.

Als wir am Samstag ins "Elizium" kamen, stand Rafa neben der Tanzfläche. Er sah mich und streckte die Arme aus. Durch den Traum am Freitag wußte ich, daß ich mich darauf einlassen wollte, und ich tat es. Es war unfaßbar und gerade so, wie ich es immer ersehnt hatte. Rafa umklammerte mich und rieb seine Wange an meiner. Wie unter Zwang lächelten und lächelten wir.
"Na? Ist das eine Begrüßung?" fragte Rafa stolz.
"Ja."
"Komm', trinken wir einen Sekt zusammen?"
"Ja."
Ich legte eilig meine Sachen auf das Podest und ging mit Rafa zur Bar. Kurz darauf hielten wir die Gläser in der Hand und stießen an. Unsere freien Hände hatten wir immer wieder woanders. Meine Hand griff nach seinem Kragen, seinem Ärmel oder unter seine Jacke. Seine Hand lag um meine Taille oder schob sich unter meine Achsel. Ich sah Carl in unserer Nähe sitzen. Er hatte sein Haar aufgetürmt und sich dabei von Malda helfen lassen, einer Bekannten.
"Warst du letzte Woche im 'Elizium'?" fragte ich Rafa.
"Nein."
"Wo denn?"
"Im 'Fall'."
"War es gut?"
Er nickte.
"Wie geht's?" erkundigte ich mich.
"Nicht so gut", antwortete Rafa. "Es könnte besser sein. Wie geht es dir denn?"
"Ich weiß es nicht."
"Könnte es bei dir auch besser sein?"
"Ach, ich weiß es nicht."
"Wie isses denn nun?" fragt Rafa ungeduldig, fast flehend. "Könnte es bei dir besser sein oder nicht?"
Es hört sich an, als erwarte er eine Enttäuschung.
Ich fühle mich wie unter Strom.
"Ich kann es wirklich nicht sagen", antworte ich. "Warum könnte es bei dir denn besser sein?"
"Weil sich meine Wünsche noch nicht erfüllt haben."
"Was für Wünsche sind das denn?"
Rafa legt sich einen Finger auf den Mund.
"Ach, das sagen wir wieder nicht", stelle ich fest. "Hast du eigentlich Angst vorm Tod?"
Rafa nickt ausholend.
"Ja."
"Und hast du Angst vorm Älterwerden?" frage ich weiter.
"Nein."
"Keine Angst vor Falten und Verfall?"
"Nein."
"Du würdest also ganz gerne hundert werden und dann halt nur nicht sterben."
"Ich will schon sterben", meint Rafa. "Nur der Tod selber ... Ich hasse alles, wo ich nicht vorhersehen kann, wie es ausgeht."
"Da geht es mir genauso. Deshalb wollte ich ja auch wissen, wie du zu mir stehst - damit ich weiß, wie das ausgeht. Aber das war ja eine von den neun Fragen. - Hattest du eigentlich vorgehabt, mich anzurufen?"
"Ich habe einmal angerufen, da warst du nicht da", erzählt Rafa. "Und ich habe angerufen und doch nicht angerufen."
"Wie geht denn das?"
"Man kommt heim und nimmt sich vor, ich rufe da an. Und dann macht man das ... und das ... und das ... und dann ist die Zeit vorbei, um die man anrufen kann, und man hat nicht angerufen."
"Ist mir irgendwann auch schon ähnlich gegangen. Übrigens hatte ich kürzlich einen Traum, da konnte ich ganz schön fies zu dir sein."
"Du träumst von mir?" staunt Rafa.
"Ich träume von meinen Leuten allen."
"Von meinen Leuten allen", wiederholt Rafa und lacht.
"Von allen meinen Leuten", verbessere ich mich. "Und noch ganz andere Sachen. Jedenfalls ... du riefst an, und ich:
'Hi ...',
und du:
'Hi ...'
Und dann habe ich gesagt:
'Also, weißt du, ich habe gar keine Zeit.'
und den Hörer aufgelegt. So fies kann ich sein."
"Aha."
"Allerdings bin ich das dann nicht in Wirklichkeit", setze ich hinzu. "Außer ... ich hatte dir doch Ende Januar verschwiegen, daß ich eine Geburtstagsparty gebe. Erst danach fiel mir ein, daß ich dich längst dazu eingeladen hatte. Das war Anfang Januar, als du mir aus einem Grund, den du mir nicht nennen willst, die Hand gegeben und mir ein frohes neues Jahr gewünscht hast. - Gestern habe ich übrigens auch von dir geträumt. Da hatten wir ein Rendezvous, das war ganz ähnlich wie dieses hier."
"Ich möchte dich näher kennenlernen."
"Dann komm' am 09. April zu mir."
"09. April."
"Ja."
"Was ist das für ein Tag?"
"Ein Freitag. Komm' tagsüber, damit ich dich fotografieren kann."
"Du willst mich fotografieren?" muß Rafa wieder staunen.
"Ja."
"Ich will auch noch so allerlei von dir", kündigt Rafa an, und man hört Sehnsucht aus seiner Stimme.
"Was denn?" frage ich.
Wieder bleibt Rafa mir die Antwort schuldig und legt sich stattdessen einen Finger auf den Mund. Ich stelle ihm eine fast überflüssige Frage:
"Die Kassetten hast du wieder nicht dabei?"
"Nein."
"Vergißt du die absichtlich?"
"Du kriegst alles, Mädchen."
"Der Spruch ist auch schon dagewesen", denke ich.
Ich erzähle vom "Trauma".
"Dahin würde ich dich gerne mal mitschleppen."
"Dann schlepp' mich doch mal mit", schlägt Rafa vor.
Ich verspreche es ihm. Dann fragt er:
"Wollen wir uns nicht woanders hinstellen?"
"Sag' mir, wo du hingehen willst."
Ich folge ihm zum Ende der Bar, wo wir vor der stählernen Kellertür stehenbleiben. Dort ist ein "toter Winkel", in dem man uns von der Tanzfläche aus nicht sehen kann und die Musik nur gedämpft zu hören ist.
"Hier kann man wenigstens reden, ohne zu schreien", erklärt Rafa. "Übrigens sind wir am 02. April doch nicht in der 'Halle'. Da treten dann S.P.O.C.K. auf. Wir sind erst Anfang Mai in der 'Halle'."
Rafas Freund Revco kommt; er ist um dieser Angelegenheit willen sehr erregt.
"Die haben das so kurzfristig umgeworfen", klagt er mir sein Leid. "Viele Leute kommen doch gerade wegen Rafa. Alles habe ich versucht. Ich habe mich dafür zerrissen, Rafas Auftritt zu retten."
Er betrachtet Rafa und setzt hinzu:
"Ich glaube, ich bin über die Verlegung bald wütender als Rafa."
Tatsächlich scheint Rafa in höheren Gefilden zu schweben.
"Ich würde nicht im Mai da auftreten", rät ihm Revco. "Ich würde überhaupt nicht in der 'Halle' auftreten. Du findest immer irgendwoanders ..."
"Mach' das im Mai", sage ich leise zu Rafa.
"Mach' ich auch", erwidert er, nach wie vor recht unbeteiligt.
"Was weißt du eigentlich schon alles so über mich?" möchte ich in Erfahrung bringen.
"Viel", weicht Rafa aus.
"Und was so?"
Er wispert irgendetwas Unverständliches.
"Ich möchte ganz gern wissen, was das da ist", sage ich und ziehe an seiner Jacke.
"Ich bin kein Mensch", behauptet er.
"Carl meint auch, daß du irgendwie außerweltlich wirkst."
"Wer ist Carl?"
"Der mit dem Turm."
"Ach, so."
"Ich bin auch kein richtiger Mensch", vermute ich.
"Da haben sich ja zwei gefunden", bemerkt Rafa.
Er zieht mich an sich und umklammert mich mit aller Kraft.
"Ich bin anders als alles, was du bisher gekannt hast", erzähle ich.
"Weißt du denn, wen ich alles schon gekannt habe?" fragt er.
Die Kellertür geht auf, und der Barmann schleppt eine Getränkekiste nach oben. Die Treppe ist hell und kalt. Dolf läßt das Wort "Kellerparty" fallen.
"Menschen ... mit sowas geb' ich mich nicht ab", sagt Rafa hochmütig.
"Willst du besser sein als Menschen?"
"Ich sage nicht, daß ich besser bin."
"Dann stell' dich doch auch nicht über sie."
"Wirklich, ich muß dich näher kennenlernen ...", kommt wieder sehnsuchtsvoll von Rafa.
Wir versinken in immer heftigeren Umarmungen. Er krallt sich in mein Oberteil.
"Weißt du, daß das süchtig macht?" höre ich seine Stimme.
Ich greife ihm ins Fleisch und sage:
"Das da macht auch süchtig."
Er küßt mich, wohin man jemanden küssen kann, den man umschlungen hält - nur nicht auf den Mund. Er saugt und beißt mir am Hals herum und drückt meine Hände; nur dieses Eine läßt er aus. Es will mir scheinen, als wenn er sich das nicht traut.
Nach einer Weile unterbricht Rafa seine Umarmungen, um mich von oben bis unten zu betrachten.
"Ah, schick siehst du aus ...", schwärmt er. "So schick ... heute ganz besonders schick ... völlig niedlich ... zum In-die-Tasche-Stecken und Mitnehmen ..."
"Ich habe an meinem Äußeren lange gearbeitet. So ab 1989 etwa habe ich nur noch Feinstrumpfhosen angezogen. - Du gibst dir ja auch Mühe mit deinem Äußeren."
"Na ... ich seh' nur ... das zieh' ich an und das zieh' ich an ..."
"Heute hast du eine ganz andere Brosche angesteckt."
"Das ist richtig."
Er sucht wieder recht ungestüm meine Nähe. Ich erinnere mich daran, daß ich mir in den letzten Wochen immer wieder selbst gesagt habe, daß Rafa mich in die Tasche stecken und mitnehmen könne. Ich wäre sein.
Heute sehe ich mir Rafas Kajalstriche genauer an. Er zieht sie so, daß sie noch über den Tränenpunkt hinwegreichen. Ohrringe trägt er fast immer. Die, die er am häufigsten trägt, haben Tütenform und sind unten spitz; man könnte sich an ihnen stechen. Ich finde, daß ihm Ohrringe blendend stehen - obwohl er ein Mann ist.
"Ich kann sagen, der Artikel sagt mir durchaus zu", lobe ich seine Erscheinung.
"Der Artikel", wiederholt Rafa.
"Ich rede manchmal seltsam", entschuldige ich. "Man könnte dann meinen, ich sei kalt und gefühllos."
"Ich finde dich weder kalt noch gefühllos", erwidert Rafa eilig.
"Du hattest es aber mal befürchtet."
"Was habe ich befürchtet?"
"Ich hatte dir erzählt, was mir an Beton gefällt, und du hattest gemeint:
'Hoffentlich bist du nicht so.'
Das weiß ich noch genau."
"Ich bin so froh, daß du hier bist", sagt Rafa.
"Danke für das Kompliment."
"Das ist kein Kompliment", erwidert er. "Komplimente sind Lügen."
"Nicht alle. Ich habe auch schon ehrliche Komplimente gehört."
"Ein Kompliment ist doch, daß man, wenn man einen Besen auf der Straße sieht, zu der sagt, wie gut die aussähe. Das ist nur Heuchelei."
"Viele Komplimente, die ich in der letzten Zeit gehört habe, wirkten auf mich sehr echt."
"Ja - das sind ehrliche Komplimente."
Rafa fügt einige unverständliche, wie für ihn selbst gesprochene Worte an. Er unterbricht sich, wirft heftig den Kopf zurück und sagt:
"Scht."
"Was heißt 'scht'?"
"'Rafa, halt' die Klappe.'"
"Nein. Los, reden!"
Er schüttelt wild den Kopf.
"Weshalb spielt Zeit für dich keine Rolle?" wechsle ich das Thema.
"Weil es keine Rolle spielt, ob etwas heute passiert oder morgen."
"Du sagtest selber, alles verändert sich", rufe ich ihm ins Gedächtnis zurück. "Veränderungen sind zeitabhängig. Da spielt Zeit doch eine Rolle. Und es ist nicht gleich, ob etwas heute passiert oder in zehn Jahren."
"Es kommt auf den Fall an", lenkt er ein. "Wenn sich etwas verändert, spielt Zeit schon eine Rolle. Aber wenn es egal ist, ob eine Sache jetzt oder in zehn Jahren passiert, dann spielt Zeit keine Rolle."
Ich bekomme von Rafa noch ein zweites Glas Sekt, das ich nicht mehr austrinken will. Ich möchte am Morgen noch im "Trauma" tanzen, und dafür muß ich nüchtern sein. Ich stelle das Sektglas auf ein Sims an der Seitenwand. Dort ist es außer Sicht. Rafa geht mit mir noch weiter in die Ecke hinein. Wir stehen wieder umschlungen da, und ich frage:
"Ist dir sowas wie das hier schon mal passiert?"
"Nein."
"Bei deinen ehemaligen Freundinnen auch nicht?"
"Wie war das bei deiner Sandkastenliebe?" fragt Rafa seufzend, als sei ich schwer von Begriff. "Wolltest du den heiraten? Warum warst du mit dem zusammen?"
"Ich war elf, und er mochte mich, und deshalb war ich mit ihm zusammen."
"So war's bei mir und Luisa, genau so."
"Konnten sich deine Freundinnen auf dich verlassen?"
"Jeder kann sich zu hundert Prozent auf mich verlassen."
"Hast du Schattenseiten?"
Rafa nuschelt irgendetwas.
"Du mußt wissen", erkläre ich, "daß ich keine andere neben mir dulde. Sobald ein anderes Gesicht auftaucht, bist du für mich tot."
"He ... ich bin schwul", behauptet Rafa. "Ich habe seit drei Jahren einen Freund. Er heißt Anwar und wohnt in S."
"Ah, ja."
"Siehst du, so schnell geht das! Schon ist alles, was ich dir bisher von mir erzählt habe, über den Haufen geworfen."
"Und? War das jetzt eben wahr?"
"Erstunken und erlogen."
"Ja?" frage ich vorsichtig.
"Komm' ... weg vom Tisch ... innerhalb von fünf Minuten widerlegt."
"Allein die Zeit", denke ich, "wird mir Klarheit über ihn verschaffen."
Ich versuche, ihm meine Vorstellungen von Treue zu beschreiben:
"Ich umarme meine Freunde gern und oft, aber es gibt da so eine Grenze. Das eine ist rein freundschaftlich, das andere ..."
"Und wenn wir uns umarmen, was ist das?" unterbricht er mich.
"Das ist nicht freundschaftlich", sage ich bestimmt.
"Wie denn?"
"Anders."
"Wie?"
"Anders."
Ich lege meine Wange an seine und frage mich, ob es mir gelingen kann, sein Gesicht zu streicheln. Ich halte es noch für zu schwierig. Ich greife nur nach seinem Hals und schiebe meine Hand unter seinen Stehkragen.
"Kann es sein, daß du dein Leben wie ein Theaterstück inszenierst?" frage ich ihn.
"Ja."
"Das hatte ich mir auch schon gedacht", erzähle ich. "Du bist für mich erst interessant geworden, als ich mit dir ein ernsthaftes Gespräch führen konnte. Du bestehst zu neunzig Prozent aus Fassade, und die übrigen zehn Prozent, die interessieren mich."
Der Sockenschuß schießt auf Rafa zu und schreit ihm etwas ins Ohr.
"Halt' uns den vom Leib", sage ich ruhig, langsam und deutlich zu Rafa. "Das ist eine Feuerprobe."
Nun schreit der Sockenschuß mich an:
"Willst'n Taschentuch? Willst'n Taschentuch?"
Ich suche Deckung in einer Nische neben der Bar. Ich schnappe Wortfetzen auf aus dem Redeschwall, mit dem der Sockenschuß den verständnislos blickenden Rafa überschüttet.
"Die soll endlich aufhören, mich morgens um sechs aus dem Bett zu klingeln ... die soll sich endlich in die Psychiatrie einweisen lassen ... die soll mich endlich in Frieden lassen ... nach fünf Jahren ..."
Beim Schreien tanzt und springt der Sockenschuß um Rafa herum. Er wirkt so beweglich, als hätte er Stahlfedern in sich.
"Ich steh' vor dir, und solange ich hier steh', tut der dir nichts", versichert mir Revco.
Ich winke Derek her, der schon recht angetrunken ist und nicht begreift, was vorgeht. Ich will aus der Ecke neben der Bar fortkommen, weil ich da nicht ausweichen kann und mir die Abwehr doch zu dünn erscheint. Rafa wirkt verwirrt und will - wie Derek - nicht glauben, daß der Sockenschuß gefährlich ist. Ich verwende Rafa als Deckung und schiebe ihn zum Podest zu meinen Leuten, die ich alle heranhole, damit sie untermauern, was ich über den Sockenschuß gesagt habe. Ivo tut es nach anfänglichem Widerstreben, Rikka tut es ohne Widerstreben, der etwas schwerfällige Carl muß erst "in Gang gebracht" werden, tut es dann aber auch. Vor der Stahltür, die der Treppe zur Galerie gegenüberliegt, kauern Lena und Lenni. Der Sockenschuß schlägt im Vorbeigehen nach mir und kauert sich zu Lena, von der er sich wohl Schützenhilfe erhofft. Rafa kauert sich zum Sockenschuß und spricht lange mit ihm. Ich klopfe Rafa auf die Schulter, weil ich möchte, daß er auch hört, was Valeria zu der Angelegenheit zu sagen hat. Rafa scheint das Klopfen nicht wahrzunehmen. Ich halte seinen Pferdeschwanz in einer Hand und erkläre Valeria die Sachlage:
"Er begreift es noch nicht."
Als Rafa sich wieder aufgerichtet hat, frage ich ihn, ob er mir nun glaube, daß der Sockenschuß ein Irrer sei. Rafa scheint das, was da auf ihn einstürzt, zu überfordern.
"Nach draußen. Nach draußen. Erstmal nach draußen", sagt er und stürmt davon.
Ich lasse ihn gehen und stelle mich vor Derek, der in der nun leeren Ecke vor der Stahltür auf einem Hocker Platz genommen hat.
"Hast du gesehen, was abgeht?" frage ich ihn. "Glaubst du inzwischen, daß der Typ gefährlich eine Schraube locker hat?"
"Ja", antwortet Derek mit großen Augen.
Er gibt mir seine Hand darauf, mich zu verteidigen, und ich stütze mich auf seine Knie und denke:
"Na ..."
Dann setze ich mich neben Ivo aufs Podest. Er empfängt mich mit den Worten:
"Du bist voll auf Rafa 'reingefallen. Die Masche kenne ich; die hat der schon seit Jahren. Du wirst dann dem seine Nummer 239. - Also, gerade du mit deiner Logik!"
"Das hat nichts mit Logik zu tun", entgegne ich. "Das ist wie eine zweite Person in mir, eine Grauzone. Nennen wir es 'Twilight Zone'."
"Das gibt es wohl auch nur bei Frauen."
"Das ist ein Teil meiner Person. Ich kann den nicht verleugnen, sonst würde ich mir selbst untreu werden."
"Aus-ge-rech-net Rafa ..."
"Das sage ich auch. Du, ich habe mir den nicht ausgesucht. Seit du mir erzählt hast, daß der Luisa betrogen hat, wußte ich, daß du recht hast."
"Timo und ich haben nur geguckt. Ich hätte nicht gedacht, daß du ... gerade, weil wir beide uns doch recht ähnlich sind. War das vielleicht nur der Alkohol?"
"Ganz sicher nicht", erwidere ich ernst. "Ich bin nüchtern wie du, nur habe ich halt die Grauzone in meinem Charakter. Ich hätte es schöner gefunden, wenn es einer gewesen wäre, der mich verdient hat - nicht so ein Lügner und Betrüger. Aber ich habe ihn nicht ausgesucht. Das ist etwas wie eine zweite Person in mir; darauf habe ich keinen Einfluß. Das ist ein Instinkt, ein Reflex. Das Tier in mir spricht."
"Du fällst voll auf den 'rein."
"Ich weiß, daß das Ende kommt, nur wie es kommt, das weiß ich nicht. Ich wollte ja etwas über seine Schattenseiten wissen, aber er weicht aus. Schade ist es, daß das Tier in mir die Falschen aussucht."
"Ja, und ich bin immer so nüchtern, immer", sagt Ivo nachdenklich. "In mir is' sowas gar nicht ... eigentlich schade ..."
"Was ich aber ums Verrecken nicht will, ist, Rafa nachzulaufen. Der muß selber ankommen."
"Wenn der sein Ziel erreicht hat, bist du für den uninteressant."
"Er darf es eben nicht erreichen. Ich muß den Scheitelpunkt abpassen, wo es umschlägt und nicht mehr er mir den Hof macht, sondern ich ihm nachlaufe. Und er wird sein Ziel eh nicht erreichen - das hat aber andere Gründe. Er erreicht es sicher nicht."
"Du bist eine Schachfigur für ihn", meint Ivo. "Weißt du was? Ich will ihn reizen. Er ist mein Rivale ..."
"Ich weiß; ihr seid Rivalen."
"Hast du eben gesehen, wie er an uns vorbeilief?"
"Nein."
"Unsere Blicke haben sich getroffen", erzählt Ivo. "Der Blick von ihm war sehenswert. Wie der wohl gucken würde, wenn ich dich küsse?"
"Das will ich lieber nicht testen. Ich habe zu ihm gesagt, wo bei mir die Grenze zwischen Freundschaft und etwas anderem liegt, und dementsprechend will ich mich verhalten. Nein - Rafa ist kein Freund von mir, eher ein Feind. Reizen will ich ihn auch, aber anders. Rafa ist für mich ein Objekt. Ich will ihn zu Versuchszwecken schlachten."
Ivo seufzt:
"Kaum komm' ich in den Laden hier 'rein ... alles Irre."
"Das mit Rafa geht schon wochenlang so, immer samstags. Wir haben hier schon Sachen aufgeführt ... Theater ..."
"Davon habe ich nichts mitbekommen. Du hast auch nichts davon erzählt."
"Sowas muß man sehen, sonst glaubt man's nicht. Rafa gibt übrigens zu, sein Leben wie ein Theaterstück zu inszenieren. Er hat eine Art, sich selbst zu entlarven, ohne allzu offen zu werden."
Timo steht auf, und der Platz neben mir wird frei. Rafa kommt.
"Laß' dich nieder", fordere ich ihn auf, und er setzt sich.
Ich hake beide unter, Ivo und ihn, und frage Rafa:
"Glaubst du immer noch nicht, daß der Sockenschuß gefährlich ist?"
"Ich glaube gar nichts", sagt Rafa. "Ich kann das nicht glauben."
"Hast du ein Messer bei dir?" fragt Ivo.
"Ich? Nein", antwortet Rafa.
"Ich auch nicht", sagt Ivo. "Der Sockenschuß hat aber eins bei sich. Das ist ihm letzten Sommer im 'Trauma' auf die Tanzfläche gefallen ..."
"Wart ihr nicht mal Freunde, du und Ivo?" will ich von Rafa wissen.
"Wart?" fragt der mit Staunen im Blick.
"Ach, ihr seid noch."
"Wir sind", stellt Rafa klar. "Was haben wir alles für Touren gemacht ..."
"Stimmt - nach BO.", sagt Ivo.
"Wie war denn das?" frage ich Rafa lauernd.
"Kann man nicht erzählen", ist die Antwort.
Er will durchaus nichts davon erzählen, so sehr ich auch versuche, ihn dazu zu bewegen.
Sündig-betrunken kuschelt Rafa sich an mich. Ich ziehe an ihm herum, und sein Kopf fällt immer auf die Seite, zu der ich ihn hinziehe. Schließlich fragt er mich:
"Kannst du mir eine Frage beantworten?"
"Ja - welche?"
"Weshalb ich dich ganz intim kennenlernen möchte."
"Das ist doch eine Frage über dich."
"Nein, über dich."
"Ich müßte dich besser kennen, um so etwas beantworten zu können."
"Alles läuft darauf hinaus, daß wir uns besser kennenlernen müssen", meint er. "Am 09. April ... unser 09. April ..."
"Denke daran - ich habe auch kannibalische Instinkte", warne ich, auf seine Beißwut anspielend. "Ich ziehe in Erwägung, dich zu schlachten - zu Versuchszwecken."
"Alles ist möglich - unter der Voraussetzung, daß ich nicht in Zwänge gerate", sagt er, ein wenig in Furcht.
"Zwänge kommen aus einem selbst", entgegne ich. "Ich kann dich zu nichts zwingen."
Es sieht so aus, als wenn das Kapitel "Zwang und Verantwortung" tatsächlich Rafas schwacher Punkt ist - die Sollbruchstelle für unsere Bindung.
"Hast du Schattenseiten?" frage ich ihn zum zweiten Mal.
"Ja."
"Welche denn?"
Darauf wird wieder nicht geantwortet.
Ich ziehe noch ein bißchen an ihm. Er ist schlaff und biegsam in meinen Händen.
"Breit bist du", stelle ich fest.
"Ja, breit."
"Ziemlich weggetreten, ziemlich abgestürzt. Ziemlich besoffen."
"Das ist mein einundfünfzigstes Bier", behauptet er. "Erst habe ich fünfzig Sekt getrunken, und das ist jetzt mein einundfünfzigstes Bier."
"Du kennst Luisa viel, viel besser als ich", wendet sich Ivo an Rafa.
"Oh, ja", bestätigt der.
"Siehst du, und wir kennen den Sockenschuß eben besser. Es ist nicht einfach das Analysevermögen, sondern vor allem die Erfahrung, durch die man jemanden beurteilen kann."
Ich stoße Rafa in die Seite.
"Ivo und ich haben dieses Analysevermögen", sage ich zu ihm. "Aber wenn du nicht mehr breit bist, bist du auch wieder hell."
Ivo beanstandet die Musik.
"Wenn endlich etwas gespielt wird, nehme ich sie mit auf die Tanzfläche", kündigt er an und deutet auf mich. "Ey - gestern sind wir völlig normal ausgegangen, haben abgetanzt, und Schluß. Und heute ... Wochenlang war ich nicht in dem Laden. Kaum komm' ich 'rein, ist da das Irrenhaus."
"Intrigen, Lügen, Liebe und Haß", sagt Rafa.
"Wobei die Liebe oft ganz klein geschrieben wird", ergänzt Ivo.
Ich schiebe meine behandschuhten Finger unter Rafas Manschette und wiederhole:
"Intrigen, Lügen, Liebe und Hass, wobei ..."
"Und man kommt gleich wieder in die Lästeratmosphäre 'rein", sagt Ivo mit einem Lauern in der Stimme.
"Das 'Elizium' hat dafür auch genau die richtige Größe", meint Rafa. "Nicht so klein, daß das Lästern erstickt, nicht so groß, daß es verhallt."
"Man kommt 'rein, und die Verwirrung kommt auf einen zu. Man kommt 'rein, und die Verwirrung in Person kommt auf einen zu", sage ich und ziehe an Rafas Manschette, so daß sein Arm hin- und herbaumelt.
Ivo kichert.
"Wie eine Marionette!"
"So muß das sein", erkläre ich. "Ich will's immer zynisch betrachten. Mein Zynismus ist meine Gottesgabe. Mein Zynismus hat mir schon oft das Leben gerettet."
Ich schaue seufzend zur Decke.
Rafa scheint das Gespräch zu verunsichern. Er geht.
"Siehst du, so lang hat's gedauert", sagt Ivo. "Zehn Minuten hält's ihn bei dir, wenn du sein Spiel durchschaust. Gut warst du. Ich hätt' mich weglachen können ... klar, daß er dir nicht erzählen wollte, was er in BO. getrieben hat ... Letztes Jahr im 'Fall'. Ich werd's nie vergessen. Luisa war in die Ecke gestellt, und Rafa war nur bei anderen Mädchen ... Dann hat er einen auf betrunken gemacht mit seinem einundfünfzigsten Bier ... wollte vielleicht Mitleid erregen ..."
"Ich glaube, der ist wirklich betrunken."
"Warum macht Sockenschuß mich nicht blöde an?" fragt Ivo nachdenklich. "Ich bin kleiner als er ... er könnte ..."
"Er traut sich wohl nicht an dich 'ran."
"Ja, das könnte auch sein, weil, ich habe ihm mal gedroht, daß ich mit ihm kurzen Prozeß mache, wenn er es wagt, mich anzugreifen."
"Desolation" von X marks the Pedwalk beginnt. Ich gehe mit Ivo und Timo auf die Tanzfläche. "Desolation" ist ein ruhigeres, melancholisches EBM-Stück. Es gefällt mir sehr.
Als ich wieder vor dem Podest stehe, kommt Rafa und schmiegt sich an mich. Wir verharren in einer langen Umarmung. Der Sockenschuß sieht dies wohl, und er hat wahrscheinlich auch gesehen, daß ich mir kurz vorher ein Taschentuch genommen habe. Er schießt wieder schreiend auf Rafa und mich zu. Er hüpft und tänzelt um uns herum und holt aus zu einem Hieb in meine Richtung. Die Deckung durch den noch immer ungläubig dreinschauenden Rafa ist mir zu schwach. Ich will möglichst schnell möglichst weit fort. Das Podest und die Beine mehrerer Leute verstellen mir die Bahn, und so hechte ich über alles hinweg und falle der Länge nach auf die Seite. Das geschieht keinen Augenblick zu früh. Der Sockenschuß hat mich nur streifen können; ein Schlag ist ihm nicht gelungen. Ich stehe auf, glätte meinen Rock und betrachte mich; es ist alles heil geblieben, sogar die Strumpfhose. Ich stelle mich in die Ecke vor der Treppe, und vor mich stellen sich Ivo, Timo, Rikka, Valeria und Adi. Derek sitzt auf dem Podest am Tisch und schläft. Carl tanzt, ohne etwas mitzubekommen. Talis sitzt bei Derek und sieht nur zu. Steini ist auf der Toilette. Rafa steht vor der Säule neben dem Podest und wird dem Sockenschuß gegenüber recht laut. Ich höre den Sockenschuß krakeelen:
"Immer bohrt die sich in der Nase, um mich nachzumachen! Das ist eine Un-ver-schämtheit!"
"Dann werd' ich mal den Türsteher holen", sagt Ivo.
Der Türsteher kommt rasch, und der Sockenschuß fängt an, ausgedehnt mit ihm zu verhandeln.
"Ich versteh' nicht, warum der mich nicht angreift", meint Ivo.
"Du bist nicht sein Objekt", vermute ich. "Ich glaube eher, daß der den Rafa noch angreift."
Der Sockenschuß wird vom Türsteher hinausbegleitet. An der Säule frage ich Rafa, ob er mir jetzt glaube. Er nickt.
"Wir lernen alle dazu", ermutige ich ihn.
"Der hat nicht alle", bemerkt Rafa.
Der Sockenschuß kommt schon wieder vorbei. Er hat die Erlaubnis erhalten, seine Sachen zu packen, und diese Erlaubnis gedenkt er nun zu mißbrauchen. Ich sehe, wie er sich an Rafa und mich heranpirscht und will mich davonmachen. Rafa hält jedoch meine Hand fest und läßt mich nicht von sich weg. Ich versuche zweimal, mich loszureißen, überraschend, mit einem heftigen Ruck. Es ist nicht zu schaffen. Rafa redet auf den Sockenschuß ein, so lange, bis der sich entfernt. Wegen der lauten Musik sind die Worte nicht zu verstehen.
Ich frage mich, wie es Rafa gelingt, den lockeren Griff, mit dem er meine Hand hält, immer genau dann in den Griff einer Schraubzwinge zu verwandeln, wenn ich mich losreißen will - und wie er es genau gleichzeitig noch schafft, sich auf ein hitziges Gespräch mit dem Sockenschuß zu konzentrieren.
"Daß Rafa kein Mensch ist, glaube ich nicht", denke ich, "aber daß er kein gewöhnlicher Mensch ist, da bin ich mir sicher!"
Der Sockenschuß läuft auf die Galerie und verhandelt mit den DJ's. Ivo holt wieder den Türsteher und bittet ihn nochmals, beim Sockenschuß nach Waffen zu suchen. Der Türsteher bringt den widerstrebenden Sockenschuß nach draußen.
Rafa greift nach meiner Hand und führt mich zur Bar. Er will mir Orangensaft ausgeben. Es gelingt ihm erst nach mehreren Anläufen, die Bestellung richtig auszusprechen:
"Einmal O-Saft und einmal Bier mit Cola."
Ich hasche nach seiner Geldbörse. Rafa sieht mich fragend an.
"Da ist dein Perso drin, und darauf steht dein Alter", erkläre ich.
"Ja", sagt er und steckt das Portemonnaie ein.
"Wie alt bist du?"
"Das weiß ich nicht."
"Dein Gesicht erzählt etwas, aber nicht der Ausdruck, sondern die Züge allein", sage ich. "Was ist an dir echt und was falsch?"
Statt einer Antwort bekomme ich nur seltsame Blicke. Rafa wirkt ausgelassen und überdreht. Er lacht oft. Er lacht, als ich ihn am Kragen ziehe, und er lacht auch zwischendurch - scheinbar ohne Grund. Ich höre in dieser Nacht sein Lachen zum ersten Mal. Etwas Eigenartiges fällt mir auf: ein Zucken in seinem Gesicht - es scheint, als stünde er unter einer besonderen inneren Anspannung.
Ein Mädchen kommt und spricht mit Rafa. Es ist Sanna. Sie ist groß, etwas füllig und hat dichtes, langes Blondhaar. Ihr hübsches Gesicht ist geschminkt; sie trägt schwarzen Lippenstift. Man sieht sie in kaum etwas anderem als in wallenden Gewändern, die bis auf den Boden reichen.
"Ich kann verstehen, wie dir zumute ist", sagt Sanna zu mir.
Rafa und ich stehen noch an der Bar, da taucht der Sockenschuß schon wieder auf, zwei Polizeibeamte im Gefolge. Ich weiß nicht, wie er die dazu gebracht hat, mit ihm zu kommen. Der bedauernswerte Türsteher muß nun gleich drei Leute abwimmeln.
Rafa geht in den Vorraum. Angeblich hat er etwas Wichtiges zu besprechen. Er bleibt längere Zeit verschwunden. Als ich tanze, erscheint er wieder neben der Säule. Er wartet, bis das Stück zuende ist. Ich gehe zu ihm. Wir tauschen Blicke aus. Ich möchte wissen, was sein Mienenspiel zu bedeuten hat.
"Wir unterhalten uns gerade ohne Worte", sagt er.
Ich tanze noch einige Male. Mir fällt auf, daß keines von Rafas Stücken gespielt wird, obwohl er Kassetten dabei hat und auch schon öfters auf der Galerie war, um mit Xentrix zu sprechen. Das "Elizium" ist mittlerweile fast leer. Die meisten von meinen Leuten verabschieden sich, auch Ivo und Timo. Rafa ist zu der zweiten Säule gegangen, die sich in der Nähe der Bar befindet.
"Kann ich heute bei dir schlafen?" fragt er mich. "Ich weiß nämlich noch nicht, ob ich Lust habe, nach Hause zu fahren."
Ich bin etwas verschreckt, weil ich daran denken muß, daß Constri in meinem Zimmer haust; ich habe es noch nicht geschafft, sie anderswo unterzubringen. Zögernd antworte ich:
"Wenn's nur das ist!"
"Was heißt: nur das?"
"Das ist eine von den Neun Fragen", erkläre ich. "Du mußt wissen, was du tun willst. Du mußt dich nur vor dir selbst rechtfertigen, nicht vor anderen."
Rafa scheint es zu befremden, daß ich ihm die Verantwortung für sein Handeln übertrage.
Gegen halb fünf kommt er auf mich zu und will sich von mir verabschieden.
"Ich fahre doch lieber nicht mit zu dir", meint er. "Das wäre zu gefährlich für dich."
Er zieht mich an sich und fragt:
"Und du bist sicher, daß ich am 09. April kommen soll?"
"Ja. Warum nicht?"
"Du - ich komme wirklich", warnt er.
"Ja", sage ich. "Kommst du denn am Samstag ins 'Elizium'?"
"Das weiß ich nicht."
"So, du weißt es nicht", sage ich nachdenklich. "Ich hab' es: du willst nicht ins 'Elizium."
"Bist du am Samstag da?"
"Ich bin am Samstag da."
"Dann bin ich auch da."
Wir stehen neben der Tanzfläche, nicht weit vom Podest. Xentrix nähert sich und will Rafa beiseitenehmen.
"Entschuldigung ... ich wollte nicht stören ...", sagt Xentrix.
"Nein, ist schon gut", beschwichtigt Rafa. "Was ist?"
"Kann ich dich für einen Augenblick allein sprechen?"
Rafa geht sofort mit Xentrix hinaus. Kurz danach kommt Rafa zurück und nimmt meine Hand. Er drückt sie fest. Ich drücke ebenso fest zu. Er fällt mir in die Arme, zieht seine Fingernägel über meinen Rücken und beißt mich in den Hals. Er umklammert mich wild, so wild, als könne er es danach nie mehr tun. Er hebt mein Kinn hoch. Ich blicke zu Boden. Ich kann ihn nicht ansehen, wenn er mein Kinn hält. Rafa hebt mein Kinn mehrmals hoch, und es gelingt mir einfach nicht, seinem Blick standzuhalten, so sehr ich mich auch bemühe. Zwischen den Umarmungen sagt er immer wieder:
"Tschüß."
Er drückt meine Hand zum Abschied, und ich drücke seine. Das erregt ihn so, daß er in einer weiteren Umarmung versinkt. Er versucht ungefähr zehnmal erfolglos, sich von mir zu verabschieden. Ich hänge an seinen Schultern. Das Stück "Desolation" wird wiederholt. Ich fühle mich getrieben, danach zu tanzen.
"Es ist Unsinn, jetzt zu tanzen", denke ich. "Zu 'Desolation' kann ich noch oft tanzen. Daß ich aber von einem Mann leidenschaftlich umarmt werde, den ich begehre, das hat es bisher nicht gegeben, und vielleicht wird es das auch nie mehr geben."
Rafa leckt meinen Hals ab und küßt mein Gesicht. Nach wie vor küßt er mich nicht auf den Mund. Er scheint starke Hemmungen davor zu haben. Seine Gier nach meinem Körper ist offensichtlich; dennoch vermeidet er dieses Eine.
Wir umklammern und umklammern uns.
"Ich fall' gleich um", sagt Rafa atemlos.
"Warum?" frage ich betont nüchtern.
"Warte ...", droht er. "Warte ... du wirst schon sehen ..."
Er stürzt sich regelrecht auf mich. Er beißt besonders fest zu, so fest, wie er zu beißen wagt.
"Und?" frage ich.
"Immer noch nicht begriffen!" entrüstet er sich. "Geht's dir gut?"
"Ich habe Bailey's getrunken."
Insgesamt dauert es etwa eine Viertelstunde, ehe er sich von mir losreißen kann.
Ich sehe ihn noch einmal im Hof, als ich heimgehe. Er kauert vor einer offenen Autotür, eine Musikzeitschrift in der Hand. Dolf sitzt auf der Rückbank.
"Bye!" rufe ich. "Dürft ihr hier überhaupt parken?"
Statt einer Antwort liest Rafa laut aus der Zeitschrift vor:
"... sechs Personen ..."
Er sieht nicht einmal auf.
Als wir im Taxi an dem Torweg zum "Elizium" vorbeifahren, läuft Rafa gerade hindurch. Er scheint ziemlich weit neben sich zu stehen.



Am Montag fuhren Ivo und ich zu dem Konzert von Test Department nach BS. Wir waren noch nicht auf dem Schnellweg, da fragte Ivo mich schon:
"Wie ist es denn im 'Elizium' weitergegangen, als ich weg war?"
Ich erzählte von der Abschiedsszene:
"Eine Viertelstunde hat es gedauert, ehe Rafa sich losreißen konnte.
'Ich fall' gleich um', hat er zu mir gesagt."
Wir unterhielten uns darüber, ob Rafa wohl gemerkt habe, wie ich über ihn herzog.
"Der war sehr breit", sagte Ivo.
"Der kann breit sein, und doch ist immer bei dem ein Lichtlein an", meinte ich. "Der hat ein empfindliches Sensorium. Der merkt viel, auch wenn ihm das vielleicht nicht immer bewußt wird. Immer liegt der auf der Lauer."
Ivo verfuhr sich häufig. Unser Gespräch nahm ihn wohl sehr gefangen.
"Rafa Dawyne ...", seufzte er. "Ich sollte an mich denken und denke immer an ihn."
"Im Grunde kann der dir so egal sein."
"Das kann er! Aber er ist es nicht ... dauernd muß ich an ihn denken ... sogar am Wochenende mußte ich an ihn denken; das ist unerhört. Seit Samstag läßt der mich nicht mehr los ... Es ist mir immer noch unbegreiflich, wie du mit Rafa ... das will mir nicht in den Kopf. Du bist doch so nüchtern und überlegt."
Ivo findet, daß Rafa einer der extremsten Menschen ist, die er kennt. Ich beschrieb ihm meine unerklärliche Doppelsinnigkeit und sagte ihm auch, daß Rafa und ich uns beide nicht so recht der Menschheit zugehörig fühlen.
"Anders sein, ja ... aber Mensch ist man doch", meinte Ivo.
"Trauerst du deiner Freundschaft mit Rafa eigentlich nach?"
"Oh, nein."
"Was glaubst du - wie kam es, daß Luisa sich am Ende doch noch von Rafa gelöst hat?"
"Ihr sind halt irgendwann die Augen geöffnet worden dafür, daß Rafa sie von vorne bis hinten nur ausgenutzt hat. Er hat sie hin- und hergeschoben wie eine Schachfigur."
"Vielleicht hat sie ihr Äußeres deshalb verändert, weil sie sich von Rafa entfernen wollte", vermutete ich.
Ivo teilt diese Vermutung.
"Immer lief sie so herum, wie er es wollte", erzählte er. "Ich hatte bald kein Mitleid mehr mit ihr, wenn sie zu mir kam, um sich auszuheulen. Immer wieder fiel sie auf Rafa herein. Immer wieder tat er reuig:
'Ich tu's auch bestimmt nie wieder.'
Ich sage dir ... du wirst Nummer 239. Alle, bei denen Rafa ans Ziel kam, wurden anschließend für ihn völlig uninteressant."
"Der wird bindungsunfähig sein."
Auf der Autobahn unterhalten wir uns über Rafas mangelnde Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit.
"Rafa kann ich überhaupt nichts glauben", erzähle ich. "Immer muß die Zeit zeigen, ob das, was er sagt, wahr ist. Wer lügt, widerspricht sich selber, weil er die Tatsachen im Lauf der Zeit immer wieder anders verdreht - er vergißt nämlich in der Regel, wie er sie anfänglich verdreht hat. Wenn ich mir das aber merke, kann ich feststellen, ob er gelogen hat oder nicht. Rafa ringt um Glaubwürdigkeit, aber er hat sie nicht. Er lügt grundsätzlich. Mir wird es sicher bald über werden, nach der Wahrheit zu forschen in allem, was er sagt. Insgesamt wird er mir vermutlich bald zum Hals heraushängen, wie alle, die nicht mich meinen, sondern nur ihre Masche durchziehen. Wer nicht an mir wächst ... Man sollte aneinander wachsen, sich aneinander weiterentwickeln. Wenn mir einer immer auf die gleiche Tour kommt, geht er auf mich nicht ein und wird mir langweilig."
Auch Ivo weiß schon, daß Rafa und Dolf nicht wie geplant mit einem gemieteten Bus zu ihrem Auftritt im "Volvox" gefahren sind.
"Der hat sich doch tatsächlich eingebildet, mit einem Bus nach BF. fahren zu können", sagt Ivo voller Schadenfreude. "Tja, wurde nichts draus ..."
"Die Musik von Rafa ist nicht ohne Reiz."
"Das finde ich ja auch", lenkt Ivo ein. "Ich will jetzt nicht herumlästern."
Ivo ist der Ansicht, daß Dolf eine Art Berufslakai von Rafa ist, der nichts will, als den Dienerpart zu übernehmen. Wertet man Dolf nicht als Freund, sondern als Bediensteten - wieviele Freunde hat Rafa dann überhaupt?
Ivo erzählt, in der ehemaligen DDR würden Soldaten illegalMaschinengewehre für achthundert Mark das Stück verkaufen. In diesem Augenblick kommen wir beide gleichzeitig auf den Gedanken, daß sich Sockenschuß ohne Weiteres illegal eine Waffe besorgen könnte, allerdings wohl zu ungeschickt ist, sie zu gebrauchen.
"Das ist ein Messerstecher", sagt Ivo.
"Mein Vater hat mich schon gefragt, ob er den noch vermöbeln muß", erzähle ich. "Ich habe abgelehnt - ich will meinen Vater noch etwas behalten."
Ivo meint, er habe sich immer gefragt, wo ich meine Kondition hernähme. Ich erkläre ihm das mit meinen häufigen Besuchen im "Trauma".
"Constri will nicht, daß ich da allein hingehe, weil sie Angst hat, daß der Sockenschuß da auftaucht", setze ich hinzu. "Sie meinte, ich solle halt sehen, daß ich Leute mitnehme. Aber die Leute müssen ja auch mitwollen. Und wenn ich aufs 'Trauma' verzichte, nur weil ich da allein hingehen müßte, könnte ich mich gleich in den Sarg legen."
"Ich komm' mit", verspricht Ivo.
Das Konzert reicht in keiner Weise an das heran, was Test Dept. 1990 geboten haben, als sie in M. auftraten. Damals fügten sie Rhythmus, Gesang, Bewegung, Bühnenbild und Film zu einer überwältigenden Performance zusammen. Ihre Musik war vorwiegend atonal und vermischt mit Folk-Elementen. Sie ließen schwere Hämmer im Stakkato auf eine Stahlkiste niedersausen, auf der Stahlfedern tanzten. Sie schlugen auf eine Gasflasche und ein Xylophon aus Baumstämmen ein und spielten Cello und Dudelsack. Sie verwendeten auch altertümliche Instrumente, und ein Stück sangen sie sogar a capella. Heute machen sie nur noch belanglosen, gefälligen Techno.
Ich freue mich sehr darüber, daß ich heute endlich die Test Dept.-Anstecknadel kaufen kann, für die ich bei dem Konzert 1990 nicht mehr genügend Geld hatte. Ich kaufe auch eine Kette mit dem Test Dept.-Motiv von 1990 in Plastik.
"Ich kann mir vorstellen, weshalb Rafa von Frau zu Frau hechelt", erzähle ich Ivo auf der Rückfahrt. "Sein Selbstwertgefühl ist unterentwickelt. Er will es heben, indem er andere Menschen vereinnahmt, denen er mehr Wert zuspricht, weil er alle für wertvoller hält als sich selber. Er frißt die Menschen, er konsumiert sie, und diese Scheinbefriedigung hält an, bis die Menschen ein Teil von ihm geworden sind. Ein Teil von ihm kann aber nach seiner Sichtweise nicht wertvoll sein, weil er selber wertlos ist, und so stößt er die Vereinnahmten von sich und mit diesen sich selbst. Es ist eine häufige Störung; sie tritt bei vielen Menschen auf, nur ist sie bei Rafa außergewöhnlich verpackt. Ich will ihn fragen, ob er sich selbst leiden kann."
"Das ist eine harte Frage."
"Ich stelle ihm lauter solche Fragen. Ich nenne das Kind beim Namen. Ich habe ihn nach Schattenseiten gefragt. Ich habe zu ihm gesagt, er inszeniere sein Leben wie ein Theaterstück, und er bestehe zu neunzig Prozent aus Fassade. Er stimmte beidem zu. Es macht mir Vergnügen, Masken zu zerbröckeln und Menschen zu entlarven, und Rafa hilft sogar mit, wenn ich ihn demaskiere."
Ob die Fassade für ihn eine Last ist?
"Seltsamerweise hat Rafa mir nie sagen wollen, weshalb er mich damals angesprochen hat", fahre ich fort.
"T-hehe, das ist doch ganz klar", meint Ivo. "Dich hat er noch nicht ausprobiert. Du bist jetzt dran, und nach dir ist die Nächste dran."
Ivo ist erstaunt, als ich ihm mitteile, daß Rafa das Rivalentum zwischen sich und ihm ableugnet.
"Merkt er es nicht, oder will er es nicht merken?" fragt er.
"Er verdrängt es wohl", nehme ich an. "Er hat den Kopf auf die Seite fallen lassen, um seine Betrunkenheit zu zeigen."
"Du wußtest das mit BO., wolltest es aber von ihm hören, und er wollte es partout nicht erzählen."
"Wir haben ihn gut aufgezogen."
"Das war ihm wohl irgendwann zuviel, da ist er aufgestanden."
"Vielleicht wollte er sich nur Bier holen."
"Ob es ihm zu schaffen gemacht hat?"
"Ich habe ihm harte Sachen gesagt, und er hat nur genickt."
"Dem war vielleicht alles egal", überlegt Ivo. "Den hättest du vielleicht vors Schienbein treten können, und es wäre ihm egal gewesen."
"Es ist ihm ja auch egal, wenn er andere vors Schienbein tritt. Verantwortung ist immer allumfassend. Nur wer für sich etwas tun kann, kann für andere etwas tun. Nur wer sich an sich gebunden fühlt, kann sich an andere gebunden fühlen. Das hängt immer zusammen. Der bindungsunfähige Henk hat sich selbst vernachlässigt und alles um ihn herum auch. Das Einzige, was er gepflegt hat, war seine Fassade, sein Äußeres. Hast du gesehen, wie Rafa seine CD's behandelt?"
"Dem möcht' ich keine leihen."
"Bei Henk war die folgerichtige Entscheidung der Selbstmord. Er hat es ja auch zweimal versucht. Ich frage mich, wo Rafa sich hinentwickelt. Ich denke da an ein Ehepaar in GÖ., wo ich die Frau mal gepflegt habe. Beide sind gegen achtzig. Er ist Professor. Sein Leben lang hat er seine Frau betrogen, und er tut es noch heute und fühlt sich wohl dabei."
"In dem Alter noch ...?" fragt Ivo ungläubig. "Finden sich da überhaupt noch Frauen, die ..."
"Sex geht bis zum Tod. Bei der goldenen Hochzeit ist die Frau gefragt worden, ob sie bisweilen an Scheidung gedacht habe.
'Nein, aber an Gattenmord.'
Der Mann hat unter seinem Lebenswandel nicht gelitten. Alles hängt davon ab, ob Rafa sich bei seinem Lebenswandel wohlfühlt. Wenn kein Leidensdruck da ist, wird er sich nie ändern."
"Rafa hat schon ziemliche Tiefpunkte", meint Ivo. "Er trinkt ja nicht häufig ..."
"Ich habe ihn oft betrunken erlebt."
"Ja, Samstag war er ziemlich angetrunken."
"Ich finde es beeindruckend, wie leicht er sich in mancher Hinsicht verbiegen läßt. Ich mußte ihm nur erzählen, daß ich Gespräche über Musik und Kleider recht aufschlußreich finde, die wirklich gewinnbringenden Gespräche aber tiefgehend und ernst sind und meinem engsten Kreis vorbehalten. Im nächsten Satz legte er los. Er erzählte von seinen Alpträumen und in allen Einzelheiten von dem Tod seines Vaters."
"Ach ..."
"Ich konnte ihn biegen wie eine Drahtpuppe, die die Haltung ändert, ohne die Grundform zu verlieren."
Ich kann mir vorstellen, daß Rafa mich entweder unterwerfen oder sich von mir unterwerfen lassen will. Zu einer Beziehung, in der die Beteiligten gleichgestellt sind, wird er kaum in der Lage sein.
Vielleicht denkt Rafa, ich würde mich so übel verhalten wie er und ihn zurückstoßen, wenn er mir offenbart, wie tief seine Empfindungen für mich sind. Vielleicht sehnt er sich nach Verläßlichkeit und Beständigkeit. Vielleicht sehnt er sich nach Grenzen. Vielleicht will er herausfordern, daß ihm jemand die Maske herunterreißt. Vielleicht will er das bekommen, was er verdient. Vielleicht sündigt er absichtlich, um vor sich selber zu rechtfertigen, daß er sich für wertlos hält. Vielleicht bemüht er sich nicht um Freunde, weil er der Ansicht ist, keine verdient zu haben. Inzwischen hat er auch keine mehr verdient. Der "schlechte Rafa" ist wirklich schlecht.
Nur ganz selten soll Luisa noch ins "Elizium" kommen. Ich habe zwar Bilder von ihr gesehen; erkennen würde ich sie jedoch nicht mehr. Ich kann mich an sie nur wegen der Nonnentracht erinnern, die Rafa ihr verpaßt hat. Carl beschreibt Luisa als hübsch, aber auch als unsicher und ein wenig farblos. Sie soll Rafa verehrt haben, hatte ihm jedoch nicht viel entgegenzusetzen. Eine solche Beziehung hat kein festes Fundament.
Am Donnerstag fuhr ich mit Ivo zu dem Konzert von X marks the Pedwalk ins 'Read only Memory'. Till empfing mich an der Bar mit den Worten:
"Das sind ja schöne Sachen, die ich über dich gehört habe!"
"Wir haben geflirtet. Und?" entgegnete ich unschuldig.
"Flirt!" rief der frauenerfahrene Till. "Das war ja wohl mehr der wildeste Sex."
"Ich habe doch gar nicht mit ihm geschlafen."
"Das braucht doch auch gar nicht zu sein. Du ... du weißt doch, was über ihn erzählt wird?"
"Er hat einen denkbar schlechten Ruf."
"Du ... es gibt auch noch andere Jungen ..."
Till kuschelte sich an mich.
"Wenn ich mit allen etwas anfinge, die auf mich scharf sind, müßte ich Buch führen", sagte ich.
"Tu's doch", empfahl Till. "Du bist jung ... laß' uns das doch mal bei einer Tasse Kaffee näher besprechen ..."
Als Cyber neben mir einen wilden Pogo tanzte, erwischte er mich recht unsanft in seiner blinden Hektik. Ich zog ihm eins über, packte ich ihn am Kragen und fragte streng:
"Du - was fällt dir ein?"
Es baut mich auf, mit vielen Jungen zu tun zu haben und mich von ihnen verehren zu lassen. Aber dadurch läßt sich Rafa in keiner Weise ersetzen, und mir kommt die bange Frage, ob Rafa mir das wohl glauben wird. Er scheint sehr eifersüchtig und mißtrauisch zu sein.
Am Freitagnachmittag sah ich in einem Traum fern:

Eine Filmvorschau wurde dauernd wiederholt. Man streute sie zwischen Reklamespots. Der Film, der angekündigt wurde, handelte von Kaiserin Sissi. Immer wieder sah ich sie in Staatsrobe aus einem Spalier heraustreten und sich rituell vor einem Altar verneigen. Im gleißenden Sonnenlicht waren dort die Schwerter besiegter Feinde aufgetürmt, von roten Rosen umgeben.
Sissis Heer hatte eine Schlacht gewonnen, und sie zollte den Besiegten Ehre. Was aber gab ihr der Sieg außer dem Gefühl der Macht? Sissi stand über ihrem Volk und über den von ihr Unterworfenen. Sie war unerreichbar und einsam.

Mir fällt ein, daß ich ein tiefrotes Kleid habe, auf das Rosen gedruckt sind. Ich hatte es an meinem Geburtstag an. Es ist so ähnlich geschnitten wie die Filmkleider der Kaiserin Sissi; es ist nur kürzer. Ich trug meine schwarzen Handschuhe dazu und einen Petticoat. Folter hat diese Tracht auch schon als "Sissi-Klamotten" bezeichnet.
Gibt es einen Sieg über Rafa? Was besiege ich in ihm, und wer hat worüber die Macht?
Am Freitagabend nahm Ivo mich mit zu einer Industrial-Performance des Musikers Ytong. Wir ließen uns in einem schlecht geheizten Kellerraum auf sperrmüllreifen Sesseln nieder. Ytong erzeugte ineinander verlaufende Klänge mit selbstgebauten Instrumenten aus Stahl.
"Auf gewisse Leute kann ich endlich verzichten", hetzte Ivo, den Namen seines Erzfeindes sorgsam vermeidend. "Diese Leute sind Ballast. Eine Zeitlang sind sie nützlich, dann aber nur noch zum Abwerfen da - wie Sandsäcke."
"Der Vergleich mit den Sandsäcken ist nicht übel", entgegnete ich kichernd, "zumal gewisse Herren tatsächlich ein paar Kilo zuviel haben."
"Manchmal kommen mir solche Eingebungen", sagte Ivo geschmeichelt.
Im zweiten Schritt wollte er mir das "Elizium" ausreden.
"Sehen und sich sehen lassen ist doch alles, was da abgeht", fand er.
"Nicht alles", erwiderte ich. "Gehen und mich gehen lassen, das ist es, was ich da will. Wer was sieht, ist mir gleich, und zum Tanzen gehe ich da eh nicht hin ... erzähl' bloß nicht den andern, daß da morgen auch der DJ Kit auflegt, sonst bleiben die zu Hause und lassen mich im Stich."
Nach der Performance gingen wir ins "Trauma". Dort gefiel es Ivo; es war ihm jedoch nicht voll genug. Ich hingegen freute mich darüber, auf der Tanzfläche Platz zu haben. "Star Dancer" von Red Planet lief wieder, ein Stück mit einem harten, geschliffenen Rhythmus, der einen über die Tanzfläche schleudert.
Schritt und Schritt und Schritt ...
Manchmal bin ich wirklich versucht, zu glauben, ich sei aus Stahl.
"Du läßt dich beim Tanzen immer so voll gehen", sagte ein Junge im Spitzenhemd zu mir. "Das kommt so geil."







.

Am Samstag begegnete mir im "Elizium" zuerst nur Dolf, der mich begrüßte. Dolf hatte sich feingemacht. Er war ganz in Scharlachrot gekleidet wie ein Lakai, und ich hatte auch das Gefühl, mit einem Diener von Rafa zu sprechen. Ich fragte ihn nach Rafa, und er meinte:
"Der muß auch irgendwo 'rumschwirren."
"Ich finde ihn nicht."
"Der hat hohe Haare. Den findest du."
"Hohe Haare? Ich sehe ihn nicht und erkenne ihn nicht."
"Da vorne ... da an dem Tisch ..."
"Wo?"
"Ach, jetzt ist er weg ..."
"Kannst du ihn für mich suchen?" bat ich. "Ich sage, er fällt mir nicht auf. Er ist mir auch früher nie aufgefallen."
"Komisch. Rafa ist normalerweise dafür bekannt, daß er auffällt."
Widerwillig ging Dolf los und suchte ihn. Ich tanzte. Als gerade ein Lied zuende war, griff eine vertraute Hand nach meinem Rücken. Ich drehte mich um, und da stand Rafa und lächelte. Er hatte sich kunstvoll bis zum Geht-nicht-mehr aufgeputzt. Die Kajalstriche waren besonders lang ausgezogen, die Haut gepudert, die Lippen zierlich in einem dunklen Grauton geschminkt. Rafa hatte einen ärmellosen Überwurf aus schwarzem Samt an, der mit Borten gesäumt war. Darunter trug er ein weißleinenes Totenhemd und weiße Strümpfe. Die Füße steckten in Schnallenschuhen, die vorne spitz zuliefen. Eine Kette war mit zwei ovalen Haltern an die Brust geheftet. Den Stehkragen des Hemdes schmückte eine silberne Brosche, die, welche Rafa auch am vergangenen Samstag getragen hat. Die dunklen Haare standen steil nach oben, bis auf mehrere dunkle Strähnen, die das Gesicht fast zudeckten.
Rafa umarmte mich wortlos, und ich lehnte mich mit geschlossenen Augen an ihn. Er drückte mich, doch es war kein Vergleich zu den Umklammerungen vor einer Woche. Er löste sich rasch wieder von mir, und ich fragte ihn, wo er gewesen sei.
Er sei eben aus dem "Nachtbarhaus" gekommen.
"Schick hast du dich gemacht", bewunderte ich sein Kostüm.
Rafa drehte sich vor mir und zeigte mir die Stickerei auf dem Rückenteil des Überwurfs: ein Α und ein Ω.
"Oh! Alpha est et omega!" war ich begeistert. "Wo hast du das denn her?"
"Aus einem Antiquitätenladen."
"Das Hemd ist aus echtem Leinen, nicht?"
"Das ist ein Totenhemd von irgendeinem Urahn von mir."
Rafas Augen blicken wie immer bedeutungsschwer. Ich hebe die Strähnen in die Höhe, um sie beide sehen zu können. Auf Rafas Wange finde ich eine Zeichnung.
"Was hast du denn da gemalt?"
"Das ist das Symbol des Saturn und von Feindsender", erklärt Rafa.
Er macht unter dem Namen "Feindsender" Musik.
"Ist Saturn dein Planet?" frage ich.
"Ja."
"Meiner ist Uranus."
Da ist man ja wieder Welten voneinander entfernt ...
Es ist anzunehmen, daß die Pracht und Herrlichkeit, in der Rafa erschienen ist, bei einer leidenschaftlichen Begegnung mit mir schnell dahin gewesen wäre. Schon die Zeichnung auf der Wange wäre bald verwischt, wenn wir uns aneinanderschmiegen würden. Bremst sich Rafa um seiner Schönheit willen so sehr? Oder wollte er sich bremsen und hat sich deshalb so hübsch zurechtgemacht? Eine dünne Schicht Schminke und zwei Lagen feiner Stoff können bereits ein Panzer sein.
"Und? Wie war deine Woche?" erkundige ich mich.
"Schlecht."
"Warum?"
"Wenn dauernd Jochens anrufen ..."
Jochen Hockerfuß, der Sockenschuß, versucht augenscheinlich, Rafa auf seine Seite zu ziehen.
"Was, der hat dich auch belästigt?" frage ich erstaunt. "Mich auch. Sonntag hat er angerufen. Ich habe sofort den Hörer aufgeknallt und für eine halbe Stunde den Stecker 'rausgezogen. Hast du ihn ausreden lassen?"
"Ja."
"Was hat der denn so erzählt?"
"Oh, viel. Ist es wahr, daß du mit Schuhen wirfst?"
"Nein."
Mir kommen doch wieder Zweifel daran, daß Rafa erkannt hat, von welchem Zuschnitt der Sockenschuß ist.
"Weshalb hast du ihn denn ausreden lassen?" forsche ich.
Rafa gibt keine Antwort.
"Jetzt ist er schon aus dem 'Elizium' entfernt worden, und Rafa glaubt immer noch nicht, daß ..." bemerke ich mit einem Seufzen.
Rafa geht in eine andere Ecke und unterhält sich mit verschiedenen Leuten.
Adi hat beobachtet, wie ich mich an Rafa gelehnt habe.
"Verliebt bist du", stellt er fest.
Ich schüttele den Kopf.
"Doch, das seh' ich", meint Adi.
"Das hält nicht lang", sage ich bestimmt.
Für Adi - und nicht nur für ihn - ist es ungewöhnlich, mich in Leidenschaften verstrickt zu sehen.
"Was will die? Was sucht die? Wartet die auf den Märchenprinzen, oder was?" hatte Adi im letzten Winter seinen Freund, den Steinsetzer, gefragt.
Nun ist Adi ihm begegnet, dem Mann, den ich will.
Nach längerer Zeit stellt sich Rafa wieder zu mir in die Ecke zwischen Fenster und Podest.
"Hast du schon mal eine rosa Brille aufgehabt?" fragt er mich.
"Nein."
Er setzt mir eine auf.
"Rosa ... blau ... grün ... mit jeder Farbe kommt man in eine andere Stimmung", meint er.
"Das ist richtig ... Meinst du, man sollte eine rosa Brille aufsetzen?" frage ich und gebe ihm seine Brille zurück.
"Ja", erwidert er.
"Warum?"
"Warum nicht?"
"Ich finde, daß eine rosa Brille etwas Gefährliches ist."
"Warum?"
"Weil man die Abgründe nicht sieht, an denen man entlangläuft."
"Solange man nur dran langläuft, können da ja ruhig Abgründe sein", findet Rafa.
"Ich sehe nur alles tintenschwarz", erzähle ich. "Ich sehe nur die Abgründe und den Rest nicht."
Rafa steht da wie aus Marmor gehauen. Er sucht nicht meine Nähe. Er scheint unser Verhältnis tatsächlich auskühlen zu wollen. Ich erkenne, daß ich es gar nicht verhindern kann, Rafas Nähe zu suchen. Während ich mit ihm spreche, ziehe ich an seinem samtenen Überwurf herum und vergesse meine Hände auf seinen Schultern.
"Wann setzt du deine rosa Brille auf?" möchte ich wissen.
"Wenn es mir gut geht."
Das Scheinwerferlicht fällt auf Rafas Augen.
"Grün sind sie", bemerke ich.
"Was?"
"Deine Augen."
"Nein."
"Welche Farbe haben sie denn?"
"Grau."
"Rate mal meine Augenfarbe."
"Die sind manchmal blau und manchmal grün."
"Sie sind blau."
Rafa hat also graue Augen. Es ist schade, daß ich sie nie bei Tag sehen konnte - immer nur in dem trüben Licht farbiger Scheinwerfer, abgeblendeter Lampen und Straßenlaternen.
"Was ich unbedingt mal fragen wollte - kannst du eigentlich dich selbst leiden, oder magst du dich nicht?" wage ich den Vorstoß.
"In dieser Hinsicht bin ich schizophren", antwortet Rafa ohne Zögern. "Ich meine - ich hoffe, du verstehst - nicht die Krankheit, sondern die Tatsache, daß ich in dieser Beziehung gespalten bin. Einen Teil von mir mag ich und einen Teil nicht."
"Genauso ist es bei mir! Ich nehme mich an und lehne mich ab. Das heißt ... es ist nicht ganz so bei mir. Es ist nicht so, daß ich einen Teil von mir annehme und einen Teil ablehne, sondern ich nehme mich im Ganzen an und lehne mich gleichzeitig ab."
"Dann sind das bei dir drei Personen", meint Rafa. "Die eine nimmt dich an, und die andere lehnt dich ab."
"Dann sind das bei dir auch drei Personen. Die eine wird von dir abgelehnt und die andere angenommen."
"Es sind nur zwei, denn ich bin beide Personen."
"Dann sind das bei mir auch nur zwei."
"Nein, drei."
"Du hast davon erzählt, du und Ivo, ihr wärt früher öfters in BO. gewesen, wolltest aber nicht sagen, was ihr dort gemacht habt. Was habt ihr denn nun auf den Touren gemacht?"
"Was für Touren?" mimt Rafa den Ahnungslosen.
"Weshalb schweigst du eigentlich über so vieles?"
"Schweigen ist der beste Schutz."
"Wovor willst du dich denn schützen?"
Das will er nicht sagen.
"Was hat dein Blick diesmal zu bedeuten?" frage ich.
"Den habe ich, wenn ich besoffen bin."
"Und was hat dein Lächeln diesmal zu bedeuten?"
"Darauf antworte ich nicht."
"Weshalb nicht?"
"Damit ich nicht lügen muß."
"Lügst du oft?"
"Ganz selten", erwidert Rafa. "Ich sage lieber gar nichts. Ich mag den Teil in mir nicht, der immer über mich redet."
"Gerade der ist es, der mir an dir gefällt."
"Nur der?"
"Hauptsächlich der."
"Nur der?"
"Vorwiegend der."
Rafa stellt sich neben einen runden Tisch. Ich vermute, er will den Abstand zu mir noch etwas vergrößern. Seine Jacke mit den Metallknöpfen trägt er ordentlich gefaltet über dem Arm. Er steht bewegungslos da und guckt so unschuldig wie eine Puppe. Mir fällt auf, daß er aus Versehen seinen Überwurf hochgerafft hat, als er sich die Jacke über den Arm legte. Ich kann nun den Saum seines Hemdes sehen. Die weißbestrumpften Beine schauen darunter hervor. Rafa hat seine Beine so eng nebeneinandergestellt, daß es aussieht, als seien sie zusammengewachsen. Ich betrachte das Bild, das sich mir bietet, und ich finde es so rührend, so goldig, daß in mir ganz weiche Gefühle hochkommen. Leider kann ich ihnen nicht nachgeben ...
Ich zupfe Rafa an seinem Überwurf, und er macht große Augen, als er feststellt, was ich alles sehen kann. Eilig läßt er den Überwurf wieder herunter.
"Wie geht es?" frage ich.
"Gut!" antwortet Rafa. "Seit heute gut. Wie geht es dir?"
"Nicht gut."
"Weshalb nicht?"
"Sieh her ...", fordere ich ihn auf und lege einen Finger auf den Mund.
"Siehst du, ich kann das auch", sage ich.
"Du sollst mich nicht mit meinen Waffen schlagen", beschwert sich Rafa.
"Das tue ich immer, denn es sind die Waffen, die ich auch von mir aus verwende", entgegne ich. "Wir können uns ja mal prügeln ..."
"Ich schlage niemanden."
"Du hattest erzählt, die Grabsteine in deinem Zimmer stammen von eingeebneten Gräbern."
"Also: Beim Friedhof ist ein Schutthaufen, da liegen die Grabsteine von den Gräbern, die eingeebnet worden sind."
"Und von dem Haufen sind die."
"Von dem Haufen sind die."
"Das wollte ich wissen."
"Ich war gestern im 'Trauma'", erzählt Rafa.
"Da waren wir auch."
"Ich war von elf bis zwölf da. Die Musik konnte ich nicht ab."
"Wir waren von halb zwei bis vier da."
"Ich war danach im 'Elizium'."
"Du warst so früh im 'Trauma'."
"Ich habe Kappa ein Tape von mir gegeben, das soll der spielen."
"Ist es Absicht, daß du die Tapes für mich immer vergißt?"
"Nein."
"Aber du hast sie vergessen."
Rafa holt tief Luft.
"Du kriegst alles, Mädchen", beteuert er. "Du kriegst alles, was du willst."
"Woher weißt du denn, was ich will?"
"Einer muß es ja wissen."
Es ist nicht einfach, herausfinden, wieviel Rafa von dem aufnimmt, was ich ihm zu verstehen geben will. Zur Sicherheit frage ich nach:
"Meinst du demnach, über mich etwas zu wissen, das ich nicht weiß?"
"Ja."
"Und hältst du es für möglich, das ich über dich etwas weiß, das du nicht weißt?"
"Ja."
Ich betrachte ihn schweigend. Ich weiß nicht, ob es das letzte Mal ist, daß ich ein solches Gesicht entdecke. Mir fallen darin immer wieder neue Feinheiten auf. Ich hoffe, es ergibt sich die Gelegenheit, Rafa von meinen Beobachtungen zu erzählen. Ich hoffe, es ergibt sich die Gelegenheit, weiter in dem Gesicht zu forschen.
"Bevor du Anfang des Jahres auf mich zugegangen bist, bist du mir nie aufgefallen", erzähle ich.
Rafa entfernt sich wieder. Ich entdecke ihn später neben der linken Box, schräg gegenüber von der Ecke, in der ich mich aufhalte. Er steht allein dort, und ich gestatte mir, zu ihm zu gehen.
"Eine schöne Fassade hast du um dich herumgebaut", stelle ich fest.
"Ja."
"Du hast dich eingemauert. Eingekalkt. Wie ein schöner Grabstein siehst du aus."
Etwas verlegen sagt er:
"Schön ... na ..."
"Findest du es gut, dich mit einer Fassade zu umgeben?"
"Ja."
"Du stehst da, hältst dein Bier mit Cola in der Hand und hast deine rosa Brille auf - was ist daran so Besonderes?"
"Du mußt es machen, nur dann weißt du es."
"Ich meine, wenn von zwei Leuten nur einer offen ist und der andere verschlossen, haut das nicht hin. Das ist einfach Unsinn."
"Meine Verschlossenheit ist nicht immer vorhanden."
"Unter welchen Bedingungen ist sie nicht vorhanden?"
"Das sage ich dir nicht."
"Ich kann nichts mit dir anfangen, wenn du dich so einmauerst", erkläre ich. "Du bist dann wie ein Stück Plastik für mich. Dein Getue wirkt so furchtbar künstlich."
"Damit hätte meine Fassade ... einen Zweck schon erfüllt."
"Wenn du dich mit deiner Fassade so wohlfühlst, müßte ich dir recht gleichgültig sein - ist das richtig?"
"Ich habe nicht gesagt, daß du mir gleichgültig bist."
"Was meinst du eigentlich, was ich für ein Mensch bin?"
"Du bist kein Mensch", behauptet Rafa unbeirrt.
"Was könnte ich dann sein?"
"Ich sage es ja. Kein Mensch."
"Was dann?"
"Kein Mensch. Ich hoffe, du bist kein Mensch."
Ich beschließe, Rafas Selbstwertgefühl zu ergründen.
"Wie wertvoll findest du dich?" frage ich.
"Wertvoller als dich", gibt er zur Antwort.
"Und mich findest du wertlos."
"Wenn ich sage, ich bin für mich wertvoller als du, heißt das nicht, daß du wertlos bist."
Aus Rafas Antworten kann ich keine Rückschlüsse auf sein Selbstwertempfinden ziehen. Er ist mir ausgewichen. Ich beschließe, beim nächsten Anlauf Fangfragen zu stellen.
Kappa spielt ein Lied, das unverkennbar von Rafa stammt. Es kann ganz neu sein; ich meine, die Worte "heute geschrieben" von Rafa gehört zu haben. Ich finde das Stück recht einfallslos; es gehen aber mehrere Leute auf die Tanzfläche. Ich sehe aus einigen Metern Entfernung Rafa zu, wie er tanzt und mitsingt. Er scheint meinen belustigten Gesichtsausdruck wahrzunehmen. Nach kurzer Zeit geht er von der Tanzfläche herunter und stellt sich neben die rechte Box, mir genau gegenüber. Er singt immer noch und sieht mich dabei an. Ich lehne mich an die Säule beim Podest und lache. Da steht er in voller Montur - in Galatracht, könnte man sagen - und wirkt auf mich doch unfertig und ausgezogen. Die rosa Brille, die er seit unserer letzten Unterhaltung nicht mehr abgesetzt hat, macht seinen Aufzug endgültig lächerlich.
Ich frage mich, ob ihn mein Lachen verletzt. Ich frage mich, ob er die Unsicherheit, die ich bei ihm vermute, selbst empfindet. Ich frage mich, ob es ihn stört, daß ich zu seinem Lied nicht tanze.
Zu "Ulysses" von Dead can dance tanze ich. Gelegentlich schaue ich nach Rafa, der mit einigen Leuten spricht. Mit seinen glänzenden Lippen erinnert er wirklich sehr an einen Kunstmenschen.
Rafa geht öfters an mir vorbei und streift mich beinahe - aber nur beinahe. Ich tanze lange, und als ich aufhöre, ist Rafa verschwunden und mit ihm alle anderen Leute aus SHG. Das genau ist es, was ich nicht verarbeiten kann - er ist gegangen, ohne sich zu verabschieden. Das ist ein Abgrund, den eine rosa Brille nicht verbergen kann, weil man nämlich hineinfällt.
Wie kann Rafa von mir Vertrauen erwarten, ohne sich dementsprechend zu verhalten?



Am Sonntag fuhr ich mit Ivo zu einer Ausstellung für Medienkunst, die in HH. stattfand. Auf der Autobahn erzählte Ivo, er hätte Rafa auch schon seinen Wagen fahren lassen.
"Rafa ist ein sehr guter, ruhiger Fahrer", meinte Ivo. "Er fährt allerdings nie schneller als 130. Deshalb kommt man mit ihm nur recht langsam voran."
"Sein Vater ist nach einem Autounfall gestorben. Er hat den Mercedes mit Totalschaden in die Garage gestellt, ist hinauf ins Wohnzimmer gegangen, hat sich aufs Sofa gelegt und ist gestorben. Wer sowas hinter sich hat wie Rafa ..."
Mir kommt wieder in den Sinn, daß Rafa nur fremde Autos fährt. Er hat nie ein eigenes besessen. Allerdings scheint er bisher recht gut ohne Auto auszukommen.
"Immer, wenn Rafa irgendwo hinwill, startet der eine riesige Telefonaktion, um eine Mitfahrgelegenheit und Mitfahrer zu finden", weiß Ivo.
Ich berichte von Rafas maskenhafter Verschlossenheit.
"Da ist etwas, da sind Empfindungen für mich; der kann die nur anscheinend nicht zulassen", vermute ich. "Vielleicht schämt er sich seiner Gefühle."
Vielleicht hatte Rafa vor, nie Gefühle zu entwickeln, um nie mehr abhängig von einem anderen Menschen zu sein ...
Ivo erinnert sich an eine der vielen Wohnungen, in denen der Sockenschuß bereits gelebt hat. Ich kannte jene Wohnung auch; allerdings bin ich 1988 dort gewesen und nicht - wie Ivo - 1989. Ivo hat die Wohnung in einem fortgeschritteren Zustand gesehen. Sie soll unbeschreiblich vergammelt gewesen sein.
"Das große Zimmer war voller Müll und die Badewanne voll mit Gerümpel", erzählt Ivo schaudernd. "Das Klo hättst du nicht sehen dürfen ... Das Einzige, was ich in der Wohnung zu mir genommen habe, war eine Dose Bier. Und die habe ich erst mit dem Pulloverärmel abgewischt und dann eigenhändig geöffnet. Ich sage, irgendwann lebt der in der Irrenanstalt. Da hat der dann endlich sein festes Zuhause. Da hat der's gut! Drei warme Mahlzeiten am Tag ... er kann niemandem was tun ... Der ist nicht fürs Alltagsleben geschaffen. Was mich nur wundert, ist, wie der es immer wieder schafft, irgendwo unterzukriechen. Andere hätten längst den Abstieg zum Penner gemacht."
Ivo und ich besuchten die Ausstellung zusammen mit dem Industrialmusiker Mal und dessen Freundin Alanna. Nach der Ausstellung lud Mal uns beide noch zu einem Tee ein. Er wohnt zusammen mit Ytong hinterm Schlachthof in einem Gäßchen in einer ebenerdigen, sehr baufälligen Wohnung.
"Ich komme selten dazu, Staub zu wischen", sagte er entschuldigend, als wir sie betraten.
"Staubwischen genügt eh nicht", tröstete ich. "Da hilft nur eine Vollrenovierung."
Wir nahmen im "Wohnzimmer" Platz, das eingerichtet war mit Schrottskulpturen, selbstgefertigten Instrumenten aus Holz und Eisen, Tierbehausungen, Sperrmüll und Schallplatten. Das Eindrucksvollste war wohl ein gigantisches Regal aus grob geschnittenem Stahl, das kaum etwas gemein hatte mit dem, was man sich unter einem Möbelstück vorstellt.
"Der Mal hat wohl deshalb ein Lied über Einbauküchen gemacht, weil er selber keine hat", glaubt Ivo.
"EBK" - "Einbauküchen" - befindet sich auf einer Kassette, die ich zur Zeit viel höre. Die Musik von Mal ist atonal, kühl, glatt und elektronisch. Die deutschen Texte sind schlicht und griffig. Mir gefallen besonders "Bericht aus fliegenden Maschinen" und "Interstellare Liebe".
Ivo scheint stolz darauf zu sein, daß er mit Mal befreundet ist. Er erzählt oft davon, daß er seinen Freundeskreis auslichten und umbauen wolle. Er habe zuviel mit Leuten zu tun gehabt, die ihm nicht viel gäben. Ich führe das auf Ivos arrogantes Verhalten zurück. Es gibt eine kleine Geschichte, an die er sich ungern erinnern läßt:
Vor sechs Jahren kam Ivo im"Base" auf mich zu, mit lackglänzenden Haaren und in weißer Matrosenjacke. Ich trug eine selbstgemachte Kette aus Lüsterklemmen und kleinen Glühbirnenfassungen. Ivo wies mich darauf hin, daß ich diese Kette im "Base" nicht tragen dürfe, da sie nicht in dem Underground-Modeladen "Cages & Chains" gekauft worden sei.
Mit dieser Geschichte habe ich schon öfters für Heiterkeit gesorgt. Ausgerechnet Ivo spricht sich heute gegen die sogenannten Szenetrachten aus und hat sich ein elektronisches Bauteil an den Schlüsselbund gehängt. Es ist Ivo jedesmal peinlich, wenn ich ihn an seine Vergangenheit erinnere.
Am Montag rief ich Adi an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren.
"Und? Was ist mit deinem Rafa?" erkundigte er sich.
"Er mauert. Er ist schwierig. Das habe ich ihm auch gesagt."
"Das hat ihm wohl noch keiner gesagt."
"Es hat ihn wohl auch noch keiner so unmittelbar auf ihn selbst angesprochen", meinte ich. "Bisher hat er sich seine Freunde wohl so ausgesucht, daß sie eher oberflächlich sind. Ich bekomme von Rafa selten richtige Antworten. Ich wollte wissen, ob er sich selber leiden kann. Er meinte, in dieser Hinsicht sei er gespalten. Einen Teil von sich würde er mögen und einen Teil nicht."
"Das ist ja auch keine rechte Antwort."
"Doch, das ist eine. Ich bin nämlich genauso."
"Das ist ja ein richtiges Psychologiestudium."
"Du, dieser Mensch ist ein Psychologiestudium. Ein Labyrinth, das mit Methode ergründet werden muß. Da sind immer wieder neue Sachen. Das mit der rosa Brille ..."
"Das habe ich ja mitgekriegt."
"Der empfindet schon irgendetwas für mich, aber der schämt sich wohl deswegen. Der will also ... und darf gleichzeitig nicht ... ist entsprechend hin- und hergerissen. Folglich ist er entweder zugeneigt und abgeneigt auf einmal ... oder abwechselnd zu- und abgeneigt. Das ist das Ergebnis."
"Hat Rafa nicht eine Freundin?"
"Ich weiß von keiner. Ich kann nicht ausschließen, daß er mich hintergeht, nur ... wir haben im 'Elizium' lange Gespräche geführt, und ich beobachte ihn auch. Ich habe nichts dergleichen mitbekommen."
Eigenartig kommt es mir schon vor, daß Rafa unser Treffen so weit in die Zukunft rücken will. Gewöhnlich sind doch die Männer, die besonders anziehend sind, auch besonders eilig im Erobern.
Derek erzählte mir am Telefon, der Sockenschuß habe an dem Sonntag nach seinem Angriff gegen mich bei Lena vor der Tür gestanden. Lena habe ihn hereingelassen. Lenni, der anwesend war, drohte:
"Ich gehe ins Auto und komme erst wieder hoch, wenn der Affe weg ist."
Der Sockenschuß jammerte:
"Ich bin wegen Hetty aus dem 'Elizium' geflogen!"
Er vertritt die Meinung, daß ich daran schuld bin, daß er mich angegriffen hat.
"He, was hältst du von Hettys Getue?" versuchte Sockenschuß, den wütenden Lenni auf seine Seite zu ziehen.
Der aber riet ihm nur:
"Frag' sie doch selber."
Und er ging und setzte sich ins Auto - so lange, bis der Sockenschuß fort war.
"Inzwischen wissen auch die, die bisher noch mit dem Sockenschuß zu tun hatten, daß er geisteskrank ist", sagte Derek. "Rafa zum Beispiel ..."
Meine Mutter hörte sich die Geschichte vom Sockenschuß an und erkundigte sich, wer das denn sei, mit dem ich im "Elizium" geflirtet hätte.
"Rafa", antwortete ich. "Wir gehen gemeinsam aus, das heißt, wir gehen in den gleichen Laden. Wir sehen uns fast nur im 'Elizium'. Den Flirt habe ich so mitgenommen. Es ergab sich. Rafa will mir ums Verrecken nicht sagen, was er von mir will."
"Oh! Paß' bloß auf!" warnte meine Mutter. "Wer weiß, was der vorhat! Da haben schon viele ..."
"Was soll der vorhaben?"
"Was Schlimmes!"
"Was denn Schlimmes?"
"Ich weiß nicht ... was Schlimmes."
Dann wollte sie seinen Beruf wissen und wo er denn arbeite.
Rikka soll über Rafas "Galatracht" gesagt haben:
"Oh Gott, jetzt sieht der ja noch blöder aus! Also, das macht wirklich nicht mehr aus dem!"
Constri hat vor einigen Tagen Folter besucht. Sie haben miteinander die Nacht durchgemacht. Er hat ihr einen Pierrot gegeben und sie gefragt:
"Willst du den geschenkt haben?"
"Was soll ich denn damit?" fragte Constri. "Weißt du nicht, daß ich nicht auf Pierrots stehe?"
"Hoffmann hat mir den geschenkt, und ich weiß nicht, wohin damit. Ich sage dir, wenn du den nicht mitnimmst, reiße ich dir auf der Stelle den Kopf ab."
"Oh - warum denn gleich den Kopf?" fragte Constri und steckte den Pierrot ein, nur, um ihn Folter anschließend zwischen die Platten zu schmuggeln.
Folter tat ihn ihr heimlich in die Tasche zurück, und so ging das hin und her. Am Ende hatte Folter gewonnen. Constri kam ahnungslos heim und fand den Pierrot in ihrem Gepäck. Sie will ihn Folter mit der Post zurückschicken.

In einem Traum sind Rafa und ich durch Straßen voller Baustellen gegangen. Es war Nacht. Über unseren Köpfen hing eine Leuchtreklame - von der Parfümerie Liebe. Ich beschloß, dafür zu sorgen, daß Rafa nicht nach oben sah.
Rafa trug wieder die seltsame Tracht mit dem Überwurf. Ich hatte die Arme um seine Schultern liegen und er seine Arme um meine Taille. So gingen wir in ein teures Kleidergeschäft, das trotz der nächtlichen Stunde geöffnet hatte. Es war Schlußverkauf und recht viel Betrieb. Fast alle Kunden kannten wir aus dem "Elizium". Sie begafften Rafa und mich und lästerten laut über uns. Jemand sprach uns sogar auf unser Verhalten an. Wir fanden nichts Rechtes zu kaufen; in meiner Größe gab es gar nichts. Zum Schluß suchten wir an einem Rundständer mit Jacken aus Waschseide. Wir nahmen uns vor, den Laden über einen Schleichweg zu verlassen. Wir gingen durch einen leeren Flur mit weißgestrichenen Betonwänden. Ich fühlte immer dieses leinene Totenhemd unter meinen Fingern.

Ich kann einfach nicht glauben, daß Rafa mich beobachtet, über mich nachdenkt und Verlangen nach mir hat. Ich kann mir nur vorstellen, daß er aus einer Laune heraus auf mich zugegangen ist und mich inzwischen wieder loswerden möchte, weil ihm die Sache zu eng wird.
Ich glaube, daß wahre Liebe zu schön ist, um echt zu sein.
Wenn ich Rafa mit Henk vergleiche, fällt mir auf, daß ich von den beiden sehr unterschiedlich träume oder geträumt habe. Auch von Henk habe ich viel geträumt, besonders damals, als ich in ihn verliebt war. Die Träume hatten alle etwas gemeinsam:
Ich suchte Henk und fand ihn nicht. Ich wollte ihn heiraten, schaffte das aber nicht.
In meinen Träumen von Rafa geschieht meist Folgendes:
Ich bin fies zu ihm, und wir tauschen Zärtlichkeiten aus.

Ende März habe ich von einem leeren Ausstellungsraum geträumt, in dem ein bastbezogener Stuhl stand. Ivo und ich wollten den Raum eben verlassen, da griff Ivo nach meiner Schulter und sagte:
"He, den Stuhl, wollen wir den nicht mitnehmen? Das ist deiner. Er steht seit Jahren da, und du hast den immer übersehen und nicht mitgenommen - es ist deiner."

Ist mit diesem Stuhl Rafa gemeint? Er war jahrelang im "Elizium", und ich habe ihn immer übersehen ... und nicht mitgenommen.

In einem anderen Traum saß Rafa auf einem Stuhl, und ich stand vor ihm. Ich hatte eine große, runde Brosche an mein Oberteil gesteckt. Broschen trage ich immer in der Mitte, ein paar Fingerbreit unter dem Halsausschnitt. Rafa zog mich an der Brosche zu sich herunter, als wollte er sagen:
"Los, umarm' mich."

In dem darauffolgenden Traum erzählte Rafa, er sei schon wieder mit einem Artikel in der Zeitung.




Während der Fahrt zur "Halle" sagte Ivo, er wisse gar nicht, ob er sich binden wolle.
"Ich will", sagte ich.
"Dann wird man abhängig", meinte Ivo.
"Man wird es", bestätigte ich, "auf Gedeih und Verderb."
Ich wollte nicht sagen "auf Leben und Tod", denn das reine Überleben des Körpers ist auch ohne Liebe möglich.
"Wenn Rafa fremdgeht, gehe ich auf Abstand", nahm ich mir vor.
"Das wird Rafa nur recht sein", vermutete Ivo.
"Und? Das ist mir gleich", erwiderte ich. "Ich will mich nicht rächen. Es geht mir um meine Selbstachtung, und die kann ich nur durch Abstand erhalten."
Wir redeten über das Heiraten.
"Die Frau, die Rafa heiratet, muß erst noch geboren werden", glaubt Ivo.
Ich erzählte, daß ich überhaupt nicht heiraten will. Ivo denkt, daß er heiraten wird:
"Warum nicht?"
Als wir zur "Halle" kamen, sagte ich:
"All das, was wir besprechen, ist vielleicht in ein paar Monaten faktisch unbedeutend."
"In Tagen oder Stunden kann sich schon alles wandeln. Rafa braucht nur ein anderes Mädchen in der "Halle" zu gefallen, schon bist du abgemeldet."
"Es wird sich bald totlaufen", war ich mir sicher.
In der "Halle" trafen wir viele Leute, auch Dolf. Ich sprach mit Dolf über Rafas musikalisches Projekt. Dolf berichtete, das Label habe von Rafa verlangt, daß er den Namen "Feindsender" umändert. Es ist nicht ganz klar, weshalb; ein Grund wäre, daß der Name "Feindsender" zu sehr an die Namen rechtsradikaler Bands wie "Störkraft" erinnert, ein anderer wäre, daß es da wohl schon eine Band gibt, die "Feindsender" heißt.
Rafa hat jetzt ein Buch über Feindsender gelesen und seiner Band den Namen eines solchen Feindsenders gegeben. Dieser Name - abgekürzt "W.E" - gefällt mir nicht. Er klingt nach Sendungsbewußtsein, im wahrsten Sinne des Wortes. Er hört sich ähnlich an wie "Stimme der neuen Zeit", "Kosmos 2000" oder "Radio Universum" - naiv, bombastisch, überladen, fortschrittsgläubig und zukunftsverherrlichend. Ich kann einen solchen Namen nicht ernstnehmen.
In der "Halle" konnte ich Rafa nicht finden. Laut Dolf sollte er bald nachkommen.
Am Rand der Tanzfläche unterhielt ich mich mit Cilly.
"Und, dir geht's gut?" erkundigte sie sich. "Frisch verliebt, habe ich gehört ..."
"Du, mir geht's gar nicht gut."
"Entschuldige. Ich hatte das nur so gehört."
"Verknallt sein kann schon ganz schön sein. Aber wenn man absehen kann, daß das Ganze nur eine vorübergehende Phase, ein vorübergehendes Abenteuer ist, dann ist das alles andere als schön."
"Rafa, nicht?"
"Ja, ja", sagte ich. "Der Mensch ... oh je. Oh je."
Nach längerer Zeit fragte mich Constri:
"Na? Kein Kontakt mit Rafa?"
"Der ist doch gar nicht da."
"Doch, der ist da. Talis hat gesagt, der lief hier eben 'rum."
Ich fand Rafa in der Nähe der Stahltreppe, die zum DJ-Balkon hinaufführt. Er war sehr beschäftigt. Er redete mit vielen Leuten nacheinander, durcheinander und gleichzeitig. Er schien sich in ihrer Aufmerksamkeit zu sonnen. Ein solches Verhalten ist mir höchst zuwider. Als Rafa mich entdeckte, bekam ich meine Umarmung, und das war es fast schon.
"Weshalb hast du am Samstag nicht 'tschüß' gesagt?" wollte ich wissen.
"Tschüß", sagte Rafa.
"Was heißt das jetzt?" fragte ich verwirrt.
"Das heißt, daß ich am Samstag wohl vergessen habe, 'tschüß' zu sagen und daß ich das jetzt nachhole", erwiderte er kühl.
Gleich darauf mußte er "unbedingt mit seinem Manager reden"; gemeint war Dolf. Im Hin- und Herrennen streifte Rafa mich gelegentlich mit einem tiefsinnigen Blick.
Vielleicht muß Rafa sich einbilden, daß ein Haufen Leute sich für ihn verfügbar hält. Vielleicht ist er einsamer, als er zugeben will.
Ich überlegte, wie lange ich mir sein Verhalten bieten lassen konnte, ohne mir etwas zu vergeben. Rafa benahm sich wie eine dauernd besetzte Toilette. Als er gerade einmal "frei" war, fragte ich ihn schnell:
"Willst du am 09. kommen, oder wollen wir's lassen?"
"Ich bin da."
"Welchen Zug willst du nehmen? Ich hole dich dann ab, so wie du mich abgeholt hast."
"Können wir das morgen im 'Elizium' besprechen?"
"Ich gehe vielleicht nicht hin. Ich bin vorher bei einer Party."
"Die Party wird langweilig", sah Rafa in die Zukunft. "Erst ist sie ganz nett, aber dann wird sie langweilig."
"So, woher weißt du denn das?"
"Ich weiß das", behauptete er. "Also, morgen im 'Elizium' ... halb vier ..."
"Das ist noch nicht heraus, daß ich morgen im 'Elizium' bin."
"Doch, du bist morgen um halb vier im 'Elizium'."
"Das muß ich noch sehen."
"Du bist morgen um halb vier im 'Elizium'", beharrt Rafa.
Eine Zeitlang schweigen wir uns nur an.
"Meinst du, wir haben noch viel Stoff, um uns zu unterhalten?" frage ich. "Oder findest du mich langweilig?"
"Wenn ich dich langweilig finden würde, würde ich mich überhaupt nicht mit dir unterhalten."
"Leider verhältst du dich so, daß ich nicht weiß, was ich von dir halten soll."
"Ich will auch nicht, daß du weißt, was du von mir halten sollst", erklärt Rafa.
Dann entfernt er sich. Nach dem Konzert von S.P.O.C.K. kann ich Rafa schon wieder nirgends finden. Er scheint sich vor mir zu verstecken. Ivo erwartet mich auf dem Podest mitten in der "Halle", das als Bühne dient. Er legt den Arm um mich und meint:
"Siehst du? Ich hab's dir gesagt. Jetzt ist es soweit; du bist ihm gleichgültig. Nimm's nicht so schwer ..."
Ich höre leisen Triumph aus seinen Worten.
"Es geht nicht darum, wie ich es nehme", erwidere ich. "Es geht darum, wie es ist. Es handelt sich einfach um Tatsachen. Ich habe das immer nüchtern gesehen, und das will ich auch weiterhin tun."
Dolf weiß nicht, wo Rafa steckt. Ich sage zu ihm, ich hätte nicht vor, die ganze "Halle" nach Rafa abzusuchen.
"Fährst du mit Rafa gemeinsam nach Hause?" frage ich Dolf.
"Ja."
Ich bitte ihn, mir bescheidzugeben, wenn man fahre, damit ich Rafa mitteilen könnte, daß ich nicht ins "Elizium" käme. Dolf bietet mir an, Rafa auszurichten, er solle mich anrufen, aber das will ich nicht.
"Der ruft dich morgen an", versichert Dolf.
Ich winke ab:
"Ach ... ich will das lieber persönlich mit ihm besprechen."
Dolfs Vertrauen in Rafas Zuverlässigkeit kann ich nicht teilen.
Es laufen viele Stücke, die mir gefallen, darunter "Adrenalin Rush" von Leæther Strip. Beim Tanzen denke ich darüber nach, wo ich mit dem Übermaß an Sehnsucht hinsoll, die ich nach Rafa habe:
"Was nützen mir all diese Gefühle, wozu habe ich sie? Ich kann sie ihm nicht schenken, er will sie nicht, und wenn ich sie nicht verschenke, vergiften sie mich."
Ich gehe zu Ivo auf das Podest. Er sucht meine Hand und ergreift sie.
"Wollen wir morgen früh ins 'Trauma'?" frage ich ihn.
"Mal überlegen ... es wäre eine Maßnahme", antwortet er.
"Und? Ist nichts mit Rafa?" erkundigt sich Constri.
"Er ist unauffindbar", antworte ich müde. "Sogar Dolf weiß nicht, wo er ist."
"Wieso, da vorne sitzt er doch."
"Wo?"
"Da, an der Bar."
Ich entdecke Rafa an dem Tresen, der sich einige Schritte weit hinterm Podest befindet. Er hat einen Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt. Ihm gegenüber sitzt ein Fremder.
"Na?" spreche ich Rafa an. "Hast du heute wieder deinen merkwürdigen Tag?"
"Ich bin immer merkwürdig", sagt er, nah an meinem Gesicht.
"Das stimmt nicht", erwidere ich. "Du bist mal normal und mal merkwürdig."
Rafa schiebt mir ein Glas hin.
"Willst du?"
Ich trinke und fragte:
"Was ist das?"
"Osborne mit Cola."
Ich trinke weiter.
"Ja, trink's aus", sagt Rafa, "und erinnere mich morgen daran, daß du mir einen ausgeben mußt."
Unwillkürlich habe ich meine Hände schon wieder an seiner Jacke und an seinem Hals.
"Rafa ... wie bist du eigentlich letzten Freitag darauf gekommen, ins 'Trauma' zu gehen?"
"Ich wollte hingehen. Ich tue, was ich will."
"Waren deine Leute mit?" frage ich weiter.
"Sie waren nicht mit."
"Du warst allein da", schließe ich.
"Mit Dolf."
"Wollen wir beide mal hin?"
Er ist einverstanden.
"Morgen früh?" schlage ich vor.
"Oh, nein."
"Heute nacht?"
"Dann lieber morgen früh."
"Dann ... komme ich vorher ins 'Elizium' und hole dich ab?"
"Halb vier", legt Rafa fest.
"Fünf."
"Halb vier."
"Können wir uns denn nicht in der Mitte treffen?"
"Nein."
"Du kannst doch nicht immer alles bestimmen."
"Ich bestimme, daß du um halb vier im 'Elizium' bist", sagt Rafa. "Und du bestimmst, daß wir ins 'Trauma' gehen."
"Das ist schon etwas ausgewogener."
Ich möchte wissen, wie er mein Spitzenkleid findet.
"Da müßtest du erst drei Schritte zurückgehen", meint er.
Er betrachtet das Kleid.
"Unten an den Saum müßte auch noch Spitze hin", urteilt er. "Das ist dann ausgewogener."
"Ich hatte nämlich geträumt, dich störte etwas daran", erkläre ich. "Und ich habe auch noch allerlei anderes geträumt; das erzähle ich dir aber jetzt besser nicht."
Ich grabe meine Fingernägel in seinen Handballen.
"He, laß' mich leben", bittet Rafa.
"Nein. Du läßt mich ja auch nicht leben."
"Doch, ich laß' dich leben."
"Gerade so leben. Ich werd' dich auch gerade so leben lassen!"
"Du kannst mich eh nicht umbringen", ist er sicher. "Ich bin unsterblich."
"Ich werde dich foltern, bis du dir wünschst, sterben zu können."
Der Fremde, der dabeisitzt, lacht.
"Hee! Hee!" ruft er.
"Bevorzugst du sauerstoffarmes oder sauerstoffreiches Blut?" stelle ich Rafa die nächste Frage.
"Ich bevorzuge Rhesusfaktor positiv, Blutgruppe null."
"Woher willst du denn wissen, daß ich die habe?"
"Ich weiß das."
Ich ziehe Rafa lachend am Kragen und sehe ihn mit einem ausgelassenen, gierigen Blick an. Er guckt belustigt, zweifelnd und staunend. Dann steht er auf und entschuldigt sich:
"Ich komm' gleich wieder."
Er geht zu der Bar unterm DJ-Pult und fährt fort, sich mit allerlei Leuten zu unterhalten. Ich gehe ihm schließlich nach und frage ihn:
"Weshalb, glaubst du, bist du mir früher nie aufgefallen?"
"Weshalb ich dir nie aufgefallen bin? Ich entscheide, wann ich dir auffalle."
"Damals, als du mich anrufen wolltest ... hast du da tatsächlich meine Nummer gewählt?"
"Ich habe deine Nummer gewählt."
"Dann gilt das schon als Anruf ... ich habe da meine Richtlinien ..."
Er eilt von dannen, und ich tanze mit Ivo. Währenddessen sehe ich immer wieder nach, ob Rafa noch in der "Halle" ist. Als ich von der Tanzfläche komme, finde ich ihn zwischen der Stahltreppe und der Bar, an der er gesessen hat. Er steht bei einer Gruppe von Menschen an einem runden Tisch. Ich berühre Rafas Schulter und setze zum Sprechen an. Sogleich geht er mit mir zu einem freien Tisch, der abseits steht.
"Fürchtest du dich davor, die Kontrolle über dein Verhalten zu verlieren und dich nicht mehr steuern zu können?" frage ich.
"Ja", antwortet er. "Das heißt, nein. Ich vermeide es nur, die Kontrolle über mich zu verlieren."
"Weil du dich davor fürchtest."
"Nein, ich fürchte mich nicht davor, weil es mir immer gelingt, es zu vermeiden."
"Hast du schon einmal irgendjemandem vertraut?"
"Ja. Mir!"
"Nur dir selbst. Sonst keinem Menschen."
Er bestätigt.
Ich frage Rafa, ob er sich denn niemals binden möchte.
"Nein, nie."
"Dann weißt du nicht, was Liebe ist", folgere ich.
"Ich weiß, was Liebe ist!" widerspricht er.
"Wer liebt, bindet sich auch."
"Ich binde mich nicht."
"Rafa, ich glaube, du mußt noch viel lernen."
"Ich muß nichts lernen", trotzt er. "In dem Stadium, in dem du bist, war ich schon."
"Vielleicht ist es ja umgekehrt - und in das Stadium, in dem ich bin, kommst du erst noch."
"Vielleicht komme ich eines Tages dahin zurück."
"Welchen Zug willst du am 09. nehmen?" erkundige ich mich. "Du weißt die auswendig. Und ich will das nicht erst im 'Elizium' besprechen."
"Der 09. ist Karfreitag, nicht? Da habe ich ja sowieso frei. Wann wollen wir denn?"
"Vier ... drei ..."
"Drei. Um 15.20 ist einer in H."
Wir einigen uns darauf, daß ich Rafa vom Gleis abhole.
"Augenblick - ich komme gleich wieder", sagt er wie schon einmal und geht zur Bar unterm DJ-Pult. Er spricht mit mehreren Leuten und sieht dann zögernd zu mir her. Ich winke leicht. Er kommt zurück an unseren Tisch. Wir nehmen auf Hockern Platz. Die Musik verstummt. Kappa hat die Anlage "hingerichtet". Das passiert ihm öfter. Dank seiner Schwierigkeiten mit der Technik kann ich nun die Stimmen von Rafa und mir deutlich und unverfälscht hören.
"Wie kommt es", frage ich, "daß du in der Realschule so häufig sitzengeblieben bist?"
"Das hatte ... mit dem Tod von meinem Vater zu tun."
"Genau das habe ich mir gedacht."
"Ich war vorher ein sehr guter Schüler", erzählt Rafa. "Danach konnte ich nichts mehr. Ich weiß noch, wie ein Lehrer mit meinem Vater sprechen wollte. Mein Vater war da gerade gestorben.
'Rafa, so geht das nicht weiter', hat der Lehrer gesagt. 'Ich möchte gern deinen Vater sprechen.'
Ich habe nur geguckt - alles ging durcheinander - ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das dauerte vielleicht ein, zwei Minuten - für mich waren das Jahre. Schließlich hat ein Kumpel von mir mir geholfen und so gesagt, der Vater von Rafa ist gestorben. Das Verhältnis zu meinem Lehrer war von da an völlig anders."
"Völlig anders."
"Es war ein völlig anderes Verhältnis."
"Inwieweit anders?"
"Erst war ich der Star gewesen. Und dann ... er hat herumerzählt, ich hätte Sachen gesagt, die ich nie gesagt habe. Ich hätte gesagt:
'Mein Vater schwebt über den Wolken und in den Sternen.'
Es hieß dann, der Rafa ist - hier" - er tippt sich mit dem Finger an die Stirn - "der Rafa hat eine Macke."
Rafa will nie solche Merkwürdigkeiten gesagt haben, wie sie ihm angehängt werden. Ich kenne aber seine Phantasie. Zutrauen würde ich es ihm. Er spricht gern in Bildern, die Bühnenszenarien ähneln. Beim Reden zieht er den Vorhang auf und holt die Welt auf die Bretter.
"Weshalb bist du eigentlich zur Realschule gegangen und nicht zum Gymnasium?" möchte ich wissen. "Du hast ein helles Köpfchen ..."
"Ich hatte auch eine Empfehlung fürs Gymnasium. Aber meine Mutter hat gesagt, ich soll zur Realschule gehen, das sei besser."
"Weshalb soll das besser sein?"
"Es ist besser."
"Weshalb?"
"Es ist besser."
Ich muß daran denken, daß der in der Realschule hoffnungslos unterforderte Rafa nun wahrscheinlich sein Leben lang Komplexe haben wird, weil er nicht so gebildet ist, wie er es hätte sein können. Außerdem dürfte er einen Bildungsneid auf mich entwickeln und Schwierigkeiten damit haben, daß ich als Frau nicht nur älter bin, sondern auch als gebildeter gelte als er. Das paßt nicht ins herkömmliche Muster und gibt einen schweren Stand für unsere Beziehung.
"Du willst mir ja nicht sagen, wie alt du bist", spreche ich diesen Themenbereich an. "Ich nehme das mal so hin ... nur ... bist du gerne so alt, wie du bist, oder wärst du lieber älter oder jünger?"
"Warum stellst du mir immer diese Fragen?" beschwert er sich.
"Ich möchte über dich bescheidwissen", erkläre ich. "Ich möchte, daß du für mich berechenbar wirst."
"Wenn ich berechenbar werde, nehme ich mir einen Strick."
"Wie soll man dir dann vertrauen?"
"Weshalb soll man mir nicht vertrauen können?"
"Ich kann dir nicht vertrauen, wenn ich dich nicht wirklich kenne."
"Was ist denn dabei, wenn du mir nicht vertraust?" fragt Rafa.
"Das wirst du noch sehen", antworte ich. "Sieh', ich nehme hin, daß du mir dein Alter nicht sagen willst, und du nimm hin, daß ich dich durch und durch kennen will, um dich einschätzen zu können."
"Also, sag' mal, das eine hat ja wohl mit dem anderen nichts, nichts zu tun", entgegnet Rafa aufgebracht. "Das ist ja wohl ein unmöglicher Vergleich."
"Es hat ..."
"Nein, nein. Das ist ja wohl absolut bescheuert. Ich kann doch auch nicht sagen, ich nehme hin, daß du dich hier am Hallendach aufhängst, und du nimmst dafür hin, daß ich ... warte mal ..."
"Es ..."
"... nein, warte ... daß ich so laut rülpse, daß hier die Wände einfallen."
"Stört dich, daß ich Sachen gegeneinander aufrechne?"
"Mich stört, daß die Sachen nichts miteinander zu tun haben", erklärt Rafa.
Daß ich ihn ausfrage, hat aus seiner Sicht folgenden Grund:
"Du hast Angst vor dem Ungewissen."
"Hast du die nicht auch?" gebe ich zurück.
"Nein."
"Du hast gesagt, du hättest Angst vorm Tod, weil du nicht wüßtest, wie es danach weitergeht."
"Wir beide ... sind Teile von Gott", meint Rafa. "Wir ergänzen einander. Und Gott ist kein Mensch."
"Ich glaube nicht, daß es Gott gibt."
"Weißt du denn, daß es ihn nicht gibt?"
"Ich weiß es nicht, ob es ihn wirklich nicht gibt. Ich glaube nur nicht an ihn. Glaubst du an Gott?"
"Ich glaube, daß es ihn gibt."
"Sollen wir keine Menschen sein, weil Gott auch kein Mensch ist?" frage ich nach.
"Wir sind keine Menschen."
"Was veranlaßt dich, zu vermuten, ich sei kein Mensch?"
"Weshalb sagst du über den Fußboden: das ist Holz?"
"Weil ich aus Erfahrung weiß, daß das Holz ist."
"Siehst du, und ich weiß aus Erfahrung, daß du kein Mensch bist", sagt Rafa. "Was Gott ist, kannst du genausowenig sagen, wie du sagen kannst, was Liebe ist."
"Was Liebe ist, kann man wirklich nicht sagen", stimme ich ihm zu - mit einem Seufzer und einem Blick in die Ferne.
Dann komme ich wieder auf unsere Verabredungen zu sprechen:
"Für morgen möchte ich gerne einen emotionalen Voranschlag haben. Ich möchte wissen, wie du morgen drauf bist."
"Das kann ich dir nicht sagen."
"Dann können wir das wieder abwarten ... Wie ist das denn nun eigentlich? Bist du nun gerne so alt, wie du bist, oder wärst du lieber älter oder jünger?"
"Mein Alter ist mir ganz egal. Ich finde das bescheuert mit diesem Alter. Ich habe das Alter abgeschafft. Es gibt für mich keine Zeit mehr."
Als wir so dasitzen und über Gott und keine Menschen reden, kommt der Sockenschuß in Begleitung eines Türstehers in unsere Nähe. Ich springe auf und verstecke mich hinter Rafas Rücken.
"Rafa!" ruft der Sockenschuß. "Sag', das ist meine Jacke! Sag' ihm, daß das meine Jacke ist!"
Der Türsteher trägt die fragliche Jacke über dem Arm. Er hat angenommen, sie gehöre dem Sockenschuß nicht. Der Türsteher kann sich nicht vorstellen, daß dem Sockenschuß eine Lederjacke gehören könnte.
"Da ist ein Zettel in der Jacke", sagt der Sockenschuß, und seine Stimme ist ein überdrehtes Leiern. "Da steht was drauf."
"Was steht da drauf?" fragt Rafa.
"Da ist ein Zettel drin", wiederholt der Sockenschuß hastig.
"Das wissen wir schon", sagt Rafa ärgerlich. "Was - steht - da - drauf?"
Unwillkürlich reibe ich meine Wange an Rafas Schulter.
"Da ist ein Zettel drin ... ein Zettel ...", stammelt der Sockenschuß.
"He, laß' dir nichts erzählen von dem, der hat einen Schuß weg", sagt der Türsteher zu Rafa.
Kappa kommt dazu und rät dem Türsteher:
"Hier, gib dem die Jacke, der hat einen Schlag weg und macht Ärger."
Constri, Ivo und die anderen sind auch herbeigekommen und wollen mit mir weggehen. Rafa und ich geben uns die Hand, und er sagt:
"Tschüß."
Carl hat mich mit Rafa beobachtet, und es gefiel ihm, was er sah. Er glaubt, daß es kein Zufall ist, daß Rafa und ich miteinander zu tun haben. Er sieht Parallelen zwischen uns.
Als ich Ivo mitteilte, daß ich mich mit Rafa fürs "Elizium" verabredet hatte, wollte er sich auf einmal nicht mehr mit mir fürs "Trauma" verabreden. Er kam aber noch auf einen Bailey's zu uns nach drinnen. Er erzählte, wie die vielgerühmten Parties von Rafa tatsächlich abgelaufen sein sollen:
"Wir Gäste waren Statisten, Rafa war Regisseur und Hauptdarsteller. Jeder bekam von ihm seine Rolle zugeteilt, und wenn er sie nicht spielte, wurde er mit einem Spruch zur Ordnung gerufen. Es war ein Marionettentheater. Stimmung kam nicht auf."



Am Samstag, einen Tag nach der EBM-Nacht, gab Adi seine Geburtstagsparty. Die Party war nicht nur von der Beheizung des Raumes her unterkühlt. Rikka und Constri wollten für Heiterkeit sorgen, indem sie den Jungen die Schnürbänder aufzogen und sie durchkitzelten. Deswegen wurden sie von zwei Behindertenpflegerinnen als "kindisch" bezeichnet. Die eine Pflegerin ist mit einem alten Freund von Adi verheiratet. Sie hat ein Kind und glaubt, aus diesem Grunde erwachsen zu sein. Sie störte sich unter anderem an den geschminkten Gesichtern von uns Mädchen.
"Mein Mann hat nichts dagegen, wenn ich Falten habe", behauptete die Pflegerin. "Übrigens können wir die Diskussion gern später noch fortsetzen."
"Ich verzichte", sagte Constri.
Im "Elizium" fand ich Dolf, der sagte, Rafa sei dagewesen, aber seit etwa halb eins wisse niemand mehr, wo er sich aufhielte. Dabei blieb es. Das erste Mal, seit ich Rafa kenne, hat er das "Elizium" um diese frühe Stunde verlassen ... und das ausgerechnet, nachdem er mich beschworen hatte, auf jeden Fall um halb vier dort zu sein. Ich hatte den Eindruck, daß Rafa vor mir geflüchtet war.
Es kamen einige schöne Stücke, auch "Deiche" von den Sex Gang Children. Doch nie habe ich das "Elizium" so als Folterkammer erlebt wie in dieser Nacht. Rafa war nicht da, und alles andere hatte nun auch seinen Wert verloren.
Weil Ivo nicht mitwollte ins "Trauma", hätte ich allein hingehen müssen. Das war an sich kein Hindernis für mich. Nun aber, nachdem Rafa sein Versprechen gebrochen hatte, konnte ich einfach nicht mehr ins "Trauma" gehen, so gern ich es getan hätte. Ich war wie gelähmt.
Ich will mich jemandem schenken, der mich verdient. Ich finde ihn aber nicht und verliere meinen Reiz wie eine gedeckte Tafel, an die sich niemand setzt. Die Blumen verwelken, auf die Teller fällt Staub.
Die Sehnsucht, die ich seit vierzehn Jahren habe, vergiftet mich langsam. Äußerlich wirke ich immer anziehender, offener, geselliger und selbstsicherer. Innerlich schreitet der Verfall langsam fort. Eines Tages ist der Scheitelpunkt erreicht, und der Verfall wird sichtbar.
Mein ewiger Feind ist die Sehnsucht, mein dauernder Begleiter. Kein Wesen war mir so treu. Ich war immer meinen Empfindungen ausgeliefert und immer ihr Opfer. Das ist es, was Rafa vermeidet, und er scheint mit seinem oberflächlichen, gefühlsarmen Leben gut zurechtzukommen.
Immer dann, wenn Rafa einen Rückschlag erleidet - etwa, indem er Freunde loswird -, münzt er diesen Mißerfolg für sich um in einen Erfolg. Er belügt und betrügt sich selbst ebenso, wie er andere belügt und betrügt - schamlos, kalt und gewissenlos. Wenn seine Bedürfnisse nicht befriedigt werden, schafft er diese Bedürfnisse ab.
Und er betrügt sich nicht nur, er läßt sich auch von sich selbst betrügen. Was in sein Bild von der Wirklichkeit nicht hineinpaßt, ist für ihn nicht vorhanden. Er will es nicht wahrnehmen - und nimmt es nicht wahr. Er führt einen bewußten Selbstbetrug aus nach dem Schema des "Zwiedenken" nach Orwell. Er weiß, was er tut. Und er fällt darauf herein. Er fällt darauf herein, weil er darauf hereinfallen will. Infolgedessen verläuft sein Leben sehr gleichmäßig. Er bekommt nie Schwierigkeiten, weil er die Schwierigkeiten, die er bekommt, weglügt.
Mein Fehler war, mich auf Rafa und auf unsere Verabredung am Samstag zu freuen. Er wird das gemerkt haben; anscheinend ist es ihm dadurch unmöglich geworden, sie einzuhalten. Vermutlich hat Rafa sogar Lust dabei empfunden, sie nicht einzuhalten.
Rafa scheint eine Sucht danach zu haben, seine Mitmenschen wieder und wieder zu enttäuschen, ohne von ihnen enttäuscht werden. Er verhindert Vertrauen und Nähe und schafft sich Feinde. Er scheint Feinde zu wollen. Er tritt den Menschen immer wieder ins Gesicht.
Daß Rafa sich mit Dracula vergleicht, finde ich nicht abwegig. Dracula ist von der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen und nimmt das zum Anlaß, auf sie herabzusehen. Er ist nicht bindungsfähig, hat kein Verantwortungsgefühl und keine Hemmungen, Menschen zu verletzen - und behauptet doch trotzig, lieben zu können. Dracula lebt nur seine Begierden aus. Die Opfer, die er zurückläßt, sind ihm gleichgültig. Er hat eine starke sinnliche Ausstrahlung und sonnt sich in dem Mythos, den er um sich aufbaut. Er ist dabei auch verlogen und zynisch. Er ist ein scharfer, lauernder Beobachter. Er ist intelligent und zielsicher und hat doch den Geist eines Kindes.
"Dolf ist genauso verlogen wie Rafa", erzählte Ivo mir am Sonntag. "Die beiden arbeiten Hand in Hand. Wenn Dolf nicht wissen soll, wo Rafa ist, dann weiß der das nicht.
Außer Dolf - hat Rafa auch niemanden. Es gab da noch einen, Ken, der lange ein guter Freund von Rafa gewesen ist. Er hat sich zur gleichen Zeit und aus den gleichen Gründen von Rafa getrennt wie ich. Ken ist sehr in Ordnung. Er geht jetzt kaum noch weg; er bleibt mit seiner Freundin in SHG. Rafa und Ken sind fast Nachbarn, und doch sehen die sich nie.
Rafa und Dolf wollten Ken zum Grufti erziehen. Ken war ursprünglich eher Skin und Techno, und das paßte den beiden nicht. Irgendwann lief Ken dann auch mit langen, hochgestellten Haaren herum, so daß ich ihn fast nicht wiedererkannte."
"Ich finde, Rafa ist wie ein Skorpion", sagte ich. "Er lebt für sich alleine und vergiftet die Menschen."
"Seltsamerweise haben Rafa und ich uns nie gestritten", erinnerte sich Ivo. "Er ist nicht der Mensch, mit dem man sich streiten kann. Das ging zwischen uns immer nur mit Sprüchen ab."
"Was für Sprüche waren das denn so?"
"Mir fällt keiner mehr ein. Es war halt so - immer, wenn er zu mir etwas sagte, mußte ich überlegen: war das jetzt ein Angriff gegen mich? Es war oft schwer, zu kontern."
Ich fragte Ivo, wie alt Luisa eigentlich sei.
"Die ist auch bestimmt schon einundzwanzig", vermutete er. "Laß' sie zwei Jahre jünger sein als Rafa.
Sie kannte keinen in SHG., sie hatte nur Rafa und Dolf. Sie kam von denen nicht weg.
Wenn wir im Auto gefahren sind, saß Rafa grundsätzlich auf dem Beifahrersitz. Das war sein Thron. Wenn jemand anders sich dorthin setzen wollte, wurde er weggeekelt. Das Endergebnis war, daß wir Rafa irgendwann überhaupt nicht mehr mitgenommen haben.
Ken hat sich unter anderem auch deshalb von Rafa distanziert, weil er das mit Luisa mitbekommen hat. Die stand in BO. im 'Fall' in der Ecke, während Rafa von einer Traube von Mädchen umgeben war. Auf einmal fing die voll an zu heulen. Und auf dem Rückweg war dann die Versöhnung, und Rafa sagte:
'Ich tu's nie wieder.'"
"Sicher - er hatte seinen Spaß ja gehabt", bemerkte Constri.
"Ein ekelerregendes Verhalten", sagte ich. "Es widert mich an."
"Rafa schob Luisa wie eine Schachfigur hin und her", fuhr Ivo fort. "Auch uns hat er auf seiner Party damals in ein Figurentheater eingebaut. Wer nicht tat, was Rafa gerade wollte, bekam einen Klaps.
Erst mußten die Geschenke abgegeben werden.
'So, jetzt wird Kaffee getrunken', sagte Rafa, und es wurde Kaffee getrunken. Und so ging das weiter."
"Der tut so, als gehörten ihm die Leute", meinte ich. "Er behandelt sie wie Gegenstände."
"Es war einerlei, ob er Luisa betrog oder nicht", sagte Ivo. "Sie blieb bei ihm; er konnte tun, wozu er Lust hatte."
Carl kann sich auch noch daran erinnern, wie Luisa in der "Halle" allein auf den Stufen saß und Rafa irgendwann ankam und den Arm um sie legte, als sei alles wieder gut.
Rafa wollte für Luisa keine Verantwortung tragen. Wahrscheinlich will er niemals für irgendetwas, für irgendwen oder für irgendeine Beziehung Verantwortung übernehmen.
Ich habe immer nach Verantwortung gesucht und mich verantwortlich gefühlt. Constri und ich haben füreinander Verantwortung übernommen, lange bevor wir zur Schule kamen.
Wir gingen über ein unwegsames Gelände und sagten zueinander:
"Ich halt' dich fest, damit du nicht fällst."
"Und ich halt' dich fest, damit du nicht fällst."

In einem Traum am Karfreitag habe ich einen beschaulichen, stillen, menschenleeren Ort gesehen, der einen anzog und dazu verführte, durch die fremden Gassen zu gehen. Es verbarg sich jedoch in den Winkeln eine unsichtbare, stumme Gefahr, vielleicht die Gefahr, sich in dem Gewirr von Gassen zu verlaufen und nicht mehr aus dem Ort hinauszufinden.

Dieser Ort war eine Menschenfalle, und Rafa ist das auch. Abstand ist das Einzige, was einen vor der Falle bewahrt.
Man könnte mir vorwerfen, mich überhaupt mit Rafa abgegeben zu haben. Allein, um das nicht zu tun, hätte ich meine Gefühle verleugnen müssen, und die sind ein Teil von mir und haben ein Daseinsrecht.

In einem weiteren Traum kam ich in das Innere eines Häuserblocks, eine gewaltige grauweiße Betonschlucht. Tausende von Fenstern schimmerten in den Wänden. Es war ein eisiges Gefängnis.

Wie erwartet war Rafa nicht da.
"Eine gute Nachricht", verkündete Ivo am Telefon, als ich ihn am Abend anrief. "Ich habe Xentrix getroffen, und der hat mir erzählt, warum unser Rafa in der 'Halle' kaum zu sehen war und erst gegen Schluß an der Bar richtig aufgetaucht ist. Recht früh sind einige Leute zu Rafa gekommen und haben ihn gefragt:
'Hast du deine Badekappe auf?'
Und ehe er antworten konnte, lag er auch schon im Teich."
"Im Teich?"
"In der 'Halle' ist doch innen so ein Teich."
"Ach, der."
"Da haben die den mal eben 'reingeworfen."
"Geil!" rief ich. "Wer hat den denn da 'reingeschmissen?"
"Nette, freundliche Leute, denen ich jederzeit einen Kasten Bier ausgeben würde."
"Weshalb die bloß Rafa ausgesucht haben?"
"Den können doch viele nicht leiden."
"Er sorgt ja auch fleißig dafür, daß ihn keiner leiden kann."
"Daß ich das nicht mitbekommen habe, wie der da 'reingeflogen ist ... wir waren doch ganz nah bei dem Teich."
"Das muß gewesen sein, bevor wir gekommen sind", nahm ich an. "Guck' mal, der Rafa war doch erst gar nicht zu sehen. Der war doch überhaupt nicht da. Ich finde es ja nur so geil. Da ist der dann in die Toilette und hat stundenlang versucht, seine Sachen trockenzukriegen ... der muß doch voll naß gewesen sein ... als ich ihn gesehen habe, war der trocken."
"Das kann man schon schaffen in zwei Stunden."
"Der hat wohl den Händetrockner zur Hilfe genommen."
"Da kommt auch gut Luft 'raus", meinte Ivo. "Das kann man schon schaffen."
"Der Rafa ... der Rafa gehörte schon in den Teich."
"Ich finde das alles so geil ... Noch mehr. Ich habe den Xentrix gefragt, was er davon hält, wenn gewisse Leute andauernd zu ihm kommen und ihre Tapes spielen lassen.
'Ach, du meinst doch bestimmt Rafa und Dolf', hat Xentrix gesagt. 'Dieser Dolf geht mir allmählich wahnsinnig auf die Nerven. Ich nehm' das Zeug nicht mehr. Ich lasse mir diese Tapes nicht mehr 'reingeben. Mit den Tapes ist Schluß.'
Ich sage dir, der Stern von Rafa ist am Sinken ... der ist rapide am Sinken ..."
"Sicher, wenn er und Dolf so aufdringlich 'rüberkommen, kann die am Ende keiner mehr ab."
"Wie du mit Rafa überhaupt ... ich sage, das will mir immer noch nicht in den Kopf ... aber lassen wir das ..."
"Rafa tut so, als wäre das, was er macht, wer weiß was. Eine Weile zieht das, aber wenn sich in seiner Musik nichts weiterentwickelt, geht es bald wieder abwärts."
"Wie es mit ihm selber auch ist."
"Sicher", bestätigte ich. "Er denkt sich seine Musik toll, er denkt sich toll, er lügt sich toll und glaubt das dann auch. Rafa lebt in einer Welt des Scheins."
"Der Mann ist mir vollständig egal."
Da ich Rafa nicht bei mir haben konnte, beschloß ich, endlich ins "Trauma" zu gehen. Ich erinnerte mich daran, daß Ivo auch hatte ausgehen wollen und fragte ihn, ob er mitkäme.
"Timo ist nicht in H.", antwortete Ivo. "Ich wäre nur ausgegangen wegen Timo. Er ist nicht da; deshalb bleibe ich zu Hause."
"Würdest du auch ausgehen wegen mir?"
"Ach, das muß nicht sein. Timo ... wegen dem wäre ich ausgegangen, weil der aus Bad S. gekommen wäre."
"Und weil ich nicht von auswärts komme, gehst du wegen mir nicht ins 'Trauma'."
"Ach, das muß heute wirklich nicht sein. Timo kommt morgen, dann schauen wir bei dir 'rein. Ach, übrigens - gehst du denn nun ins 'Trauma'?"
"Ich muß hingehen."
"Dann ... sprich' doch nochmal mit Gerald wegen dem Termin", bat Ivo. "Ich möchte endlich wissen, wann ich im 'Trauma' auflegen kann."
"Dafür bin ich auf einmal gut", dachte ich.
Im "Trauma" tanzte ich vier Stunden lang, und das bringe ich nur fertig, wenn es mir dort sehr gefällt. Ich traf meinen alten Bekannten Telgart wieder und den Bewunderer, der findet, daß es niemanden gibt, der so wie ich tanzt.
Am nächsten Tag, dem Samstag, kamen Ivo und Timo zu mir.
"Ich suche und suche nach jemandem, der so tanzt wie ich", erzählte ich am Kaffeetisch.
"Den gibt's nicht", sagte Timo sogleich.
Er meint, das sei "eine einmalige Auflage".
"Rafa ist ja wohl abgehakt", zeigte Ivo sich beruhigt. "Also, ich will ja zu gern wissen, wer den in den Teich gesetzt hat. In SHG. gibt es Kurzhaarige, die können den nicht ab, vor denen hat der Bammel. Und die waren wohl in der 'Halle'. Das waren Kurzhaarige, die Rafa gebadet haben."
"Es wird in meinem Leben wohl so weitergehen", seufzte ich. "Der Nächste ist wieder in Richtung 'schwul' und hat eine besondere sinnliche Ausstrahlung. Andere machen mich gar nicht erst an."
"Na, dann fallen wir ja 'raus", sagten Ivo und Timo. "Wir sind nicht ein bißchen schwul."
"Hätte der sein Kleid angehabt", meinte Timo, "das hätte ich dem gerne hochgehoben."
"Echt - Rafa hat ein Kleid", wußte Ivo.
Ich berichtete von den Verhandlungen mit Gerald. Sie waren begleitet worden von Joëls Zwischenrufen:
"EBM gibt's nicht!"
Timo erzählte, er habe Rafa am Mittwoch in dem großen Ballsaal "Zone" in HF. gesehen. Das war zwei Tage vor unserer Verabredung am Karfreitag, die Rafa nicht einhielt.
"Hatte er schon eine Neue?" fragte ich.
"Noch nicht gesehen", antwortete Timo.
"Sucht wohl", vermutete ich.
"Frischfleisch", sagte Ivo. "Terrain ausweiten. Hat im 'Elizium' alle durch. Du warst Nummer 240."
Zu den Ereignissen der vergangenen Tage bemerkte Ivo:
"Das hätt' ich dir sagen können, daß das so läuft."
"Hast du mir doch auch."
"Es wäre sonst das erste Mal gewesen, daß der aus seinem Schema fällt. Das ist immer das Gleiche bei dem."
Constri hat Rafa schon gesehen, bevor er mich kennenlernte.
"Ich wußte, wer das war", sagte sie. "Da gab es eine Zeit im 'Elizium', da ist fast keiner gruftimäßig 'rumgelaufen. Rafa war einer der Wenigen. Er war stark geschminkt, mit Lippenstift und so weiter."
"Daß muß ein Grund dafür gewesen sein, daß er mir nicht aufgefallen ist", nahm ich an. "Ich habe nur eine Maske gesehen, kein Gesicht."
"Für dich war er halt nur irgendein Gruft."
"Und irgendein Gruft ist mir gleichgültig."
Carl erzählte, daß er Rafa im "Elizium" öfter auf der Toilette sieht.
"Geht der in die Kabine, wie du?" fragte ich.
"Ich sehe den meistens, wenn ich vorm Spiegel stehe; da kommt der dann vorbei."
Am Sonntag haben Ivo und ich wieder miteinander telefoniert.
"Ich finde es beeindruckend, wie austauschbar für Rafa die Menschen sind", sagte ich. "Ich finde es beeindruckend, mit welcher Gefühllosigkeit er ihnen begegnet."
Nichts, nichts hält ihn an ihnen.
"In einem Café", erzählte Ivo, "hat er über alles, was Luisa in seinen Augen falsch gemacht hat - ein Brötchen falsch geschmiert oder so - laut genörgelt, so daß es jeder in dem Café hören konnte. Rafa hat es absichtlich getan, und er hat es richtig genossen, sie zu quälen.
'Ooh, wie machst'n das?' hat er sie gegängelt. 'Soo macht man das aber nicht.'
Luisa wurde immer wütender."
"Rafa muß andere treten, um sich besser zu fühlen. Ich habe mir bald denken können, daß eine Beziehung auf Gegenseitigkeit, wie wir beide, du und ich, sie haben, mit Rafa unmöglich ist. Immer ist einer oben und der andere unten."
"Rafa will oben sein, grundsätzlich", meinte Ivo. "Er will der King sein, der über die anderen gebietet."
Und ich - ich werde nie "unten" sein. Das hat Rafa wohl gestört.
"Ich habe Lust, Rafa fertigzumachen", sagte ich. "Er hat mir Lust gemacht, ihn fertigzumachen."
"Wirklich - der muß eine Schraube locker haben, wenn der immer noch behauptet, er sei mit mir befreundet. Das ist doch sowas von klar, daß die Freundschaft beendet ist. Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Wir haben keine gemeinsame Grundlage mehr."
"Spricht Rafa noch mit dir?"
"Hin und wieder."
"Ich verstehe gar nicht, wie es überhaupt möglich ist, mit Rafa eine längere Freundschaft zu unterhalten."
"Freundschaft ... was war das im Grunde?" sinnierte Ivo. "Was hat sich wirklich gehalten? Der Ivco aus SHG., der meistens dabei ist, ist für Rafa nur ein Fahrer. Und Dolf ist Rafas Diener. Die Könige im Mittelalter hatten solche Laufknaben auch. Dolfs Aufgabe ist es, zu lauschen und Gerüchte in die Welt zu setzen. In seine Bude durfte ich ja nie. Angeblich sollen da noch 'BRAVO'-Poster an den Wänden hängen ..."
"Die Zimmer von Rafa kennst du aber."
"Da habe ich schon drin übernachtet", sagte Ivo.
"Der hat eine Gästematratze."
"Auf der habe ich gelegen."
"Ich auch."
"Bei allem, was ich gegen Rafa sagen kann ... was seine Gastfreundschaft angeht, kann ich einfach nichts gegen ihn sagen", lobte Ivo. "Seine Gastfreundschaft war immer ausgezeichnet. Ich frage mich, woher er das hat ... vielleicht hängt das - wie sein sicheres Fahren - mit seinem Vater zusammen ... Alles hatte er da, Kaffee, etwas zu essen, sogar Duschen war drin, im Sommer, wenn wir in BO. gewesen waren ..."
Seine Stimme klang fast wehmütig. Ivo schien die Entdeckung zu freuen, über Rafa etwas Gutes sagen zu können.
"Der war fast unterwürfig", meinte Ivo. "'Wollt ihr vielleicht noch Kaffee?' hat er uns gefragt ... der hat uns seine Gastfreundschaft fast aufgenötigt ..."
Auch Dracula darf sich seiner Gastlichkeit rühmen. Er macht seinen Opfern sogar das Bett - wie Rafa ...
Über den Sockenschuß wußte Ivo, daß der längere Zeit bei Kappa in der Redaktion des "Autodafé" geschlafen hat.
Von Inya wußte er:
"Die wollte Rafa fest. Aber du kennst Rafa. Der rafft das nicht. Da sollen auch Sachen passiert sein ... leider weiß ich die nicht mehr auswendig ... die Inya hat wohl einiges mitgemacht ... die könnte dir auch eine Menge erzählen ..."
Ich denke mir, daß mit Rafa doch vielleicht ein Kelch an mir vorübergegangen ist.
Am Ostersamstag habe ich auf das "Elizium" verzichtet. Rafa war aber da, mit hochgestellten Haaren. Carl hat beobachtet, daß Rafa sich die meiste Zeit mit einem Mädchen unterhielt, das sonst nicht ins "Elizium" gegangen ist. Das Mädchen soll rothaarig sein.
"Er führt sein schematisiertes Verhalten fort", entnahm ich dem. "Es gibt für Rafa auch keine Veranlassung, es zu ändern."
"In dem fortgeschrittenen Alter ändert sich auch nichts mehr", meinte Carl.
Die Nachricht von Rafas neuer Begleitung blieb für mich nicht folgenlos. Ich verlor die Fassung. Man könnte auch sagen: In mir brannte eine Sicherung durch. Am Mittwoch stritt ich sinnlos mit Constri herum, und sie fühlte sich angesteckt, so daß es zu einer Art Gemetzel kam. Sie nahm mir meine Schreibtischlampe weg, und ich schlug auf sie ein und zerriß ihr Schlafanzugoberteil. Sie zerkratzte mir Gesicht und Hände. Ich erfand nach unserer Versöhnung eine Frisur, die die zerkratzte Gesichtshälfte so verdeckt, daß es gewollt aussieht. Der Pony wird wie ein Springbrunnen geformt. Constri findet es hübsch, wenn ich mir Strähnen ins Gesicht hängen lasse.
Noch immer schwebt bei mir daheim etwas in der Luft wie der Geruch nach frischem Blut, ein anklagender Geruch, ein Geruch nach Schuld. Es ist der Geruch von Constris Tränen.
Ich bin mit Constri eng verbunden, und was ich ihr tue, tue ich mir selbst. Indem ich Constri angegriffen habe, habe ich versucht, mich selbst zu zerfleischen.
Weil ich Rafa nicht vergelten kann, was er mir angetan hat, wollte ich meine grenzenlose Wut an mir selbst auslassen. Das soll nie mehr geschehen. Ich will nie mehr vergessen, wer mich verletzt hat. Ich will nur noch auf den einschlagen, der sich an mir schuldig gemacht hat. Der soll leiden, der es verdient. Die Grausamkeiten, die einer an mir verübt, sollen auf ihn zurückfallen. Er soll sie fühlen, und nicht nur einmal, sondern wieder und wieder und wieder. Was er getan hat, soll ihn quälen. Es soll an ihm hängenbleiben. Es soll nicht mehr weichen aus seinen Gedanken.



Am Donnerstag rief Ivo mich an und unterbreitete mir einen Vorschlag, mit dem er mir entgegenzukommen meinte.
Wir hatten geplant, mit Timo, Rayko und einem Pärchen aus Ivos Bekanntenkreis - Bias und Edit - nach Amsterdam zu fahren. Die Reise sollte am Freitag losgehen. An diesem Tag gab es in BO. im "Fall" eine Sonderveranstaltung. Die Gruppe Plastic Noise Experience wollte ein neues Video vorstellen. Diese Veranstaltung wollten wir besuchen und anschließend in der Nacht weiterfahren nach Amsterdam.
Ivo wußte von mir, daß ich von tagelangen Reisen ohne Zwischenübernachtung nicht viel halte. Da war ihm eingefallen, daß auch Till nach Amsterdam fahren wollte, allerdings erst am Samstag und nicht über BO.
"Du könntest mit Till fahren", meinte Ivo. "Dann sind wir nur fünf und brauchen nur ein Auto."
"Ich habe mich auf BO. eingestellt und vorbereitet", entgegnete ich. "Ich will das nicht mehr umwerfen, einen Tag vor der Fahrt. Außerdem - vergiß' Till. Der kommt nicht nach Amsterdam, das sage ich dir. Der will schon gerne fahren, aber der schafft das nicht. Ich glaube, so wichtig ist ihm das nicht, da hinzukommen. Auf Till will ich mich nicht verlassen. Nein, ich komme besser mit euch mit."
Ivo war es zufrieden. Er fragte mich, ob ich denn Lust hätte, am heutigen Abend mit nach BS. zu fahren. Im "Reentry" würden Paranoid auftreten. Saubere Electronic Body Music gefällt mir. Also sagte ich zu. Vor dem Konzert besuchte Ivo mit mir noch eine seiner alten Bekannten aus dem "Elizium". Sie heißt Lia Frey, ist zwanzig Jahre alt und studiert in BS.
"Lia stammt aus SHG.", erzählte Ivo. "Sie hält von Rafa auch nichts."
Ich konnte mich an Lia nicht erinnern; sie jedoch wußte gleich, wer ich bin.
"Du studierst Medizin, nicht?" sagte sie.
"Woher hast du das denn?" fragte ich erstaunt.
"Hört man so ... Luisa erzählte das ..."
"Die kenne ich gar nicht."
"Die hat das vielleicht von ... Rafa sagte sowas ..."
Lias Studentenwohnung ist in Grau und Schwarz eingerichtet. In der Höhe spielt sich so einiges ab, was mich an Rafas Lust an morbider Zier denken ließ. Schwarze Pappfledermäuse hängen an abenteuerlich gekrümmten Drähten, umgeben von Halogenlämpchen. An der Flurdecke strahlt eine Art Sternenhimmel.
"Ich fand Rafa auch mal toll", sagte Lia und brachte uns Kaffee.
Ich habe ihr nicht erzählt, wie ich Rafa finde.
"Ich kenne ihn seit fünf Jahren", fuhr Lia fort. "Ich war fünfzehn damals, dumm und naiv. Ich hasse Rafa schon länger. Zu jedem Mädchen, das sich in ihn verguckt, möchte ich sagen:
'Gib dich mit dem A...loch nicht ab.'
Auf Luisas Geburtstagsparty ist Rafa ja 'rausgeworfen worden."
"Richtig 'rausgeworfen?" fragte Ivo nach.
"Richtig 'rausgeworfen. Das war ja auch ... der hing in Luisas Zimmer und hörte seine Musik. Der Rest von den Leuten war im Wohnzimmer. Kam Rafa irgendwann ins Wohnzimmer und legte ein Tape mit seiner Musik ein. Da sind alle in Luisas Zimmer 'rübergegangen und haben ihn allein in dem Wohnzimmer gelassen."
"Wann war denn Luisas Party?" erkundigte ich mich.
"Die war im Februar - Mitte Februar."
"Ist Rafa abhängig von Luisa?" forschte ich.
"Sicher ist der das", antwortete Lia.
"Der macht immer einen auf unabhängig."
"Ist der nicht. Ist der nicht. Der tut immer so unnahbar ... so unberechenbar ..."
"Er sagt, wenn er berechenbar wird, nimmt er sich einen Strick", erzählte ich. "Den kann er sich bereits nehmen."
"Luisa zieht nach H."
"Das ist wohl das Beste, was sie tun kann."
"Sie will es aber nicht. Sie muß es aus beruflichen Gründen."
"Die ist wohl auch ziemlich abhängig von Rafa."
"Hin und wieder hat die schon mal einen Freund."
"Rafa war kürzlich im 'Zone', was Neues suchen", berichtete Ivo.
"Ach? Was ist denn mit Sanne?" fragte Lia.
"Sanne?" fragte Ivo verwirrt.
Über Einzelheiten schwieg Lia sich aus. Rafa scheint aber mit der blonden Sanna aus dem "Elizium" zusammenzusein oder zusammengewesen zu sein.
"Die Sanne weiß schon, worauf sie sich einläßt", meinte Lia.
"Sie steht drüber", mutmaßte ich.
"Genau."
"Seine Freundinnen wechselt er immer schnell. Bei dem ist das eine Frage von Tagen."
"Sicher", bestätigte Lia. "Ich kenne Rafa."
"Oft ist es sogar eine Frage von Stunden."
"Er zieht die Mädchen ins Bett - dann hatte er sie, und sie sind ihm gleichgültig."
"Und was ist, wenn er es nicht schafft, sie ins Bett zu ziehen?"
"Der schafft das", war Lia sicher. "Der schafft das so gut wie immer."
"Kann das nicht sein, daß der das mal nicht schafft?"
"Ich weiß nicht."
Lia sagte, sie könne selbst die Männer nicht mehr zählen, mit denen sie schon etwas gehabt hätte.
"Natürlich hatte ich mit Rafa auch etwas", setzte sie hinzu.
"Richtig?" fragte ich.
"Nein. 'rumgeknutscht haben wir mal."
Lia betonte, daß sie nicht Rafas Opfer geworden ist.
"Es gibt Mädchen, vor denen hat Rafa Respekt", meinte sie.
"Mit denen kann er nicht zusammensein", folgerte ich, "weil er vor denen, mit denen er zusammen ist, keinen Respekt hat."
"So ist es."
"Und vor dir hat er Respekt."
"So ist es."
"Dann kann er theoretisch mit dir auch nicht reden."
"Tut er auch nicht."
"Hat er bei dir eigentlich auch immer den Beifahrersitz belegt?" wollte ich wissen.
"War nicht!" antwortete Lia. "Der kam schön nach hinten. Den setz' ich nicht neben mich. Das wäre noch was."
Lia geht kaum noch ins "Elizium". Sie hat aber mitbekommen, wie Rafa sich an mich heranmachte.
"Wir haben uns schon gefragt, was das wohl wieder wird", erzählte sie.
Man redete also darüber, legte den Fall jedoch bereits zu den Akten.
"Ich will bloß wissen, wer Rafa in den Teich gesetzt hat", fing Ivo wieder an. "Und ich will wissen, wie die das geschafft haben, ihn da 'reinzusetzen. Er ist ja nicht der Kleinste."
"Vielleicht hatte er in seinem Innern das Gefühl, in den Teich zu gehören", vermutete ich. "Oder sie haben ihn ganz einfach überrumpelt."
"Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen ..."
Ivo beruhigte sich nicht.
Im "Reentry" tanzte der Sänger von Paranoid mit dem Publikum, und das Publikum tanzte auch mit dem Sänger, um ihn aufzuheitern. Er hatte sich darüber beschwert, daß nicht genug getanzt würde.
Lia schwärmte von Gary Oldman. Er spielt die Titelrolle in Coppolas "Dracula"-Version.
"Rafa ähnelt Bela Lugosi so verdammt", meinte ich.
"Unsinn", fand Lia. "Rafa ist potthäßlich."
Ich erwiderte, Gary Oldman sei potthäßlich.
Nach dem Konzert gingen wir noch einmal zu Lia. Ivo und ich wollten von ihr wissen, was man im "Elizium" so über uns redet und wer über uns redet.
"Was sollen die schon sagen?" wich Lia aus. "'Ach, die schon wieder' vielleicht."
"Wer sagt denn was genau?" forschte ich nach.
"Ist nicht wichtig", meinte Lia. "Ist nicht von Belang. Ich gebe nichts auf das Gerede."
"Ich auch nicht. Wissen möchte ich aber schon, was geredet wird, einfach, damit ich weiß, was ich von wem zu halten habe."
"Das ist nicht wichtig, echt nicht."
Auf keinen Fall wollte Lia uns die Wahrheit sagen.
Wir kamen auf die Todesstrafe zu sprechen. Lia und Ivo halten sie für eine menschenfreundliche, schnelle, saubere und kostengünstige Lösung. Ich zählte den beiden eine Reihe von Gegenargumenten auf:
Man sei nie sicher, daß man den Richtigen töte ... in der Geschichte sei die Todesstrafe immer wieder mißbraucht worden ... der Tod sei keine gesellschaftliche Wiedereingliederung ... die abschreckende Wirkung der Todesstrafe sei nicht nachgewiesen ... der Mensch solle sich nicht anmaßen, über Leben und Tod seiner Mitmenschen zu entscheiden ... ein unschuldig Hingerichteter sei nicht wieder lebendig zu machen ...
Lia und Ivo blieben bei ihrer Haltung.
"Ich kann nichts dagegen machen, daß ich für die Menschenrechte eintrete", sagte ich schließlich. "Ich bin eben Verfechter der Menschenrechte."
Damit war unser Gespräch über die Todesstrafe beendet.
"Ich will nicht Luisa sein", sagte ich auf der Rückfahrt nach H. zu Ivo. "Mit Fug und Recht kann ich trotz allem, was war, behaupten, daß ich ein freier Mensch bin. Ich hatte nie eine Beziehung, und ich kann das sagen, ohne mit der Wimper zu zucken, weil es die Wahrheit ist."
"Das ist aber auch ungewöhnlich für dein Alter."
"Allerdings."
"Das ist aber auch nicht normal."
"Ist es auch nicht", stimmte ich Ivo zu. "In gewisser Weise bin ich stolz darauf. Ich habe das ganze Hin und Her nie mitgemacht. Ich habe mich immer herausgehalten. Was sollte ich auch mit einem, den ich gar nicht will?"
"Hast du eigentlich recht."
"Ich hatte den Eindruck, Lia trägt ihre Bettgeschichten sehr vor sich her."







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Am Freitag holte Ivo mich am frühen Nachmittag ab. Es störte ihn, daß ich noch meinen Salat essen wollte, bevor wir losfuhren. Doch ich bestand darauf. Es war ein erlesener grüner Salat mit Batavia, Gurken, Auberginen, Oliven, Schafskäse und Peperoni. Constri hatte ihn zubereitet, und sie mengte ihn an mit Zitronensaft, Öl, Salz und Pfeffer. Es war undenkbar für mich, ihn stehenzulassen.
Die Sonne schien, und es war recht warm. Auf der Fahrt nach Bad S. legte ich ein Band mit hartem Techno ein. Ivo zeigte mir die Ausfahrt nach SHG.:
"Hier geht's nach SHG."
Es sollte wohl nicht vergessen werden, daß wir uns auf dem Weg nach BO. befanden. Die Strecke ruft in Ivo viele Erinnerungen wach.
"Stell' dir vor, wir finden Rafa auf der Standspur", sagte ich.
"Hör' bloß auf", wehrte Ivo ab. "So früh fahren die nicht, nie."
"Ich bezweifle, daß die überhaupt fahren."
"Ach, die fahren. Wie ich Dolf kenne, quengelt der so lange herum, bis die fahren. Zu Plastic Noise Experience muß der."
Übelkeit und Bauchschmerzen waren mir auch an diesem Tag wieder eine Last. Seit Wochen werde ich das nicht mehr wirklich los. Es ist wie eine Warnung. Ich hoffe, daß mir bald ein Traum sagt, wovor ich mich in Acht nehmen muß.
In Bad S. warteten Timo, Rayko, Edit und Bias auf uns. Timo versuchte, Ivos Kassettendeck heilzumachen. Es ließ sich nicht mehr einschalten, und daran hatte ich Schuld. Ich kann nicht mit Auto-Reverse-Decks umgehen.
Ivo, Edit und Bias fuhren in einem Wagen, Rayko, Timo und ich in dem anderen. Wir hörten meine Techno-Kassette weiter. "Age of Love" von Age of Love dröhnte mit seinen kratzenden, schneidenden Höhen durchs Auto. Die Jungen hüpften auf ihren Sitzen herum.
Wir erreichten das "Fall" bei Tag. Ich machte ein Bild von dem verschlossenen Eingang. Es war das erste Mal, daß ich das "Fall" sah. Wir standen eine Stunde lang davor. Ich verteilte Süßigkeiten aus Schaumzucker, Lakritze und Weingummi, von denen ich in H. eine große Tüte gekauft hatte. Wir gingen auch noch in einen griechischen Imbiß gegenüber vom "Fall".
Der Geruch nach Patchouli und künstlichem Nebel hing schon vor dem "Fall" in der Luft. Hier konnte Rafa Vorbilder und Anregungen gefunden haben. Hier hatte sich das ereignet, was ihm viele Bekannte und Freunde abspenstig gemacht hat. Wieder einmal war ich froh, nicht Luisa zu sein. Wieder einmal war ich froh, nicht in einer Welt gefangen sein zu müssen, die nur aus einer Kleinstadt, dem "Fall" und dem "Elizium" besteht.
Alle Gäste erhielten am Eingang eine CD-Sonderauflage von P.N.E. Die Hülle ist mit dem Namen des "Fall" bedruckt.
Wir kamen in einen Barraum mit Tischen. Über der Theke steht in Neonschrift "Lebensmittel". Der Bereich ist gegen den Eingang durch ein Geländer abgegrenzt. Hinter dem Barraum stehen ein Pooltisch und ein Tischfußballspiel. Daneben wurden CD's und Magazine verkauft.
Dirk I. sprach Ivo an. Der begann mit ihm gleich ein Interview. I. macht das Projekt Dive. Dive ist recht bekannt - auch unter Leuten, die sonst keine Industrialmusik hören. Ich wußte von Ivo, daß er sein Stück "Black Sun" gerne noch einmal in einem Studio mit teuren Geräten aufnehmen wollte. Ich wußte auch, daß I. solch ein Studio zur Verfügung hat. Also begann ich, I. von dem Stück "Black Sun" zu erzählen, um Ivo ein Verhandeln zu ermöglichen. Da fuhr Ivo mir wütend dazwischen.
"Bist du verrückt geworden?" herrschte er mich an und wandte sich zu I.:
"It's nothing. No. No. It's nothing."
"Will er die Gelegenheit etwa gar nicht?" fragte ich mich. "Sieht er lieber zu den Berühmten auf, anstatt selber berühmt zu werden?"
Gart wurde mir vorgestellt. Er arbeitet bei einem Label mit, das Rafas Projekt herausbringen möchte. Gart hatte eine möhrenfarbige Struwwelfrisur und trug ein sackähnliches schwarzes Gewand. Er kannte von Rafa nur das Stück "Teile von Gott", und das kenne ich nicht. Ich erzählte Gart von der Kassette, die Rafa in der Schublade versteckt. Dann wollte ich Genaueres über die Hintergründe wissen, derentwegen Rafa den Bandnamen geändert hat. Gart meinte, das sei ein heißes Eisen für die Zensur. Breñal, der das Projekt Calva y Nada macht, soll Schlimmes erlebt haben mit der Zensur, die argwöhnisch seine Texte durchkämmte. Es gab ein Mißverständnis, und ...
"Da hat gleich die Zensur auf der Matte gestanden", erzählte Gart, "und die haben das ganze Label gefilzt. Die Pressung der CD-Auflage von Breñals erster Platte war für Wochen blockiert."
Breñal begegnete mir im Barraum. Ich fragte ihn nach der Sache mit der Zensur. Die Zensur scheint in der Tat auch in harmlose, unverfängliche Texte allerlei Merkwürdiges hineinzudeuten. Da stellt sich für mich durchaus die Frage nach der künstlerischen Freiheit.
Als Breñal weitergegangen war, fiel mein Blick auf einen der Tische dicht am Geländer. Dort saß Rafa. Ich war mir nicht sicher, ob er mich schon gesehen hatte.
"Es geht los!" rief mir jemand zu.
"Wo denn?"
"Oben!"
Erst jetzt sah ich die Treppe. Ich folgte den anderen Gästen in den großen, in Rot und Schwarz gehaltenen Tanzsaal. Wir warteten auf die Videoschau. Die Vorführer kamen mit den Geräten nicht zurecht. Ich beschloß, noch einmal hinunterzugehen. Ehe ich die Treppe erreichte, lief Dolf mir über den Weg und gab mir die Hand.
"Wie kommst du denn hierher?" fragte er verwundert. "Bist du mit Ivo gefahren?"
"Sicher, mit wem sonst."
Unten mußte ich am Pooltisch vorbeilaufen. Rafa spielte dort mit Sanna. Er entdeckte mich, hielt inne und machte große Augen. Ich lächelte über die Schulter hinweg und verschwand in der Toilette. Als ich wieder herauskam, achtete ich darauf, daß ich nicht zu lange in Rafas Blickfeld blieb.
Die Filme von Plastic Noise Experience waren kurz, und ich fand sie eher durchschnittlich. Als sie zuende waren, sagte Timo:
"Aus! Wir können 'runtergehen. Die bauen erst um; das dauert."
"Die bauen um? Für was?"
"Abdancen ist angesagt."
Unten setzten wir uns an den Tisch, an dem Rafa vorher gesessen hatte. Ich sah zu ihm hinüber; er spielte immer noch Pool, nun allerdings mit Dolf. Rafa schien mich nicht zu sehen oder nicht sehen zu wollen. Ich zog mir den Mantel fest um meine Schultern. Ich fror und hatte Bauchschmerzen - schon wieder.
Wir saßen zu acht oder neunt am Tisch. Die Musik war so laut, daß man kaum Gespräche führen konnte. Man war also in Gesellschaft vereinzelt. Wenigstens gefiel mir die Musik im "Fall".
Nach einiger Zeit lief Rafa mit ein paar Leuten am Geländer vorbei nach draußen, vermutlich zum Imbiß. Er grinste und redete. Er sah nicht in meine Richtung. Ivo hatte die Idee, ins "For you" zu gehen, einen EBM-Laden nicht weit vom "Fall". Die Idee wurde angenommen; vorher wollte man jedoch noch einmal zum Verkaufsstand. Wir hielten uns dort eine Weile auf. Rafa und seine Begleiter kamen zurück. Gart redete mit Rafa und Dolf. Sie standen in unserer Nähe - zwischen einer Säule und dem Pooltisch. Rafa verschwand schließlich ins Herrenklo. Als er wiederkam, stellte er sich etwas anders hin als vorher; sein Gesicht war mir zugewandt. Dann weiteten sich seine Augen ein wenig, ein Lächeln erschien, und Rafa machte sich auf den Weg zu mir. Ich kam ihm entgegen. Er umarmte mich zurückhaltend.
"Auch da", sagte er.
"Ich bin auch da", nickte ich. "Du warst ja auch vor einer Woche bei mir."
"Ich wollte kommen!" beteuerte Rafa. "Und ich komm' auch noch!"
"Am Samstag davor warst du auch im 'Elizium'."
"Hätte ich gewußt, daß du mir die Fahrkarte nach SHG. bezahlst, ich wäre dagewesen."
"Ich war um halb vier im 'Elizium, und Dolf war da noch."
"Mit dem bin ich aber nicht gefahren."
"Du hättest mich am Samstag anrufen können", tadelte ich Rafa. "Du hättest mich am Montag anrufen können. Du hättest mich am Dienstag anrufen können ... du hättest am Freitag, dem 09. da sein können ..."
"Ich konnte nicht", wand er sich. "Da war ... Ich wollte dich auf jeden Fall anrufen."
"Hast du aber nicht."
Rafa seufzte.
"Ich komme wirklich noch", versprach er.
"So, so."
"Ich lüge nie!"
Meine Finger hatten sich um sein Revers geschlossen.
"Das stimmt nicht", entgegnete ich. "Du lügst andauernd."
"Ich konnte nicht ..."
"Daß du nicht zu mir kommen konntest, glaube ich dir - aber nicht den Grund, den du angibst", sagte ich streng. "Du kannst dir den Strick übrigens nehmen. Ich kann dich berechnen. Du hast gemeint, wenn du berechenbar wirst, nimmst du dir einen Strick."
"Wenn ich berechenbar werde für ... hier ist die Rede von anderen Leuten ... mir ist gleichgültig, was andere Leute über mich -"
"Du hast gemeint, wenn andere Leute dich berechnen können, nimmst du dir einen Strick."
"Ich suche mir aus, wie ich mit wem zu tun habe", sagte Rafa trotzig und entschwand.
Ich erzählte Edit, ich hätte Rafa versprochen, ihn zu foltern, und ich sei nun am Überlegen, wie ich das Versprechen einhalten könnte. Ivo erzählte ich, Rafa sei in Entschuldigungen ertrunken. Ivo beschäftigte noch immer die Tatsache, daß Rafa den Namen seiner Gruppe geändert hat. Er konnte Rafas Entscheidung nicht nachvollziehen. Aus mehreren Gründen wurde Ivo innerhalb von Minuten immer wütender auf Rafa. Das gipfelte in der Äußerung:
"Der soll bloß wegbleiben, die dreckige Sau."
Der Gang ins "For you" wurde noch verschoben. Ivo, Timo und ich tanzten fast ununterbrochen. Gelegentlich erschien auch Dolf. Rafa kam nie auf die Tanzfläche. "Der Sturm" von Calva y Nada lief und "Dead or alive" von Dive.
Nach einer knappen Stunde kündigte Ivo an:
"Wir wollen ins 'For you'."
"Ich würde gern noch hierbleiben", sagte ich.
"Das wollte ich auch", meinte Timo.
Also ließen er und ich die anderen gehen. Sie versprachen, uns um halb drei abzuholen.
"Religion" kam, ein neues, schnelles Stück von Front 242. Den Gästen des "Fall" schien es noch unbekannt zu sein. Timo und ich machten eine "Performance" zu zweit.
Als "Slave Sex" von Die Form lief, entdeckte ich dicht bei mir am Rand der Tanzfläche Rafa, der zu mir herübersah. Als das Stück zuendeging, hörte ich nicht auf zu tanzen, sondern machte beim nächsten gleich weiter, denn das war "Strap me down" von Leæther Strip. Rafa warf seine Zigarette schwungvoll auf den Boden, drehte sich mit einem Ruck um und schritt von dannen.
Nach einem sehr schnellen Stück war mir schwindelig. Ich nahm mir Süßigkeiten aus meiner Tüte. Timo fragte mich, ob ich nicht mit nach unten kommen wollte, damit wir uns ein wenig abkühlten. Wir wählten einen Platz, von dem aus ich Rafa beim Tischfußballspiel zusehen konnte. Er spielte mit einem Bekannten, vermutlich seinem Fahrer.
Als "Rocket U.S.A." von Dive kam, rannten Timo und ich wieder hinauf. Rafa kam ebenfalls; er stellte sich mit Dolf an eine der Bars. Etwas später gingen Timo und ich noch einmal nach unten, um etwas zu trinken zu holen. Wir setzten uns an den Tisch, an dem wir mit den anderen gesessen hatten. Mich hielt es dort nicht lange. Ich ging allein zurück zur Tanzfläche. Neben der Box, bei der mein Mantel lag, stand Rafa mit seinem Bierglas. Ich legte meine Tasche unter den Mantel. Als ich mich aufrichtete, stand ich unmittelbar neben Rafa, und ich stützte meinen Arm ebenso auf die Box, wie er seinen aufstützte. Vorsichtig sah ich zu Rafa hinüber, und er fragte:
"Was 's' los?"
"Was 's' los?" fragte ich zurück.
"Ich habe dich das gefragt", kam es von Rafa. "Also, was 's' los?"
"Nichts ist los."
"Das ist nicht viel."
"Nein ... Sag' mal, warum tanzt du eigentlich nicht?"
"Weil die Musik nicht entsprechend ist."
"Die ist doch geil. Zum Beispiel ... ja."
"Deiche" von den Sex Gang Children kam. Während ich dazu tanzte, überlegte ich mir, was ich Rafa fragen konnte, sofern er danach noch bei dem Lautsprecher stand. Er stand noch da. Ich stellte mich wieder neben ihn und fragte:
"Stimmt es eigentlich, daß die dich in der 'Halle' in den Teich gesetzt haben?"
"Ja", antwortete er nach kurzem Zögern.
"Wer war denn das?"
"Ich weiß es nicht."
"Warst du richtig naß?"
"Nur hier am Ärmel."
"Und dann bist du für zwei Stunden in der Toilette verschwunden, um dich wieder trockenzukriegen?"
"Wer sagt das denn?" fragt Rafa erstaunt.
"Warst du nicht zwei Stunden in der Toilette?"
"Nein."
Wir schweigen. Rafa dreht sich zu mir und wieder weg. Er sieht zwischen seinen Haarsträhnen hindurch und grinst mich an, macht große Augen und grinst weiter. Ich sehe ihm zu und kichere vor mich hin.
"Du wolltest mir noch deine Bißstellen zeigen", erinnere ich ihn.
"Ich wollte nicht, ich sollte", stellt er klar. "Das ist ein Unterschied von einem Buchstaben."
"Ach - zum Thema 'Bela Lugosi': hast du deinen Bela-Lugosi-Blick eigentlich eingeübt?"
"Das müßtest du doch wissen. Du kennst mich doch seit der Sandkiste."
"Tue ich das?"
"Scheint doch so!"
"Wieviele Jahre ist das denn nun her?"
"Das kannst du dir doch denken, daß wir nicht erst vor drei Jahren in der Sandkiste gespielt haben."
Er guckt und grinst wieder eine ganze Weile. Zwischendurch dreht er sich weg und schielt um die Ecke, als wolle er sich vergewissern, daß ich ihn noch ansehe.
Sein Gesicht schaue ich mir recht genau an. Es ist geschminkt und gepudert. Rafa hat wieder sein Zöpfchen und trägt das Stirnband, die Kniehosen und eine schwarze Jacke mit ganz besonders vielen Metallknöpfen auf den Ärmeln.
"Du hast den Blick bestimmt geübt", nehme ich Rafa die Antwort ab.
Er legt sich einen Finger auf den Mund.
"Ach, jetzt kommt das wieder", bemerke ich.
"Mädchen!" erregt sich Rafa. "Ich schweige, um dich nicht zu beleidigen!"
"Vielleicht fürchtest du dich auch nur davor, daß du, wenn du mich beleidigst, das Doppelte zurückkriegst."
Nein, das weist er von sich.
"Du fürchtest dich gar nicht vor meinem Zynismus?" forsche ich weiter.
"Nein."
"Mutig", sage ich anerkennend.
Die Musik ändert sich. Der Geist von Xentrix scheint in den DJ gefahren zu sein, denn er beginnt, eine Art Volksmusik zu spielen.
"Das war's", meint Rafa. "Mr ganget."
Er wendet sich Dolf zu.
"So, ich gehe auch", sage ich, denn es ist halb drei.
Nachdem Timo und ich einige Zeit unten auf dem Geländer gewartet haben, wird die Musik wieder besser, und ich gehe wieder tanzen. Ein Stück fällt mir auf. Es klingt streng und altertümlich. Es stammt von dem Sampler "The Lamp of the invisible Light", ist von Blood Axis und heißt "Lord of Ages".
Dolf sehe ich noch gelegentlich, Rafa nicht mehr.
Timo und ich fahren zum "For you", aus dem uns unsere vier "Vermißten" entgegenkommen. Der Laden hat sie restlos begeistert.
"Nur EBM härtester Gangart", schwärmt Ivo. "Rein elektronisch!"
Ich gebe zu, das reizt auch mich sehr. Ich hätte mich auch nicht losreißen können - gar nicht, überhaupt nicht. Ich hätte die anderen zum "Fall" geschickt und getanzt bis zum Morgengrauen.
"In den Laden geht der Rafa bestimmt nicht 'rein", sagte Ivo.
Wir erlebten das Morgengrauen auf der Autobahn. An einer Tankstelle holte Timo eine Tüte Johannisbeer-Weingummis.
"Du hast nun die Aufgabe, den Fahrer zu füttern", erklärte er und warf mir die Tüte in den Schoß. Immer, wenn er Nachschub wollte, baute er seinen Wunsch verschlüsselt in unsere Unterhaltung ein.
"Dieses Stück mag ich gerne - genauso gerne wie schöne rote Johannisbeeren", hieß es etwa - oder:
"Ich geb' Stoff. Gibst du mir Stoff?" oder:
"Da gibt es sowas Gummiartiges, Kleines, Rundes ..." oder:
"Kannst du die Dosis erhöhen?"
Ich aß ohne Unterbrechung. Rayko sah von den Weingummis nichts, weil er auf der Bank schlief.
An der Grenze fuhren wir durch, denn die Glashäuschen waren leer.
"Ist eh keiner zu Hause", sagte Timo.
In Holland werden Raststätten-WC's nachts verschlossen. Erst gegen sechs Uhr wurde mir die Tür einer Raststätte zögernd aufgetan. Ich arrangierte mich umständlich mit der Toilettenanlage, deren tägliche Reinigung noch bevorstand.
In Amsterdam schimmerten uns futuristische, an die Werke Gaudis erinnernde Bürobauten entgegen. Um sie herum gab es nur sandiges Brachland, von geraden Wasserläufen durchzogen. Der Himmel war stumpf grau. Wir fuhren über gewaltig breite Straßen, mit denen streckenweise auch Gleiskörper verliefen.
Ich erinnerte mich daran, daß wir noch einige Stunden auf einem Rastplatz hatten schlafen wollen. Die Jungen waren zuerst dagegen, noch einmal umzukehren, taten es dann aberdoch. Ich glaube nicht, daß sie es bereut haben, denn auf dem Rastplatz hatten wir wirklich unsere Ruhe und fanden auch Schlaf.
In der Stadt stellten wir den Wagen hinter dem "Sleep in" auf einen stillen, fast leeren Parkplatz. Wir hatten nicht vor, das "Sleep in" zu betreten. Laut Timo ist es so ziemlich das Scheußlichste, was man sich unter einem Hotel vorstellen kann.
"Was für dich!" spielte er auf mein ausgeprägtes Ekelempfinden an.
Wir frühstückten in einem modernen Café. Wie durch Zufall kamen auch Ivo, Edit und Bias dorthin.
"Hast du dich denn mit den Leuten aus SHG. noch unterhalten?" fragte Ivo mich verstohlen.
"Mh", machte ich und nickte.
"Was sagen die denn zu ihrer Namensänderung?"
"Hat Dolf doch schon gesagt. Es ist nichts anderes als das, was Gart sagt."
In dem Geschäft "Staalplaat" gibt es allerlei Seltsamkeiten, darunter eine Platte, deren Hülle aus zwei Stahlplatten besteht. An Stahlwänden sind mit Magneten Hunderte von Kassettenhüllen befestigt. Ich entdeckte ein Buch vom Hafler Trio. Es ist eine Abhandlung über den Menschen und die Klänge. Es gefällt mir, wenn Musikgruppen Literatur veröffentlichen. Es ist Teil einer allgemeinen Fusion der Künste. Ich finde das zeitgemäß und habe es lange erhofft. Ich sehe in den Neunzigern das Jahrzehnt der Fusionen.
Ivo kaufte Tonträger für einen halben Tausender ein. Ich fragte nach dem Sampler "The Lamp of the invisible Light"; leider gab es ihn nicht mehr. Ich suchte fünf CD's aus und ein T-Shirt mit dem senkrechten Schriftzug "Dominator"; daneben ist eine Zeichnung von einer halbnackten Domina, die ihren Sklaven zum Trinken aus dem Klobecken nötigt. Hinten auf dem T-Shirt leuchten die Worte "Dominator - Swallow me" in Phosphorbuchstaben. Ich lachte sehr lange über das T-Shirt. Ich nahm es für Constri mit. Timo besorgte sich unter anderem eine Kassette, die wie eine Schokoladentafel verpackt und beschriftet ist.
Till kam - wie ich erwartet hatte - nicht zu "Staalplaat". Es erleichterte mich, daß ich hatte verhindern können, von Ivo aus dem Kahn geworfen zu werden. Es war ihm so sehr daran gelegen, mit nur einem Wagen nach Amsterdam zu fahren - und meinetwegen ließ sich das nicht machen. Die Frage, ob es bequem ist, zu fünft in einem Auto zu schlafen, stellte Ivo sich gar nicht.
Er ist der Ansicht, daß Rafa die Menschen nach Laune ausnutzt und sie fallenläßt, wenn er sie nicht mehr braucht. Daß Ivo vielleicht selber die Leute abstößt, sobald sie ihm lästig werden, hat er sich wohl noch nicht überlegt.
Als wir "Staalplaat" verließen, regnete es. Ich wollte mich ins Café setzen und vorher in einem Supermarkt einkaufen, was meinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen entsprach. Ivo fand, solche Bedürfnisse stünden nicht zur Debatte; es sei wichtiger, daß sein Wagen so rasch wie möglich zu Timos Wagen hinters "Sleep in" gefahren würde. Timo fand, was ich fand, und wir gingen in den Markt und dann wieder in das große Café, in dem wir warm und trocken bei Chili con Carne und Bananenshake saßen. Die anderen vier ließen wir Auto fahren. Als wir zum Parkplatz gingen, erzählte Timo von seinem letzten Besuch in Amsterdam. Da hatten er und Rayko auf einem Gehweg einen Hundehaufen gesehen, in dem eine Plastikgabel steckte.
Hinter dem "Sleep in" fanden wir Ivos Wagen mit hungerndem und frierendem Inhalt. Man heizte nicht, man aß nicht, man las stattdessen - Musikmagazine. Timo und ich machten in Timos Auto die Sitze flach und den Motor an zur Heizung. Wir legten die eben gekauften Kassetten-Sonderauflagen von Frontline Assembly ein und schliefen bis neun Uhr abends.
Die anderen trafen wir im "Empirion" wieder, einem Industrial-Laden, in dem nicht viel los war. Wir machten uns bald auf den Weg nach Hause. Bevor wir das "Empirion" verließen, fragte ich den DJ noch nach dem Titel des ebenso schrägen wie schwungvollen Stücks, das gerade lief. Es war "15 Minutes of Fame" von Sheep on Drugs.
Während der Fahrt nach Bad S. schlief ich die meiste Zeit und bekam die Tankversuche von Timo und Rayko kaum mit. Sie wollten unbedingt vermeiden, in Holland zu tanken, wo das Benzin teuer ist. Mit zwei Litern im Tank erreichten wir eine Nachttankstelle in OS.
In Bad S. wurde Rayko daheim abgesetzt. Er war von uns der Erste, der ins Bett kam. Timo erklärte, er wolle seine Eltern nicht wecken - wir könnten vorm Haus im Auto auf Ivo warten, der mich mit nach H. nehmen mußte. Da habe ich Timo eine Predigt gehalten:
"Stell' dir vor, ich würde meine Gäste nach einer langen Reise vor meiner Haustür im Auto sitzen lassen, frierend und verkrümmt. Da müßte ich mich nicht wundern, wenn ich sie mir für immer vergrault hätte. So etwas macht man einfach nicht. Es ist unmöglich."
Das muß Timo wohl eingesehen haben. Wir setzten uns in die Küche. Es gab Kuchen und Cola. Im "New Life" las ich überrascht, daß der Titel "15 Minutes of Fame" in mehreren Dancefloor-Charts weit oben steht.
Ivo kam und kam nicht. Nach drei Stunden - es war halb acht Uhr morgens - bereitete mir Timo in einem ausgebauten Kellerraum ein Lager und ging selbst zu Bett. Ich hatte einen eindrucksvollen Traum. Ich nenne ihn:

Schafe unter Drogen (Wölfe im Schafspelz)
Auf einer menschenleeeren Wohnstraße ganz in der Nähe von meinem Zuhause entdeckte ich zwei leinen- und herrenlose Hunde. Äußerlich glichen sie einander; beide waren klein und wulstig und trugen einen weißen Schafspelz. Der eine Hund lief an mir vorbei, der andere jedoch kam auf mich zu und knurrte böse. Um zu verhindern, daß er mich biß, nahm ich ihn hoch und hielt ihn von mir weg. Er war aber recht kräftig und schnappte wütend nach meiner Kehle. Er näherte sich meinem Hals mehr und mehr; ich fühlte schon fast den Kopf an meiner Wange.
"Nein", sagte ich. "Nein."

Ich wachte auf. Der Hund war in Wirklichkeit ein zusammengerolltes Kissen gewesen, mit dem ich mir den Nacken stützte.
Die beiden Hunde in meinem Traum waren nicht notwendigerweise gefährlich. Sie wurden es für mich, weil sie - insbesondere der eine - mich als Feind oder Opfer betrachteten und niemand sie an der Leine hielt. Ich war ihnen ausgesetzt. Ich wehrte mich und kam gegen sie doch nicht an. Die harmlos aussehenden kleinen weißen Hunde waren todbringende Raubtiere.
Rafa trägt einen Wolfspelz in Form eines äußerst schlechten Leumundes, einer erdrückenden Vergangenheit und eines launenhaften Verhaltens, das ihm Feinde macht. Beißt er, so ist das ein Zeichen von Zuneigung und ganz stumpf. Rafa ist insofern ein Schaf, als er die Menschen nicht angreift, sondern einfach nur mißachtet. Er übernimmt keine Verantwortung. Er läßt sich treiben, so, wie ein Schaf in der Herde sich treiben läßt.
Da haben wir mit Rafa ein Schaf im Wolfspelz.
Was oder wer ist nun für mich die eigentliche Gefahr? Wer sind die Wölfe im Schafspelz?
Es war etwa zehn Uhr morgens, als Timos Mutter zu mir in den Kellerraum kam.
"Guten Morgen", begrüßte sie mich. "Der Ivo ist angekommen; das wollte ich sagen. Ich habe einen Kaffee gemacht."
"Fein! In ... sagen wir ... zehn Minuten bin ich oben."
Beim Frühstück erfuhr ich, daß Ivo mit seiner Tankfüllung nicht ausgekommen war und stundenlang vor einer geschlossenen Tankstelle warten mußte.
Im Flur unterhielt ich mich mit Timos jüngerem Bruder. Er mag Techno auch. Ich empfahl ihm Wasser und Weingummis gegen Kreislaufschwierigkeiten, Hunger und Durst beim Tanzen. Das hilft wirklich, im Gegensatz zu irgendwelchen Drogen. Ich erzählte auch den Traum mit den Hunden. Timos Bruder möchte gern seine Träume deuten. Ich riet ihm von Büchern über Traumdeutung ab.
"Vergiß das", sagte ich. "Einen Traum kann man nur in seinem Zusammenhang deuten. Wichtig ist, was man während eines Traums empfindet. Wichtig ist, was vorher in Wirklichkeit geschehen ist und in welcher Form es im Traum erscheint."
Auf der Rückfahrt rätselte Ivo schon wieder daran herum, wie es den drei Kurzhaarigen gelungen ist, Rafa in den Teich zu werfen.
"Mensch, der müßte sich doch wehren können", sagte er. "So ein kräftiger Kerl."
Ivo fand es ungewöhnlich, daß Rafa im "Fall" so lange am Pooltisch war und nie auf der Tanzfläche. Er kennt das von ihm gar nicht.
Ich dachte darüber nach, daß ich Rafa nie mit einem Mädchen habe Zärtlichkeiten austauschen sehen, auch nicht mit Sanna. Versteckt er seine Freundinnen vor mir?
Wenn meine Gefühle für ihn nicht jenseits von Gut und Böse wären, hätte ich diesen Fall längst abgehakt.
Ivos Spruch mit der "dreckigen Sau" kommt mir allerdings reichlich heftig vor.
"Man konnte heraushören, daß Rafa dein allerbester Feind ist", bemerkte ich.
"Der Spruch hatte in dem Gesamtzusammenhang eine logische Grundlage", meinte Ivo. "Er ergab sich. Er war angebracht. Er machte Sinn."
Ich kann mir nicht vorstellen, aus welchen Gründen es sinnvoll sein könnte, einen Menschen als "dreckige Sau" zu bezeichnen. Ich kann mir nicht vorstellen, aus welchen Gründen Haß sinnvoll sein könnte.
Indes ... ich schwieg zu dem Thema.
"Es gibt schon noch schlimmere Leute als Rafa", lenkte Ivo ein. "Im Grunde ist das ein harmloser Zeitgenosse. Er greift nur mit Sprüchen an."
Noch immer fällt Ivo kein einziger von Rafas Sprüchen ein.
"Dabei hätte ich so gerne gewußt, was das immer für Sprüche waren", seufzte ich.
"Er macht's auch nicht mehr heutzutage", sagte Ivo. "Es hat echt aufgehört. Es ist so geworden, wie ich's haben wollte. Er und ich, wir reden überhaupt nicht mehr miteinander. Es war gut, daß ich ins 'For you' gegangen bin. Da brauchte ich diese gewissen Leute nicht einmal mehr zu sehen. Und ins 'For you' kommen die nicht ..."
Was die Angelegenheit mit dem "Trauma" betraf, wurde Ivo zunehmend ungeduldiger.
"Frag' den Gerald unbedingt, ob das mit dem 12. Juni klappt", wies er mich an. "Wenn er nicht 'ja' sagt, sage ihm, wir können es ganz lassen."
Gleichzeitig äußerte Ivo immer wieder seine Furcht davor, durch das "Trauma" in Zwänge zu geraten:
"Ich will kein zweiter Xentrix werden."
"Das wirst du nicht", beruhigte ich. "Sei bloß froh, wenn du überhaupt im 'Trauma' auflegen kannst. Weg kommst du von dem Laden immer. Nichts bindet dich daran."
Eben wird mir wieder bewußt, daß Rafa nur für denjenigen ein harmloser Zeitgenosse ist, der sich in keinerlei Abhängigkeit von ihm begibt ...
Constri schlief in meinem Bett, als ich nach Hause kam. Sie wachte auf und wollte hören, was ich erlebt hatte.
"Im 'Elizium' hat Rafa nach dir gefragt", berichtete sie.
"Wirklich? Erzähl'!"
"Er hat Rikka gefragt:
'Ist Hetty da?'
Sie hat nur den Kopf geschüttelt. Da ist er wieder abgezogen."
"Mit welchem Mädchen hat er 'rumgemacht?"
"Eigentlich ... ich habe nicht gesehen, daß er mit einer 'rumgemacht hätte. Er ist viel hin- und hergerannt. Irgendwann war er auch mal auf der Tanzfläche. Und dann war er irgendwann weg."
"Welch ein Triumph ... Rafa fragt nach mir ... jetzt darf er das auch mal erleben, daß er ins 'Elizium' kommt, und ich bin nicht da ..."
Constri verwendet das "Dominator"-T-Shirt als Nachthemd. Deshalb leuchtet sie, wenn sie schlafen geht. "Dominator - Swallow me" strahlt es einem entgegen.
In der Sonntagnacht brannte nicht in mir, sondern in unserer Wohnung eine Sicherung durch. Carl versuchte, sie zu ersetzen. Weil er davon aber nichts versteht, riß er alle Sicherungen heraus und wühlte die neuen verkehrtherum in die Löcher. Er wunderte sich sehr, weil der Strom nicht wiederkam. Am Tage wunderte ich mich dann über die verkehrt eingesteckten Sicherungen. Da sie alle verkehrt saßen, begriff ich nicht, daß sie falsch eingedreht waren. Ich mühte mich mit ihnen ab, obwohl ich es eigentlich besser wußte. Hilflos schluchzend hielt ich eine aufgerissene Sicherung in der Hand, aus der es rieselte. Ich starrte sie fassungslos an. Meine Rettung war einer der häufigen Anrufe von Constris Ex-Freund Cyd, der sich an seinem Arbeitsplatz oft langweilt. Cyd erinnerte mich daran, wie eine Sicherung einzustecken ist. Gleich hatte ich wieder Strom. Ich dankte Cyd vielmals.
Auch Rikka rief am Sonntag an.
"Ich finde es ganz schön dreist von Rafa, nach dir zu fragen, nach allem, was er getan hat", meinte sie.
Ich erzählte Rikka, daß Rafa und ich uns einen Tag zuvor im "Fall" gesehen hatten und was dort abgelaufen war.
"Im 'Fall' roch es schon überall nach Patchouli und künstlichem Nebel. Da konnte Rafa kaum weit sein. Er riecht immer wie eine Discothek."
"Nach diesem Weihrauchzeugs? Das der mal dabeihatte? Weihrauchzigaretten?"
"Ungefähr so."
Ich erzählte Rikka auch, daß Rafa kaum getanzt hat.
"Nicht getanzt?" meinte sie. "He, der hat sich bestimmt nicht getraut."
Im Grunde, findet sie, hätte ich von Rafa doch nichts.
"Du führst mit dem ein paar merkwürdige Dialoge, und das war's."
"Richtig", stimmte ich zu, "wenn nur nicht ..."
"Ich weiß. Das in einem. Es ist stärker. Es ist eben stärker. Ich kenne das."
"Der übt auf mich eine magnetische Anziehungskraft aus. Kaum stand der vor mir, hatte ich meine Hände an seinem Revers. Ich greife einfach nach ihm, ohne mir dessen bewußt zu werden."
Rikka wußte noch etwas über Rafa zu berichten:
"Der hat schon einmal nach dir gefragt. Da warst du aber da."
"Wann war das?"
"Es ist schon einige Wochen her. Es war wohl, bevor der Sockenschuß 'rausgeflogen ist. Da hat er mich wohl mit Constri verwechselt. Er kam an und fragte:
'Ist deine Schwester da?'
Ich habe ihm gesagt, daß ich nicht deine Schwester bin. Das war ihm gleich fürchterlich peinlich. Er tat so, als sei dassonstwas Schlimmes. Das hat mich unheimlich gewundert. Wenn ich ihn so sehe, wie er so umgeht mit den Leuten, denke ich, der redet bestimmt voll arrogant. Und jetzt kam der so schüchtern an, fast unterwürfig."
Sie findet, mit Rafa sei das nichts Halbes und nichts Ganzes.
"Er rennt dir voll hinterher - und wenn es zu einer Verabredung kommen soll, versetzt er dich."
"Er fürchtet sich."
Die Dialoge, die Rafa und ich geführt haben, mögen in Rikkas Augen einfach nur merkwürdig sein; für mich sind sie erheblich mehr. Rafas sich überschlagende Phantasie erinnert mich an die Art von Phantasie, die ich als Kind hatte. Ich habe den Eindruck, durch die Analyse von Rafa mich selbst zu entdecken - Teile von mir, die bislang im Dunkeln lagen.
Rikka macht die Sache mit Rafa vielleicht deshalb so neugierig, weil sie die Leidenschaft, die in der flüchtigen Beziehung von Rafa und mir steckt, in ihrer inzwischen ziemlich eingefahrenen Beziehung mit Talis vermißt.
Talis und Derek sollen sich am vergangenen Samstag im "Elizium" längere Zeit miteinander unterhalten haben.
"Na? Was wird das wohl? Zwei Schweigsame, die sich austauschen?" dachte Constri.
Rikka meint, sie würde es unterschiedlich beurteilen, wenn Rafa sich schlecht benimmt und wenn Ivo sich schlecht benimmt. Rafa sei gewissermaßen schuldunfähig.
"Er hat einen Hau", sagte sie, "einen Schaden, und er muß sich so aufführen, wie er sich aufführt, weil er keine andere Wahl hat. Er kann nicht anders, ungeachtet dessen, was er will."
Ivo hingegen könne selbst darüber entscheiden, was er tue und sei damit für sein Handeln voll verantwortlich.
Ich teile Rikkas Ansicht.
Carl und Constri meinen, daß Rafa ein Außenseiter ist, einer von den Schwachen, die gehaßt und aufgezogen werden. Er fällt immer auf und wird nicht angenommen.
Ivo dagegen treibe mit dem Strom, ohne daß ihm das schwerfiele. Er gliedere sich nahtlos ein. Er sei Herr über das, was er tue.
Auch diese Ansicht teile ich.
Zur Zeit geht es um ein Festival, das am nächsten Freitag in HI. stattfindet. Ivo hatte mich auf dieses Festival aufmerksam gemacht - schon im Februar. Als er mich nach unserer Amsterdam-Reise heimbrachte, kündigte Ivo an, er werde vielleicht mit Timo zum Festival fahren.
"Und mit wem fahre ich?" wollte ich wissen.
"Tja, das mußt du sehen", war die Antwort.
Es sei noch nicht sicher, daß er mit Timo fahre.
"Wir kriegen das schon irgendwie hin", meinte er abschließend.
Am Dienstag wußte ich, daß es für mich keine Fahrgelegenheit geben würde.
"Timos Auto ist voll", sagte Ivo am Telefon.
"Deins nicht", entgegnete ich.
Ivo erklärte jedoch, er sei sich nun sicher, daß er mit Timo fahre und seinen Wagen zu Hause lasse. Wie ich nach HI. zum Festival käme, das müsse ich eben sehen. Ich fand das befremdlich und brachte Begriffe wie Loyalität und Verantwortung in das Gespräch ein.
"Du willst einfach nicht verstehen, daß ich mit Timo fahre", meinte Ivo. "Wenn ich das mit ihm abmache, ist das wie ein Gesetz für mich."
"Und dein Versprechen mir gegenüber?"
"Ich habe gesagt, das kriegen wir schon irgendwie hin. Das ist aber für mich kein Versprechen, weil ich dir das nicht unterschrieben habe."
Ich entgegnete, ich verstünde es wohl, wenn eine Notlage einen Menschen daran hindere, ein Versprechen einzuhalten.
"Es muß eine gewisse Verhältnismäßigkeit gegeben sein", sagte ich. "Ich weiß nicht, was es dir unmöglich machen würde, mit mir in deinem Wagen nach HI. zu fahren."
"Immer fahre ich, und am Freitag fahre ich nicht, da trinke ich."
"Haben dich eigentlich auch schon mal Leute im Stich gelassen?" fragte ich nach.
"Sicher."
"Und, hast du heute mit denen noch zu tun?"
"Nein."
"Siehst du!"
"Mensch, das ist Jahree her!" wandte Ivo ein.
"Und? Das tut doch nichts zur Sache", erwiderte ich. "Entscheidend ist, daß die Freundschaft mit denen keine Zukunft hatte."
"Mensch, Freundschaften kommen und gehen! Das ist der Lauf der Welt! Das ist normal!"
"Zu jeder Freundschaft gehört auch Verantwortung."
"Freunde kommen und gehen! Oder glaubst du an lebenslange Freundschaft?"
"Sicher. Ich glaube an die Freundschaft mit Constri."
"Bei Geschwistern ist das sowieso enger."
"Nicht gesagt!"
"Übrigens ... trage ich sehr wohl Verantwortung", erinnerte sich Ivo. "Ich habe schon auf so vielen Strecken die Verantwortung für meine Mitfahrer übernommen."
"Und sie haben dir dafür Benzingeld und Gesellschaft gegeben. Das hast du nicht aus Freundschaft getan. Das war ein Handel."
"So bequem ist es eh nicht, mit mir zu fahren. Wegen meiner Interviews komme ich früh und gehe spät. Ich habe die anderen, die mitkommen, schon darauf vorbereitet, daß sie vor dem Konzert mindestens eine Dreiviertelstunde werden 'rumstehen müssen, weil ich währenddessen die Interviews mache."
Er will also bestimmen, wann Timo zu fahren hat.
"Und was ist, wenn Timo das mit dir macht, was du mit mir machst?" fragte ich.
"Er tut es nicht", war Ivo überzeugt. "Das ist es ja. Er tut es nicht."
"Wahrscheinlich würdest du in einer ähnlich gearteten Lage mit Timo das Gleiche tun wie mit mir."
"Das sind harte Worte."
"Es liegt an deiner Persönlichkeit. Wie du mit mir umgehst, gehst du mit anderen auch um."
Ivo stritt das ab. Angeblich hat Timo bei ihm eine Sonderstellung.
"Timo zählt für mich mehr als andere Leute", behauptete er.
"Versprechen bricht man überhaupt nicht", gab ich zurück, "egal, wie eng man mit jemandem ist."
"Das sind deine Vorstellungen."
"Richtig. Und deine weichen offenbar so sehr von meinen ab, daß für unsere Freundschaft keine Grundlage besteht."
"Wegen sowas willst du eine Freundschaft gleich über den Haufen werfen?" fragte Ivo verwundert.
"Wegen sowas", bestätigte ich. "Ich bin enttäuscht von dir. Ich habe mich auf das Festival in HI. gefreut. Und das bedeutet dir nichts. Ich bedeute dir nichts."
"Halt, dann hätte ich dich nicht mit nach Amsterdam genommen."
"Da war dir meine Gesellschaft angenehm. Jetzt bin ich überzählig und werde in die Ecke gestellt. Mehr als ein Gegenstand bin ich für dich nicht. Das ist keine Freundschaft. Zu jeder Freundschaft gehört eben Verantwortung."
"Ich will mich in meiner individuellen Freiheit nicht einengen lassen."
"Dann mußt du auf Freunde verzichten."
"Auf Timo muß ich nicht verzichten. Er hat genau die gleiche Einstellung und die gleichen Bedürfnisse wie ich."
"Du kennst ihn gerade ein Jahr."
"Timo ist ein Freund fürs Leben."
"Ich denke, du glaubst nicht an lebenslange Freundschaft."
"Bei Timo schon."
"Hast du denn ein gutes Gefühl bei dem Gedanken, daß ich allein zu Hause bin und die andern sich vergnügen?" wollte ich wissen.
"Das hab' ich nicht", meinte Ivo.
"Siehst du, da könntest du noch etwas dran ändern. Du müßtest nur deinen Entschluß ändern."
"Den werde ich nicht ändern, weil ich mich nicht lächerlich mache."
"Lächerlich ... du meinst, du machst dich lächerlich, wenn du Freunde nicht im Stich läßt ..."
"Ich ... habe heute nicht viel Zeit, weißt du ...", wollte Ivo sich herauswinden. "Wir müßten bald mal Schluß machen ..."
"Ich glaube auch, daß es Zeit wird, daß wir Schluß machen!"
"Echt, ich versteh' nicht, weshalb du deswegen gleich alles über den Haufen werfen willst."
"Ich will es nicht über den Haufen werfen, ich muß es; wer mich so im Stich läßt, ist für mich kein Freund."
"Mensch ... ich versteh' nicht ... was könnte ich denn deiner Meinung nach für ein Interesse daran haben, dich nicht mitzunehmen?"
"Ich denke, es ist dir einfach gleichgültig, ob ich mitkann oder nicht."
"Was sagt denn Constri dazu?" fragte Ivo. "Sieht die das genauso wie du?"
"Sicher! Sie kam eben hier lang und winkte müde ab und bedeutete mir:
'Vergiß' ihn. Er ist es nicht wert.'
Sie ist noch härter in ihrem Urteil als ich, weil ich gewissermaßen an dir hänge. Ich kämpfe noch um die Sache, denn wir haben sehr viel gemeinsam unternommen und viel Zeit miteinander verbracht."
"Und du willst das einfach so auslaufen lassen? Wie ist das mit Kraftwerk? Hast du die Karte für das Konzert von Kraftwerk schon bestellt?"
"Sicher."
"Da ist nämlich auch noch nicht klar, wie wir fahren."
"Erpressen lasse ich mich nicht."
"Ich mache dir einen Vorschlag. Ich biete dir an, am Samstag mit nach KF. zu kommen."
"Es geht jetzt nicht um KF. Es geht um HI. Das Date ist mir wichtig."
"Ich weiß auch nicht ... du siehst das viel zu engstirnig."
"Alles vergnügt sich da, und da kann ich nicht allein zu Hause sitzen", erklärte ich. "Ich gehe in Gesellschaft hin. Ich gehe wegen der Gesellschaft hin."
"Constri und Rikka, seit wann tanzen die zu Dive?"
"Sie haben es schon getan."
"Ich bin eben Einzelkind und Egoist", meinte Ivo.
"Darauf willst du dich also ausruhen. Du machst es dir sehr einfach."
"Du bist doch auch ein Einzelgänger."
"Mitnichten", entgegnete ich. "Ich bin ein sehr geselliger Mensch. Ich habe mich immer vor allem mit Menschen beschäftigt."
Ich warf Ivo vor, in seinem Verhalten keinen Deut besser zu sein als Rafa. Mit Rafa hätte ich auch gebrochen.
"Du hast nicht mit dem gebrochen", widersprach Ivo. "Du redest noch mit dem."
"Der kriegt von mir nicht mehr als das, was ich von ihm kriege. Ich würde ihn unter keinen Umständen anrufen. Ich würde ihn nie im Krankenhaus besuchen. Auf so etwas achte ich nun einmal."
"Du läufst dem hinterher."
"Er ist zu mir gekommen."
"Du läufst dem hinterher, keine Frage. Und das sage nicht nur ich, das sagen auch andere."
"Ivo, das verstehst du wahrscheinlich nicht. Das ist höhere Gewalt."
"Höhere Gewalt! Du läufst dem nach!"
"Stört es dich denn, daß ich mit Rafa rede?"
"Ich finde es nicht gut, wenn Leute von mir mit Leuten reden, die ich nicht mag."
"Was kann ich dafür, wenn dieser Mensch mich in seiner Gewalt hat ..."
"Immer, wenn ich neue Leute kennenlerne - Rafa Dawyne lernt die auch kennen. Wo ich bin, ist auch er", seufzte Ivo.
"Rafa hat mich angesprochen, bevor wir uns kennengelernt haben", berichtigte ich. "Was ist jetzt? Können wir nun mit deinem Wagen nach HI. fahren?"
"Ich will mich nicht abhängig machen lassen von Frauen."
"Vergiß' mein Geschlecht. Ich bin in erster Linie ein Mensch."
"So, wie Sare und Sarolyn sich benommen haben, sind nur Frauen."
Mit Sare und Sarolyn war Ivo auch schon häufig unterwegs, und auch von ihnen ließ er sich Gesellschaft leisten und Benzingeld geben. Ivo ist sicher, daß die beiden Mädchen ihm jeden Kontakt zu anderen Mädchen zerstören wollten und auch eine seiner Liebesbeziehungen auf dem Gewissen hätten.
"Ich bin weder Sare noch Sarolyn", stellte ich klar.
"Sag' mir, was könnte ich denn für ein Interesse daran haben, dich nicht mitzunehmen?"
"Ich denke, es ist dir einfach gleichgültig, ob ich mitkann oder nicht."
"Stell' dir vor, ich lerne ein Mädchen kennen. Mit dem unternehme ich dann auch viel ohne dich."
"Das Mädchen mußt du erstmal finden. Außerdem nehme ich Rücksicht darauf, wenn jemand eine Freundin hat. Ich kann absehen, daß du mit der viel allein unternehmen willst. Dieshier aber konnte ich nicht absehen. Du hast mir seit Wochen den Mund wäßrig gemacht wegen dem Festival. Schließlich habe ich begonnen, mich darauf zu freuen. Und dann läßt du mich im Stich. Das geht nicht. Das tut man nicht. Ich habe auf dich gebaut."
"Monatelang konntest du schon auf mich bauen."
"Weil es in deinem Interesse war. Jetzt, wo ich dich brauche und nicht du mich, läßt du mich eiskalt abfahren."
"Meine Güte", stöhnte Ivo. "Jetzt fährst du einmal nicht mit mir. Und schon machst du einen Aufstand daraus."
"Es geht um eine Sache, die mir sehr wichtig ist und seit Wochen in meinem Kalender steht. Das wußtest du."
"Ich habe dir noch mehr Termine mitgeteilt. Damit wollte ich nur sagen, daß das und das da ist."
"Das kam mir nicht so vor."
"Du steigerst dich echt in was 'rein. Du ahnst doch noch gar nicht die Folgen, die das hat. Was ist zum Beispiel mit dem Konzert von Klinik? Da weißt du doch auch nicht, wie du hinkommen sollst. Du mußt dich dann wieder beschränken auf 'Elizium', 'Halle' und 'Read Only Memory ', dieses Dreieck."
"Das konnte ich vorher auch, bevor wir uns kennengelernt haben. Es geht hier um meinen Stolz und meine Würde. Das ist mir wichtiger als auswärtige Veranstaltungen."
Am Ende wollte Ivo, daß ich Timos Meinung zu dem Thema einholte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich innerlich bereits mit Ivo gebrochen.
Timos Mutter fand Ivos Verhalten ebenfalls sehr befremdlich. Als ich ihr erzählte, Ivo wolle sich nicht abhängig machen lassen von Frauen, meinte sie:
"Der hat da wohl ein Problem."
"Allerdings", bestätigte ich. "Er haßt den Mann, in den ich verknallt bin."
"Na! Einen Grund gibt's immer."
Adi rief mich an und tat geheimnisvoll.
Was denn das in Amsterdam gewesen sei? Was ich da denn so über ihn geredet hätte? Er hätte einen schlimmen Verdacht gegen mich.
Mühsam erklärte ich Adi, ich hätte über ihn lediglich gehört und gesagt, daß er sich mit der von ihm verehrten Valeria ausgesprochen habe. Sie soll eher freundschaftliche Gefühle für ihn haben; das sei alles, was ich von der Sache wüßte.
"Nein", widersprach Adi. "Da ist über mich gelästert worden."
Ich weiß wohl, wer über Adi gelästert hat - Ivo.
"Wenn ein Mann nicht merkt, daß eine Frau nicht auf ihn steht, dann hat er das Rascheln nicht gehört", das war Ivos Kommentar zu der Angelegenheit von Adi und Valeria gewesen.
Das sagte ich Adi aber nicht, weil ich es müßig fand.
"Nun gut", lenkte Adi schließlich ein, "du weißt ja, wie das ist - man redet über Valeria und Adi, man redet über Hetty und Rafa ..."
"Ich gehöre nicht zu den Leuten, die lästern."
Constri mußte sich die gleichen Vorwürfe von Adi anhören. Wir fragten uns, wo er das wohl herhabe?
Einen Tag danach kam Till abends vorbei und machte mir ebenfalls den Vorwurf, schlecht über ihn geredet zu haben. Mühsam versuchte ich, auch ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Till meinte schließlich, er glaube mir, zumal ich ihm erzählte, Constri und ich hätten inzwischen den Verdacht, daß Ivo gegen sie und mich eine Intrige in die Welt setzt.
"Ivo hat wohl die Absicht, uns und unsere Leute zu entzweien", vermutete ich. "Das Motiv ist wahrscheinlich meine Unterhaltung mit Rafa im 'Fall'."
Am Donnerstag sagte Timo am Telefon kaum etwas. Er schien mir nicht feindlich gesinnt zu sein, jedoch auch nicht in der Lage, eindeutig Stellung zu beziehen. Er sprach mit Ivo, erreichte aber nichts.
Ich nehme an, Ivo wollte mich nicht fahren, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. Das konnte er wohl schon am Dienstag nicht mehr.
Carl, Constri und ich denken, daß Ivos rasende Eifersucht in der Tat auf einem Problem beruht, das Ivo mit den Frauen hat.
"Rafa kann mit den Frauen", sagte Constri, "und Ivo kann das lange nicht so. Das macht ihn neidisch auf Rafa."
Ich glaube, Ivo sieht in einer Freundschaft ein Zweckbündnis, in dem das von ihm vielbeschworene "Menschliche" nichts zählt. Vermutlich lobte Ivo das "Menschliche" nur deshalb so sehr, weil er meinte, mir damit schmeicheln zu können.
Ich ahne nun, wer die Wölfe im Schafspelz sind - Ivo und Timo. Timo ist derjenige, der sich zurückhält; Ivo ist derjenige, der angreift.
Ivo lästerte in jeder Unterhaltung, die ich mit ihm führte - vor allem über Rafa, aber ebenso über unseren Radiomoderator ("Der will Elektropapst sein!"), über Xentrix ("Wann ist der mal nüchtern!"), über das "Elizium" ("Für die Erhaltung dieses Ladens würde ich keinen Finger krümmen!"), über Sare und Sarolyn ("Immer wollten die nur gefahren werden. Klar, wenn man nur einen Fiat Panda hat, kommt man eben nicht bis BO."), über Dolf ("Der ist eben strohdoof."), über Luisa ("Mit der hab' ich kein Mitleid mehr."), über Adi ("Wenn der nicht rafft, daß Valeria nichts von ihm will, hat der das Rascheln nicht gehört."), über Psychic Force ("Joe, dieser Giftzwerg!") und ... und ...
Gleichzeitig warf Ivo dem Rafa vor, einer der ärgsten Lästerer im "Elizium" zu sein.
Rafa lästerte in meiner Gegenwart nicht ein einziges Mal. Über die Leute, die er kannte, schwieg er wie ein Friedhof. Wenn er je etwas über sie sagte, klang das vorsichtig und eher beschönigend und verharmlosend. Und als ich von Rafa wissen wollte, was die Leute im "Elizium" über mich sagen, antwortete er nur:
"Die Leute, die ich kenne, haben von dir gar keine Meinung, weil sie dich nicht kennen. Das wäre doch sonst ... das geht doch gar nicht."
In Rafas Augen war es keine Meinungsäußerung, wenn Leute, die mich nicht kannten, über mich sprachen. Was war es dann?
Die Antwort kann "Vorurteile" lauten. Sie kann auch "Lästern" lauten.
Ich frage mich, was für Erfahrungen Rafa schon mit Lästerern und Neidern gemacht hat. Ich frage mich, ob er sich davor fürchtet, von mir ausgehorcht zu werden. Ich frage mich noch immer, wie überlegt Rafa handelt und in welchem Maße er sich seiner Wirkung auf andere bewußt ist.
Ich wage kaum noch zu hoffen, daß sich unsere Wege nicht für immer trennen. Vielleicht will es das Schicksal, daß wir keine schöne Zeit miteinander haben. Vielleicht soll uns nie mehr Zeit füreinander beschieden sein - nie mehr als das Wenige, das wir hatten.
Ich wollte zum Festival nach HI., und ich fuhr zum Festival nach HI. Ich fuhr mit Merle im Zug dorthin. Es war noch hell und sonnig, als wir ankamen. Wir trafen vor dem Veranstaltungszentrum gleich unsere Leute. Talis, Rikka, Carl, Constri und Steini waren bereits fünf im Wagen. Sie hatten Merle und mich nicht mehr mitnehmen können. Daß Ivo mit mir auch Merle im Stich ließ, hatte ich ihm gegenüber gar nicht erst zur Sprache gebracht.
Ivo und Timo waren bereits im Saal. Timo tat so, als würde er uns nicht kennen. Mit Ivo redeten wir ohnehin nicht. Bias und Edit wußten noch von nichts. Ich erzählte ihnen die Geschichte. Als mir Cilly begegnete, erzählte ich sie ihr auch.
"Und, glaubst du, das wird noch was mit Rafa?" fragte sie.
"Das ist die Sache mit dem Wollen und dem Können", erklärte ich.
"Mit Sanna soll Rafa zusammen sein", sagte Cilly. "Aber ich seh' die nur mit anderen Typen."
Valeria setzte sich mit mir auf eine Leitplanke und meinte - wie sollte es anders sein - sie habe gehört, wir würden schlecht über sie reden, und zwar Constri, Rikka und ich. Wieder kostete es einigen Aufwand, ihr das Gegenteil klarzumachen.
"Das mit Rafa hat mich sehr mitgenommen", sagte ich zu Valeria. "Ich wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, meine Kraft für Lästerei zu verschwenden. Außerdem - was soll ich für einen Grund haben, über dich herzuziehen? Daß ich mit meinen Leuten über meine Freunde rede, hat nur den Grund, daß ich über sie nachdenke. Das sind keine Intrigen. Der dunkle Punkt in meinem Bekanntenkreis scheint wirklich Ivo zu sein. Alle Fäden führen zu ihm. Zum Beispiel hat die Verwirrung erst angefangen, seit er mitwirkt. Davor war doch Ruhe? Außerdem hat Ivo einen Grund, gegen mich zu handeln, und zwar seine sinnlose Eifersucht. Erstens hatte er bei mir eh nie eine Chance. Zweitens ist er eifersüchtig auf ein Phantom, einen Menschen, mit dem ich nie etwas haben werde.
Das wird nichts mehr mit Rafa und mir. Es kann nichts werden. Jeder von uns hat einen Knacks, und das macht eine Beziehung unmöglich. Es ist reine Tragik."
Valeria erzählte mir, daß auch ihr Verhältnis zu Till nicht ohne Tragik ist:
"Ich habe oft überlegt in den Jahren, die wir uns kennen, ob wir nicht zusammenkommen sollen. Aber ich befürchte, daß wir uns in einer Beziehung allzu leicht so verletzen, daß unsere Freundschaft auseinanderbricht. Und ich will Till nicht verlieren."
"Ich finde, ihr seid euch sehr ähnlich", meinte ich. "Ihr seid beide kompliziert, intelligent und sehr empfindlich."
"Jaa."
"Und weil man in einer Beziehung noch verletzbarer wird, ist sie für euch gefährlich."
"Allerdings. Immer ist es eine Gratwanderung."
Der Sänger von Placebo Effect - die sich musikalisch und im Hinblick auf ihre Bühnenshow nach vorne entwickelt haben - war mit Theaterblut beschmiert von oben bis unten. Er hatte einen zerfledderten Zombie dabei, dessen Gesichtsausdruck sehr echt, sehr leichenhaft wirkte. (Ich spreche aus Erfahrung, habe ich doch im Krankenhaus schon viele Tote gesehen.) Der Sänger hielt den Fetzenbalg im Arm und zog ihm das Gedärm aus dem Mund. Dann ließ er den Zombie fallen, der zu einem formlosen grauroten Haufen ineinandersank. Den Darm hängte sich der Sänger um den Hals. Irgendwann lag der Darm auf dem Boden, und aus Versehen trat der Sänger auch noch darauf. Es war einfach zu schön. Daß sich der Sänger nachher noch einen Schweinskopf aus Pappmaché aufsetzte, dem ein Beatmungsschlauch durch Mund und Nase gezogen worden war, war schon keine Steigerung mehr.
Zur Untermalung der Schau wurde ein Ölfaß angefräst, und ein Feuerregen ging über die Zuschauer nieder. Aus dem Faß quoll roter Dampf.
Bei dem Auftritt von Dive tanzten nur wenige. Merle fand unser Tanzen beeindruckender als den theatralisch verzerrten Sprechgesang von Dirk I., der mit seinem Megaphon im Stroboskoplicht umherlief und eine wilde One-Man-Show darbot. Ich sehe I. sehr gerne zu.
Die Armageddon Dildos brachten das Publikum endgültig in Bewegung. Wie es seine Art ist, sprang der Sänger bald von der Bühne und tanzte mit den Zuschauern. Er tanzte auch mit mir und umschlang mich nach dem Tanz. Als er mich losließ, verhedderte ich mich mit dem Kabel des Mikrophons und fiel rückwärts aufs Parkett. Der Sänger reichte mir die Pranke.
"Hast du dir wehgetan?" fragte er höflich.
"Nein."
An einer Glasscherbe habe ich mir etwas die Hand verletzt, doch das fiel mir erst später auf. Die Stimmung stieg weiter, und zum Schluß tanzten die Zuschauer auf der Bühne.
Merle traf einen Bekannten, und dessen Bekannter nahm uns alle mit. So brauchten wir uns um die Rückfahrt keine Sorgen mehr zu machen. Der Bekannte heißt U.W., und sein "Fahrer" heißt Jirí. Es sind einfache Jungs, die jedoch EBM und verwandte Musik hören. Sie wollen wie ich zu dem Konzert von Kraftwerk in O. - eine Mitfahrgelegenheit habe ich also schon.
Im "Trauma" erklärte ich Gerald, daß es zwischen Ivo und mir schwere Differenzen gegeben habe und daß ich nicht mehr mit Ivo zusammenarbeiten könne. Ivo darf am 05.06. im "Trauma" auflegen; am selben Tag findet auch Constris Geburtstagsfeier statt. Man wird sehen, wer dann zu Ivos EBM/Industrial-Veranstaltung gehen wird und wer sich für Constris Party entscheidet.
Am Morgen nach dem Festival hatte ich einen Traum, der voll Trauer war.

Ich sah vier junge Frauen mit schwarzen Schleiern in der Asche liegen vor einem Bild der Verwüstung. Sodom und Gomorrha waren zerstört worden unterm Flammenregen und versunken in der aufbrechenden Erde. Ehe das Inferno begann, verabschiedete ich mich in der Stadt von den Menschen, die nicht fliehen wollten, obwohl Engel versuchten, sie dazu zu bringen. Ich trauerte um jeden, auch um die, die ich erst während des Traums kennengelernt hatte. Ich traf meine Cousine Lisa, die mir zurief:
"Bis nachher!"
- als sei der Sprung in die Ewigkeit sekundenkurz. Ich weinte ununterbrochen. Auch Constri mußte ich zurücklassen. Ich konnte sie kaum ansehen. Ich verstand den Gleichmut und die Gelassenheit nicht, mit dem die Menschen ihrem vermeidbaren Schicksal entgegensahen. Ich verstand nicht, weshalb sie den Tod wählten, wo sie doch hätten überleben können.