das gemerkt haben; anscheinend ist es ihm dadurch unmöglich geworden, sie einzuhalten. Vermutlich hat Rafa sogar Lust dabei empfunden, sie nicht einzuhalten.
Rafa scheint eine Sucht danach zu haben, seine Mitmenschen wieder und wieder zu enttäuschen, ohne von ihnen enttäuscht werden. Er verhindert Vertrauen und Nähe und schafft sich Feinde. Er scheint Feinde zu wollen. Er tritt den Menschen immer wieder ins Gesicht.
Daß Rafa sich mit Dracula vergleicht, finde ich nicht abwegig. Dracula ist von der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen und nimmt das zum Anlaß, auf sie herabzusehen. Er ist nicht bindungsfähig, hat kein Verantwortungsgefühl und keine Hemmungen, Menschen zu verletzen - und behauptet doch trotzig, lieben zu können. Dracula lebt nur seine Begierden aus. Die Opfer, die er zurückläßt, sind ihm gleichgültig. Er hat eine starke sinnliche Ausstrahlung und sonnt sich in dem Mythos, den er um sich aufbaut. Er ist dabei auch verlogen und zynisch. Er ist ein scharfer, lauernder Beobachter. Er ist intelligent und zielsicher und hat doch den Geist eines Kindes.
"Dolf ist genauso verlogen wie Rafa", erzählte Ivo mir am Sonntag. "Die beiden arbeiten Hand in Hand. Wenn Dolf nicht wissen soll, wo Rafa ist, dann weiß der das nicht.
Außer Dolf - hat Rafa auch niemanden. Es gab da noch einen, Ken, der lange ein guter Freund von Rafa gewesen ist. Er hat sich zur gleichen Zeit und aus den gleichen Gründen von Rafa getrennt wie ich. Ken ist sehr in Ordnung. Er geht jetzt kaum noch weg; er bleibt mit seiner Freundin in SHG. Rafa und Ken sind fast Nachbarn, und doch sehen die sich nie.
Rafa und Dolf wollten Ken zum Grufti erziehen. Ken war ursprünglich eher Skin und Techno, und das paßte den beiden nicht. Irgendwann lief Ken dann auch mit langen, hochgestellten Haaren herum, so daß ich ihn fast nicht wiedererkannte."
"Ich finde, Rafa ist wie ein Skorpion", sagte ich. "Er lebt für sich alleine und vergiftet die Menschen."
"Seltsamerweise haben Rafa und ich uns nie gestritten", erinnerte sich Ivo. "Er ist nicht der Mensch, mit dem man sich streiten kann. Das ging zwischen uns immer nur mit Sprüchen ab."
"Was für Sprüche waren das denn so?"
"Mir fällt keiner mehr ein. Es war halt so - immer, wenn er zu mir etwas sagte, mußte ich überlegen: war das jetzt ein Angriff gegen mich? Es war oft schwer, zu kontern."
Ich fragte Ivo, wie alt Luisa eigentlich sei.
"Die ist auch bestimmt schon einundzwanzig", vermutete er. "Laß' sie zwei Jahre jünger sein als Rafa.
Sie kannte keinen in SHG., sie hatte nur Rafa und Dolf. Sie kam von denen nicht weg.
Wenn wir im Auto gefahren sind, saß Rafa grundsätzlich auf dem Beifahrersitz. Das war sein Thron. Wenn jemand anders sich dorthin setzen wollte, wurde er weggeekelt. Das Endergebnis war, daß wir Rafa irgendwann überhaupt nicht mehr mitgenommen haben.
Ken hat sich unter anderem auch deshalb von Rafa distanziert, weil er das mit Luisa mitbekommen hat. Die stand in BO. im 'Fall' in der Ecke, während Rafa von einer Traube von Mädchen umgeben war. Auf einmal fing die voll an zu heulen. Und auf dem Rückweg war dann die Versöhnung, und Rafa sagte:
'Ich tu's nie wieder.'"
"Sicher - er hatte seinen Spaß ja gehabt", bemerkte Constri.
"Ein ekelerregendes Verhalten", sagte ich. "Es widert mich an."
"Rafa schob Luisa wie eine Schachfigur hin und her", fuhr Ivo fort. "Auch uns hat er auf seiner Party damals in ein Figurentheater eingebaut. Wer nicht tat, was Rafa gerade wollte, bekam einen Klaps.
Erst mußten die Geschenke abgegeben werden.
'So, jetzt wird Kaffee getrunken', sagte Rafa, und es wurde Kaffee getrunken. Und so ging das weiter."
"Der tut so, als gehörten ihm die Leute", meinte ich. "Er behandelt sie wie Gegenstände."
"Es war einerlei, ob er Luisa betrog oder nicht", sagte Ivo. "Sie blieb bei ihm; er konnte tun, wozu er Lust hatte."
Carl kann sich auch noch daran erinnern, wie Luisa in der "Halle" allein auf den Stufen saß und Rafa irgendwann ankam und den Arm um sie legte, als sei alles wieder gut.
Rafa wollte für Luisa keine Verantwortung tragen. Wahrscheinlich will er niemals für irgendetwas, für irgendwen oder für irgendeine Beziehung Verantwortung übernehmen.
Ich habe immer nach Verantwortung gesucht und mich verantwortlich gefühlt. Constri und ich haben füreinander Verantwortung übernommen, lange bevor wir zur Schule kamen.
Wir gingen über ein unwegsames Gelände und sagten zueinander:
"Ich halt' dich fest, damit du nicht fällst."
"Und ich halt' dich fest, damit du nicht fällst."
In einem Traum am Karfreitag habe ich einen beschaulichen, stillen, menschenleeren Ort gesehen, der einen anzog und dazu verführte, durch die fremden Gassen zu gehen. Es verbarg sich jedoch in den Winkeln eine unsichtbare, stumme Gefahr, vielleicht die Gefahr, sich in dem Gewirr von Gassen zu verlaufen und nicht mehr aus dem Ort hinauszufinden.
Dieser Ort war eine Menschenfalle, und Rafa ist das auch. Abstand ist das Einzige, was einen vor der Falle bewahrt.
Man könnte mir vorwerfen, mich überhaupt mit Rafa abgegeben zu haben. Allein, um das nicht zu tun, hätte ich meine Gefühle verleugnen müssen, und die sind ein Teil von mir und haben ein Daseinsrecht.
In einem weiteren Traum kam ich in das Innere eines Häuserblocks, eine gewaltige grauweiße Betonschlucht. Tausende von Fenstern schimmerten in den Wänden. Es war ein eisiges Gefängnis.
Wie erwartet war Rafa nicht da.
"Eine gute Nachricht", verkündete Ivo am Telefon, als ich ihn am Abend anrief. "Ich habe Xentrix getroffen, und der hat mir erzählt, warum unser Rafa in der 'Halle' kaum zu sehen war und erst gegen Schluß an der Bar richtig aufgetaucht ist. Recht früh sind einige Leute zu Rafa gekommen und haben ihn gefragt:
'Hast du deine Badekappe auf?'
Und ehe er antworten konnte, lag er auch schon im Teich."
"Im Teich?"
"In der 'Halle' ist doch innen so ein Teich."
"Ach, der."
"Da haben die den mal eben 'reingeworfen."
"Geil!" rief ich. "Wer hat den denn da 'reingeschmissen?"
"Nette, freundliche Leute, denen ich jederzeit einen Kasten Bier ausgeben würde."
"Weshalb die bloß Rafa ausgesucht haben?"
"Den können doch viele nicht leiden."
"Er sorgt ja auch fleißig dafür, daß ihn keiner leiden kann."
"Daß ich das nicht mitbekommen habe, wie der da 'reingeflogen ist ... wir waren doch ganz nah bei dem Teich."
"Das muß gewesen sein, bevor wir gekommen sind", nahm ich an. "Guck' mal, der Rafa war doch erst gar nicht zu sehen. Der war doch überhaupt nicht da. Ich finde es ja nur so geil. Da ist der dann in die Toilette und hat stundenlang versucht, seine Sachen trockenzukriegen ... der muß doch voll naß gewesen sein ... als ich ihn gesehen habe, war der trocken."
"Das kann man schon schaffen in zwei Stunden."
"Der hat wohl den Händetrockner zur Hilfe genommen."
"Da kommt auch gut Luft 'raus", meinte Ivo. "Das kann man schon schaffen."
"Der Rafa ... der Rafa gehörte schon in den Teich."
"Ich finde das alles so geil ... Noch mehr. Ich habe den Xentrix gefragt, was er davon hält, wenn gewisse Leute andauernd zu ihm kommen und ihre Tapes spielen lassen.
'Ach, du meinst doch bestimmt Rafa und Dolf', hat Xentrix gesagt. 'Dieser Dolf geht mir allmählich wahnsinnig auf die Nerven. Ich nehm' das Zeug nicht mehr. Ich lasse mir diese Tapes nicht mehr 'reingeben. Mit den Tapes ist Schluß.'
Ich sage dir, der Stern von Rafa ist am Sinken ... der ist rapide am Sinken ..."
"Sicher, wenn er und Dolf so aufdringlich 'rüberkommen, kann die am Ende keiner mehr ab."
"Wie du mit Rafa überhaupt ... ich sage, das will mir immer noch nicht in den Kopf ... aber lassen wir das ..."
"Rafa tut so, als wäre das, was er macht, wer weiß was. Eine Weile zieht das, aber wenn sich in seiner Musik nichts weiterentwickelt, geht es bald wieder abwärts."
"Wie es mit ihm selber auch ist."
"Sicher", bestätigte ich. "Er denkt sich seine Musik toll, er denkt sich toll, er lügt sich toll und glaubt das dann auch. Rafa lebt in einer Welt des Scheins."
"Der Mann ist mir vollständig egal."
Da ich Rafa nicht bei mir haben konnte, beschloß ich, endlich ins "Trauma" zu gehen. Ich erinnerte mich daran, daß Ivo auch hatte ausgehen wollen und fragte ihn, ob er mitkäme.
"Timo ist nicht in H.", antwortete Ivo. "Ich wäre nur ausgegangen wegen Timo. Er ist nicht da; deshalb bleibe ich zu Hause."
"Würdest du auch ausgehen wegen mir?"
"Ach, das muß nicht sein. Timo ... wegen dem wäre ich ausgegangen, weil der aus Bad S. gekommen wäre."
"Und weil ich nicht von auswärts komme, gehst du wegen mir nicht ins 'Trauma'."
"Ach, das muß heute wirklich nicht sein. Timo kommt morgen, dann schauen wir bei dir 'rein. Ach, übrigens - gehst du denn nun ins 'Trauma'?"
"Ich muß hingehen."
"Dann ... sprich' doch nochmal mit Gerald wegen dem Termin", bat Ivo. "Ich möchte endlich wissen, wann ich im 'Trauma' auflegen kann."
"Dafür bin ich auf einmal gut", dachte ich.
Im "Trauma" tanzte ich vier Stunden lang, und das bringe ich nur fertig, wenn es mir dort sehr gefällt. Ich traf meinen alten Bekannten Telgart wieder und den Bewunderer, der findet, daß es niemanden gibt, der so wie ich tanzt.
Am nächsten Tag, dem Samstag, kamen Ivo und Timo zu mir.
"Ich suche und suche nach jemandem, der so tanzt wie ich", erzählte ich am Kaffeetisch.
"Den gibt's nicht", sagte Timo sogleich.
Er meint, das sei "eine einmalige Auflage".
"Rafa ist ja wohl abgehakt", zeigte Ivo sich beruhigt. "Also, ich will ja zu gern wissen, wer den in den Teich gesetzt hat. In SHG. gibt es Kurzhaarige, die können den nicht ab, vor denen hat der Bammel. Und die waren wohl in der 'Halle'. Das waren Kurzhaarige, die Rafa gebadet haben."
"Es wird in meinem Leben wohl so weitergehen", seufzte ich. "Der Nächste ist wieder in Richtung 'schwul' und hat eine besondere sinnliche Ausstrahlung. Andere machen mich gar nicht erst an."
"Na, dann fallen wir ja 'raus", sagten Ivo und Timo. "Wir sind nicht ein bißchen schwul."
"Hätte der sein Kleid angehabt", meinte Timo, "das hätte ich dem gerne hochgehoben."
"Echt - Rafa hat ein Kleid", wußte Ivo.
Ich berichtete von den Verhandlungen mit Gerald. Sie waren begleitet worden von Joëls Zwischenrufen:
"EBM gibt's nicht!"
Timo erzählte, er habe Rafa am Mittwoch in dem großen Ballsaal "Zone" in HF. gesehen. Das war zwei Tage vor unserer Verabredung am Karfreitag, die Rafa nicht einhielt.
"Hatte er schon eine Neue?" fragte ich.
"Noch nicht gesehen", antwortete Timo.
"Sucht wohl", vermutete ich.
"Frischfleisch", sagte Ivo. "Terrain ausweiten. Hat im 'Elizium' alle durch. Du warst Nummer 240."
Zu den Ereignissen der vergangenen Tage bemerkte Ivo:
"Das hätt' ich dir sagen können, daß das so läuft."
"Hast du mir doch auch."
"Es wäre sonst das erste Mal gewesen, daß der aus seinem Schema fällt. Das ist immer das Gleiche bei dem."
Constri hat Rafa schon gesehen, bevor er mich kennenlernte.
"Ich wußte, wer das war", sagte sie. "Da gab es eine Zeit im 'Elizium', da ist fast keiner gruftimäßig 'rumgelaufen. Rafa war einer der Wenigen. Er war stark geschminkt, mit Lippenstift und so weiter."
"Daß muß ein Grund dafür gewesen sein, daß er mir nicht aufgefallen ist", nahm ich an. "Ich habe nur eine Maske gesehen, kein Gesicht."
"Für dich war er halt nur irgendein Gruft."
"Und irgendein Gruft ist mir gleichgültig."
Carl erzählte, daß er Rafa im "Elizium" öfter auf der Toilette sieht.
"Geht der in die Kabine, wie du?" fragte ich.
"Ich sehe den meistens, wenn ich vorm Spiegel stehe; da kommt der dann vorbei."
Am Sonntag haben Ivo und ich wieder miteinander telefoniert.
"Ich finde es beeindruckend, wie austauschbar für Rafa die Menschen sind", sagte ich. "Ich finde es beeindruckend, mit welcher Gefühllosigkeit er ihnen begegnet."
Nichts, nichts hält ihn an ihnen.
"In einem Café", erzählte Ivo, "hat er über alles, was Luisa in seinen Augen falsch gemacht hat - ein Brötchen falsch geschmiert oder so - laut genörgelt, so daß es jeder in dem Café hören konnte. Rafa hat es absichtlich getan, und er hat es richtig genossen, sie zu quälen.
'Ooh, wie machst'n das?' hat er sie gegängelt. 'Soo macht man das aber nicht.'
Luisa wurde immer wütender."
"Rafa muß andere treten, um sich besser zu fühlen. Ich habe mir bald denken können, daß eine Beziehung auf Gegenseitigkeit, wie wir beide, du und ich, sie haben, mit Rafa unmöglich ist. Immer ist einer oben und der andere unten."
"Rafa will oben sein, grundsätzlich", meinte Ivo. "Er will der King sein, der über die anderen gebietet."
Und ich - ich werde nie "unten" sein. Das hat Rafa wohl gestört.
"Ich habe Lust, Rafa fertigzumachen", sagte ich. "Er hat mir Lust gemacht, ihn fertigzumachen."
"Wirklich - der muß eine Schraube locker haben, wenn der immer noch behauptet, er sei mit mir befreundet. Das ist doch sowas von klar, daß die Freundschaft beendet ist. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Wir haben keine gemeinsame Grundlage mehr."
"Spricht Rafa noch mit dir?"
"Hin und wieder."
"Ich verstehe gar nicht, wie es überhaupt möglich ist, mit Rafa eine längere Freundschaft zu unterhalten."
"Freundschaft ... was war das im Grunde?" sinnierte Ivo. "Was hat sich wirklich gehalten? Der Ivco aus SHG., der meistens dabei ist, ist für Rafa nur ein Fahrer. Und Dolf ist Rafas Diener. Die Könige im Mittelalter hatten solche Laufknaben auch. Dolfs Aufgabe ist es, zu lauschen und Gerüchte in die Welt zu setzen. In seine Bude durfte ich ja nie. Angeblich sollen da noch 'BRAVO'-Poster an den Wänden hängen ..."
"Die Zimmer von Rafa kennst du aber."
"Da habe ich schon drin übernachtet", sagte Ivo.
"Der hat eine Gästematratze."
"Auf der habe ich gelegen."
"Ich auch."
"Bei allem, was ich gegen Rafa sagen kann ... was seine Gastfreundschaft angeht, kann ich einfach nichts gegen ihn sagen", lobte Ivo. "Seine Gastfreundschaft war immer ausgezeichnet. Ich frage mich, woher er das hat ... vielleicht hängt das - wie sein sicheres Fahren - mit seinem Vater zusammen ... Alles hatte er da, Kaffee, etwas zu essen, sogar Duschen war drin, im Sommer, wenn wir in BO. gewesen waren ..."
Seine Stimme klang fast wehmütig. Ivo schien die Entdeckung zu freuen, über Rafa etwas Gutes sagen zu können.
"Der war fast unterwürfig", meinte Ivo. "'Wollt ihr vielleicht noch Kaffee?' hat er uns gefragt ... der hat uns seine Gastfreundschaft fast aufgenötigt ..."
Auch Dracula darf sich seiner Gastlichkeit rühmen. Er macht seinen Opfern sogar das Bett - wie Rafa ...
Über den Sockenschuß wußte Ivo, daß der längere Zeit bei Kappa in der Redaktion des "Autodafé" geschlafen hat.
Von Inya wußte er:
"Die wollte Rafa fest. Aber du kennst Rafa. Der rafft das nicht. Da sollen auch Sachen passiert sein ... leider weiß ich die nicht mehr auswendig ... die Inya hat wohl einiges mitgemacht ... die könnte dir auch eine Menge erzählen ..."
Ich denke mir, daß mit Rafa doch vielleicht ein Kelch an mir vorübergegangen ist.
Am Ostersamstag habe ich auf das "Elizium" verzichtet. Rafa war aber da, mit hochgestellten Haaren. Carl hat beobachtet, daß Rafa sich die meiste Zeit mit einem Mädchen unterhielt, das sonst nicht ins "Elizium" gegangen ist. Das Mädchen soll rothaarig sein.
"Er führt sein schematisiertes Verhalten fort", entnahm ich dem. "Es gibt für Rafa auch keine Veranlassung, es zu ändern."
"In dem fortgeschrittenen Alter ändert sich auch nichts mehr", meinte Carl.
Die Nachricht von Rafas neuer Begleitung blieb für mich nicht folgenlos. Ich verlor die Fassung. Man könnte auch sagen: In mir brannte eine Sicherung durch. Am Mittwoch stritt ich sinnlos mit Constri herum, und sie fühlte sich angesteckt, so daß es zu einer Art Gemetzel kam. Sie nahm mir meine Schreibtischlampe weg, und ich schlug auf sie ein und zerriß ihr Schlafanzugoberteil. Sie zerkratzte mir Gesicht und Hände. Ich erfand nach unserer Versöhnung eine Frisur, die die zerkratzte Gesichtshälfte so verdeckt, daß es gewollt aussieht. Der Pony wird wie ein Springbrunnen geformt. Constri findet es hübsch, wenn ich mir Strähnen ins Gesicht hängen lasse.
Noch immer schwebt bei mir daheim etwas in der Luft wie der Geruch nach frischem Blut, ein anklagender Geruch, ein Geruch nach Schuld. Es ist der Geruch von Constris Tränen.
Ich bin mit Constri eng verbunden, und was ich ihr tue, tue ich mir selbst. Indem ich Constri angegriffen habe, habe ich versucht, mich selbst zu zerfleischen.
Weil ich Rafa nicht vergelten kann, was er mir angetan hat, wollte ich meine grenzenlose Wut an mir selbst auslassen. Das soll nie mehr geschehen. Ich will nie mehr vergessen, wer mich verletzt hat. Ich will nur noch auf den einschlagen, der sich an mir schuldig gemacht hat. Der soll leiden, der es verdient. Die Grausamkeiten, die einer an mir verübt, sollen auf ihn zurückfallen. Er soll sie fühlen, und nicht nur einmal, sondern wieder und wieder und wieder. Was er getan hat, soll ihn quälen. Es soll an ihm hängenbleiben. Es soll nicht mehr weichen aus seinen Gedanken.

Am Donnerstag rief Ivo mich an und unterbreitete mir einen Vorschlag, mit dem er mir entgegenzukommen meinte.
Wir hatten geplant, mit Timo, Rayko und einem Pärchen aus Ivos Bekanntenkreis - Bias und Edit - nach Amsterdam zu fahren. Die Reise sollte am Freitag losgehen. An diesem Tag gab es in BO. im "Fall" eine Sonderveranstaltung. Die Gruppe Plastic Noise Experience wollte ein neues Video vorstellen. Diese Veranstaltung wollten wir besuchen und anschließend in der Nacht weiterfahren nach Amsterdam.
Ivo wußte von mir, daß ich von tagelangen Reisen ohne Zwischenübernachtung nicht viel halte. Da war ihm eingefallen, daß auch Till nach Amsterdam fahren wollte, allerdings erst am Samstag und nicht über BO.
"Du könntest mit Till fahren", meinte Ivo. "Dann sind wir nur fünf und brauchen nur ein Auto."
"Ich habe mich auf BO. eingestellt und vorbereitet", entgegnete ich. "Ich will das nicht mehr umwerfen, einen Tag vor der Fahrt. Außerdem - vergiß' Till. Der kommt nicht nach Amsterdam, das sage ich dir. Der will schon gerne fahren, aber der schafft das nicht. Ich glaube, so wichtig ist ihm das nicht, da hinzukommen. Auf Till will ich mich nicht verlassen. Nein, ich komme besser mit euch mit."
Ivo war es zufrieden. Er fragte mich, ob ich denn Lust hätte, am heutigen Abend mit nach BS. zu fahren. Im "Reentry" würden Paranoid auftreten. Saubere Electronic Body Music gefällt mir. Also sagte ich zu. Vor dem Konzert besuchte Ivo mit mir noch eine seiner alten Bekannten aus dem "Elizium". Sie heißt Lia Frey, ist zwanzig Jahre alt und studiert in BS.
"Lia stammt aus SHG.", erzählte Ivo. "Sie hält von Rafa auch nichts."
Ich konnte mich an Lia nicht erinnern; sie jedoch wußte gleich, wer ich bin.
"Du studierst Medizin, nicht?" sagte sie.
"Woher hast du das denn?" fragte ich erstaunt.
"Hört man so ... Luisa erzählte das ..."
"Die kenne ich gar nicht."
"Die hat das vielleicht von ... Rafa sagte sowas ..."
Lias Studentenwohnung ist in Grau und Schwarz eingerichtet. In der Höhe spielt sich so einiges ab, was mich an Rafas Lust an morbider Zier denken ließ. Schwarze Pappfledermäuse hängen an abenteuerlich gekrümmten Drähten, umgeben von Halogenlämpchen. An der Flurdecke strahlt eine Art Sternenhimmel.
"Ich fand Rafa auch mal toll", sagte Lia und brachte uns Kaffee.
Ich habe ihr nicht erzählt, wie ich Rafa finde.
"Ich kenne ihn seit fünf Jahren", fuhr Lia fort. "Ich war fünfzehn damals, dumm und naiv. Ich hasse Rafa schon länger. Zu jedem Mädchen, das sich in ihn verguckt, möchte ich sagen:
'Gib dich mit dem A...loch nicht ab.'
Auf Luisas Geburtstagsparty ist Rafa ja 'rausgeworfen worden."
"Richtig 'rausgeworfen?" fragte Ivo nach.
"Richtig 'rausgeworfen. Das war ja auch ... der hing in Luisas Zimmer und hörte seine Musik. Der Rest von den Leuten war im Wohnzimmer. Kam Rafa irgendwann ins Wohnzimmer und legte ein Tape mit seiner Musik ein. Da sind alle in Luisas Zimmer 'rübergegangen und haben ihn allein in dem Wohnzimmer gelassen."
"Wann war denn Luisas Party?" erkundigte ich mich.
"Die war im Februar - Mitte Februar."
"Ist Rafa abhängig von Luisa?" forschte ich.
"Sicher ist der das", antwortete Lia.
"Der macht immer einen auf unabhängig."
"Ist der nicht. Ist der nicht. Der tut immer so unnahbar ... so unberechenbar ..."
"Er sagt, wenn er berechenbar wird, nimmt er sich einen Strick", erzählte ich. "Den kann er sich bereits nehmen."
"Luisa zieht nach H."
"Das ist wohl das Beste, was sie tun kann."
"Sie will es aber nicht. Sie muß es aus beruflichen Gründen."
"Die ist wohl auch ziemlich abhängig von Rafa."
"Hin und wieder hat die schon mal einen Freund."
"Rafa war kürzlich im 'Zone', was Neues suchen", berichtete Ivo.
"Ach? Was ist denn mit Sanne?" fragte Lia.
"Sanne?" fragte Ivo verwirrt.
Über Einzelheiten schwieg Lia sich aus. Rafa scheint aber mit der blonden Sanna aus dem "Elizium" zusammenzusein oder zusammengewesen zu sein.
"Die Sanne weiß schon, worauf sie sich einläßt", meinte Lia.
"Sie steht drüber", mutmaßte ich.
"Genau."
"Seine Freundinnen wechselt er immer schnell. Bei dem ist das eine Frage von Tagen."
"Sicher", bestätigte Lia. "Ich kenne Rafa."
"Oft ist es sogar eine Frage von Stunden."
"Er zieht die Mädchen ins Bett - dann hatte er sie, und sie sind ihm gleichgültig."
"Und was ist, wenn er es nicht schafft, sie ins Bett zu ziehen?"
"Der schafft das", war Lia sicher. "Der schafft das so gut wie immer."
"Kann das nicht sein, daß der das mal nicht schafft?"
"Ich weiß nicht."
Lia sagte, sie könne selbst die Männer nicht mehr zählen, mit denen sie schon etwas gehabt hätte.
"Natürlich hatte ich mit Rafa auch etwas", setzte sie hinzu.
"Richtig?" fragte ich.
"Nein. 'rumgeknutscht haben wir mal."
Lia betonte, daß sie nicht Rafas Opfer geworden ist.
"Es gibt Mädchen, vor denen hat Rafa Respekt", meinte sie.
"Mit denen kann er nicht zusammensein", folgerte ich, "weil er vor denen, mit denen er zusammen ist, keinen Respekt hat."
"So ist es."
"Und vor dir hat er Respekt."
"So ist es."
"Dann kann er theoretisch mit dir auch nicht reden."
"Tut er auch nicht."
"Hat er bei dir eigentlich auch immer den Beifahrersitz belegt?" wollte ich wissen.
"War nicht!" antwortete Lia. "Der kam schön nach hinten. Den setz' ich nicht neben mich. Das wäre noch was."
Lia geht kaum noch ins "Elizium". Sie hat aber mitbekommen, wie Rafa sich an mich heranmachte.
"Wir haben uns schon gefragt, was das wohl wieder wird", erzählte sie.
Man redete also darüber, legte den Fall jedoch bereits zu den Akten.
"Ich will bloß wissen, wer Rafa in den Teich gesetzt hat", fing Ivo wieder an. "Und ich will wissen, wie die das geschafft haben, ihn da 'reinzusetzen. Er ist ja nicht der Kleinste."
"Vielleicht hatte er in seinem Innern das Gefühl, in den Teich zu gehören", vermutete ich. "Oder sie haben ihn ganz einfach überrumpelt."
"Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen ..."
Ivo beruhigte sich nicht.
Im "Reentry" tanzte der Sänger von Paranoid mit dem Publikum, und das Publikum tanzte auch mit dem Sänger, um ihn aufzuheitern. Er hatte sich darüber beschwert, daß nicht genug getanzt würde.
Lia schwärmte von Gary Oldman. Er spielt die Titelrolle in Coppolas "Dracula"-Version.
"Rafa ähnelt Bela Lugosi so verdammt", meinte ich.
"Unsinn", fand Lia. "Rafa ist potthäßlich."
Ich erwiderte, Gary Oldman sei potthäßlich.
Nach dem Konzert gingen wir noch einmal zu Lia. Ivo und ich wollten von ihr wissen, was man im "Elizium" so über uns redet und wer über uns redet.
"Was sollen die schon sagen?" wich Lia aus. "'Ach, die schon wieder' vielleicht."
"Wer sagt denn was genau?" forschte ich nach.
"Ist nicht wichtig", meinte Lia. "Ist nicht von Belang. Ich gebe nichts auf das Gerede."
"Ich auch nicht. Wissen möchte ich aber schon, was geredet wird, einfach, damit ich weiß, was ich von wem zu halten habe."
"Das ist nicht wichtig, echt nicht."
Auf keinen Fall wollte Lia uns die Wahrheit sagen.
Wir kamen auf die Todesstrafe zu sprechen. Lia und Ivo halten sie für eine menschenfreundliche, schnelle, saubere und kostengünstige Lösung. Ich zählte den beiden eine Reihe von Gegenargumenten auf:
Man sei nie sicher, daß man den Richtigen töte ... in der Geschichte sei die Todesstrafe immer wieder mißbraucht worden ... der Tod sei keine gesellschaftliche Wiedereingliederung ... die abschreckende Wirkung der Todesstrafe sei nicht nachgewiesen ... der Mensch solle sich nicht anmaßen, über Leben und Tod seiner Mitmenschen zu entscheiden ... ein unschuldig Hingerichteter sei nicht wieder lebendig zu machen ...
Lia und Ivo blieben bei ihrer Haltung.
"Ich kann nichts dagegen machen, daß ich für die Menschenrechte eintrete", sagte ich schließlich. "Ich bin eben Verfechter der Menschenrechte."
Damit war unser Gespräch über die Todesstrafe beendet.
"Ich will nicht Luisa sein", sagte ich auf der Rückfahrt nach H. zu Ivo. "Mit Fug und Recht kann ich trotz allem, was war, behaupten, daß ich ein freier Mensch bin. Ich hatte nie eine Beziehung, und ich kann das sagen, ohne mit der Wimper zu zucken, weil es die Wahrheit ist."
"Das ist aber auch ungewöhnlich für dein Alter."
"Allerdings."
"Das ist aber auch nicht normal."
"Ist es auch nicht", stimmte ich Ivo zu. "In gewisser Weise bin ich stolz darauf. Ich habe das ganze Hin und Her nie mitgemacht. Ich habe mich immer herausgehalten. Was sollte ich auch mit einem, den ich gar nicht will?"
"Hast du eigentlich recht."
"Ich hatte den Eindruck, Lia trägt ihre Bettgeschichten sehr vor sich her."
|
|