Netvel: "Im Netz" - 26. Kapitel































.

Anfang Dezember war ich bei Rufus zu Besuch. Er ist mit seiner Freundin Geneviève zusammengezogen und wohnt nun gegenüber der Mühle, wo er als Lebensmittelchemiker arbeitet. Manchmal ist sein Gartenzaun mit Mehl bedeckt.
Spätabends war ich bei Folter, der erst gegen zehn Uhr von der Arbeit nach Hause kam. In Folters Geisterkopf aus Plastik sind die Batterien leer. Ich wollte neue hineintun, er hatte aber keine und meinte, das würde sich auch gar nicht lohnen, "die sind nach einer halben Stunde wieder alle".
Tags darauf war ich bei Rays Geburtstagsparty. Er hat seit Neuestem eine Ein-Zimmer-Wohnung in Claras Nähe; Derek wohnt wieder bei Constri. Zum Geburtstag bekam Ray unter anderem einen Festnetz-Anschluß, außerdem schenkte Zoë ihm einen Gutschein über einen Schneewalzer mit mir. Das wurde von Ray und mir gleich ausgeführt, zu "True lies one" von Dive.
Später schlief Derek in Constris Armen ein, Linus kuschelte sich in Terrys Arme, und Ray kuschelte sich an Clara. Weil Derek nicht mehr zu wecken war, ließ ich Constri und ihn bei Ray. Ich fuhr noch zu Sven, der ebenfalls seinen Geburtstag feierte. Dort setzte sich ein Junge zu mir, der von meinem Kleid aus silbrigem Organza fasziniert war und von mir anscheinend auch, jedenfalls sagte er andauernd, er fände mich so nett und so niedlich und so mädchenhaft, auch wegen der Zöpfchenfrisur und dem kurzen weiten Rock, und ob das auch nicht unhöflich sei, wenn er so etwas sage? Er hatte mich auf fünfundzwanzig geschätzt, aber danach hatte ich nicht gefragt, ihm nur gleich gesagt, wie alt ich wirklich bin.
"Ich lasse die Leute nicht mehr schätzen", erzählte ich, "das ist eine Frage, auf die man schlecht antworten kann, deshalb lasse ich es."
Der Junge heißt Clark und ist zwanzig. Er hat seine Ausbildung zum Krankenpfleger abgebrochen, als sein Urgroßvater gestorben ist. Er ist ab dem achten Lebensjahr von seinen Urgroßeltern erzogen worden, weil beide Eltern berufstätig sind. Inzwischen überlegt Clark, die Ausbildung fortzusetzen. Ich riet ihm dringend dazu.
"Eine abgeschlossene Ausbildung ist wichtig", wußte Clark. "Das ist wie eine Basis, auf der man stehen kann."
Er kennt die "Neue Sachlichkeit" und das "Elizium" und wünschte sich, wieder häufiger auszugehen.
Susa und Guy schaffen es kaum noch, sich um ihre Freundschaften zu kümmern, weil sie sehr viel arbeiten, auch abends und an den Wochenenden. Sie bauen nämlich. Svens dreißigster Geburtstag, der nächstes Jahr ansteht, soll in der Sportgaststätte gefeiert werden, wo Susa arbeitet, damit die ganze Familie an der Party teilnehmen kann.
Odette und ihr Freund Quentin sind ebenfalls kaum noch irgendwo zu sehen, und sie hatten auch heute keine Zeit.
Gegen halb vier kam ich dann endlich ins "Verlies", eine kleine Keller-Location in der Nähe des früheren "Elizium". Es lohnte sich für mich trotz der späten Stunde. Unter anderem liefen "True lies one" von Dive, "Psicosis" von Dulce Liquido, "Hymn" von asp, "Sandstorm" von Darude und "Standing" von VNV Nation.
Seraf war auch im "Verlies". Er erkundigte sich nach seiner ehemaligen Freundin Chantal, die nach B. gezogen ist. Seraf hat sein Studium an der Universität in R. mit Diplom abgeschlossen und möchte dort an der Universität arbeiten.
Am Sonntagmorgen war ich mit Elaine, Merle und Constri im Weihnachtsmärchen. Es gab "Der gestiefelte Kater". Elaine tauschte mit dem Mädchen, das neben ihr saß, Popcorn aus. Elaine trug den Haarreif, den Constri und ich ihr in den Adventkalender gesteckt haben; er ist mit rosa Satin umspannt und hat ein Schleifchen aus rosa Federn. Viele Kinder hatten hübsche Kleider an, Hänger aus Fleece, Samt und Stretchmaterialien, Ton in Ton rot und rosa gemischt; ein Mädchen hatte einen langen orangefarbenen Rock mit Schlitz an und dazu ein orange gemustertes Oberteil. Ich glaube, wenn ich Kinder hätte, würde ich nicht nur mir, sondern auch ihnen andauernd Kleider kaufen.
In der Pause suchte Elaine einen Tisch aus und kletterte auf den dazugehörigen Barhocker. Sie bekam Apfelsaft. Sie schaffte ihn nicht ganz, und Merle goß den Rest zurück in das Fläschchen, in dem er ausgegeben wurde. Sie verschüttete nicht ein bißchen, und das, obwohl sie es eilig hatte.
Elaine möchte zum Karneval als "Sternmann" von Kiss gehen. Merle hört zur Zeit viel Kiss und sammelt auch Fanartikel.
Elaine versuchte, "Lucky" von Britney Spears nachzusingen, durchaus wiedererkennbar. Aus ihrem Kindermund klingt es so charmant, daß das für mich unerträgliche Original geradezu anhörbar wird.
Mit viel Ausdauer hat Elaine sich eine "Sailor Moon"-Puppe erbettelt und trägt sie jetzt überall mit sich herum. "Sailor Moon" ist eine Comicserie über Schulmädchen, die sich in Science-Fiction-Heldinnen verwandeln können.
Am Sonntagnachmittag gab Constri ein "Adventskränzchen". Clarice war aus OS. zu Besuch und erzählte, mit ihrem Leander gehe jetzt vieles besser; er sei nicht mehr so auf sich selbst bezogen und insgesamt zugänglicher. Vor etwa einem Monat hatte sie ihn vor die Wahl gestellt:
"Entweder du machst eine Therapie, oder ich gehe."
Sie meinte, eine Trennung von ihr sei für Leander so etwas wie ein "Super-GAU", und er habe deshalb die Therapie vorgezogen. An einigen Stunden nehme sie ebenfalls teil, und es entlaste sie, daß ihre eigenen Gedanken durch den Therapeuten ausgesprochen werden. Sie könne deshalb leichter ansprechen, was sie beschäftige und was sie gerne verändern würde.
Ihre Arbeit gefällt ihr, und in einem Fitneßcenter hat sie Freundschaften geschlossen.
Bertine erzählte, daß Chantal immer noch mit Nicolette in einer Wohnung lebt, daß Nicolette sich aber vorwiegend bei ihrem Freund aufhält. Chantal habe es alleine geschafft, sich in B. einen Bekanntenkreis aufzubauen. Einen Freund habe sie in der Tat nicht mehr gehabt, seit Seraf sich von ihr getrennt hat; sie liebe ihn immer noch. Es falle ihr schwer, über Seraf zu sprechen. Bertine leidet auch immer noch unter der Trennung von C.A.D.
Chantal arbeitet als Friseuse, hatte aber ursprünglich vor, sich weiterzubilden. Das liegt jetzt auf Eis.
Bertine hatte schon mehrere Vorstellungsgespräche und hofft, daß aus einem etwas wird.
Elaine ließ sich von mir zeigen, wie man "Mama, ich hab dich lieb" schreibt.
In Kingston gibt es einen Oberarzt, der sich durch seine grundlose, unbremsbare Aggressivität schon einen Namen gemacht hat. Die Aggressivität wird von ihm selbst nicht wahrgenommen, so daß es nicht möglich ist, mit ihm darüber ein Gespräch zu führen. Nachdem der Kollege, der ihm als bevorzugtes Opfer diente, im Frühjahr gekündigt hat, suchte er mich als Opfer aus, und ich habe deswegen schon mit dem Personalrat gesprochen. Dort sagte man mir, daß der Oberarzt ein erhebliches Problem mit Frauen habe, vor allem mit jungen Frauen. Man habe die Hoffnung gehegt, daß sein Verhalten sich nach seiner Heirat in diesem Sommer normalisieren würde; diese Hoffnung habe sich jedoch nicht erfüllt. Im Gegenteil - er sei noch aggressiver als vorher. Sein Chef sagte zu mir, er werde mit ihm darüber sprechen.
Zu Nikolaus war ich mit Zoë und Laurie im "Zone". Les erzählte mir, daß Rafa auf ihn sehr unsicher wirkt, wenn er ins "Zone" kommt. Alle anderen würden Les stürmisch begrüßen - "He, Les!" - und ihn umarmen ... Rafa würde ihm nur steif die Hand geben und mechanisch "Hallo Les" sagen und immer nur kurze, knappe Sätze von sich geben.
Les spielte ein neues Lied von Rafa, das ihm Dolf am letzten Samstag als Promo-CD gegeben hat. Les findet es furchtbar, und ebenso geht es mir.
"Das ist an Einfallslosigkeit kaum zu überbieten", meinte ich. "Flacher, nachgemachter, kitschig-naiver kann ein Stück eigentlich gar nicht mehr sein. Rafa hat hier einen neuen Tiefpunkt erreicht."
Zu einer vorhersehbaren Rock'n'Roll-Melodie singt Rafa:
"Wir fahren los, mit einem Käfer um die Welt ..."
Das Highlight kommt am Schluß:
"Die letzte Fahrt endet im Nichts. Doch ziehen wir dann im Himmel ein, so wird es mit einem Käfer sein."
Das wirkte auf mich, als würde Rafa mich zwischen den Zeilen anflehen:
"Tu' endlich etwas, damit ich nicht immer so scheußliche Musik machen muß!"
Vielleicht mißt Rafa dem Käfer eine so große Bedeutung bei, weil sein Vater bei VW gearbeitet hat. Für mich war der Käfer immer das schlecht gefederte Auto, das viel zu eng war und durchdringend nach Benzin roch. Ich war froh, daß meine Eltern keinen hatten. Als ich mal in einem Käfer mitgefahren bin, mußte ich mich gleich nach dem Aussteigen auf dem Gehweg übergeben.
In Kingston wird es kurz vor Weihnachten ziemlich voll, unter anderem weil viele Alkohol- und Drogensüchtige "kurz nochmal entgiften" wollen.
"Man kann die Patienten ja auch draußen auf dem Balkon abstellen", schlug Kollege Den vor. "Das nennt man dann 'kalter Entzug'."
Bei einer Weihnachtsfeier erzählte eine Krankenschwester von einem adventlichen Brauch auf dem Lande:
"Wenn geschlachtet wird, gibt es immer eine besondere Spezialität, 'Entenhälse im Blut'. Das macht nicht jeder, deshalb kommen dann alle in einem Haushalt zusammen, und die kloppen sich dann regelrecht darum. Ih, das ist so widerlich. Die Entenhälse werden noch irgendwie mit Backobst gefüllt und schwimmen im Blut, und das Blut ist so angedickt, daß es beinahe fest ist."
Von dem cholerischen Oberarzt bin ich inzwischen insofern befreit worden, als ich wieder bei Den auf einer ruhigeren Entgiftungsstation arbeiten darf, wo der Oberarzt nur gelegentlich auftaucht und dann friedlich ist.
Mit Amfortas sprach ich über Gerichtsgutachten. Amfortas erzählte, daß aus klinischer Erfahrung die meisten Inzestverbrechen ein Mitspielen der gesamten Familie erfordern und daß die Täter in aller Regel schuldfähig sind, weil sie in der Lage sind, sich in ein inzestuöses Rollensystem einzubinden. Durch das Zuerkennen der Schuldfähigkeit bekommt man die Täter dann hinter Gitter.
Bei fehlender Schuldfähigkeit würde man diese Schwerverbrecher einfach laufen lassen, sofern das Inzestopfer sich außer Haus befindet, wegen "geringer Wiederholungsgefahr". Dann geht es darum, eine Argumentation aufzubauen, die es ermöglicht, die Täter dennoch in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen.
"Viele denken, es ist günstiger, wenn eine fehlende Schuldfähigkeit besteht", sagte Amfortas, "aber meistens sind die Leute dann viel länger weggeschlossen als im normalen Knast."
In einem Traum erlebte ich Folgendes:

Neben einem Laternenpfahl kam Rafa von hinten an mich heran und lehnte sich an mich. Ich drehte mich um und umarmte und streichelte ihn. Wir unterhielten uns, ohne daß das Gespräch auf Berenice kam.
Später gelang es Constri und mir, ihn mitzunehmen. Wir gingen mit ihm in ein Bistro unter freiem Himmel. Ich sagte zu Constri und Rafa, daß ich duschen wollte und gleich wiederkommen würde. Ich geriet in die Hochschule und dort in ein Labyrinth. Ich fand einladende Personal-Duschräume, die man jedoch nicht sicher verschließen konnte, und ich verzettelte mich und kam "vom Wege ab".

Dieser Traum sagt mir, daß ich in dem Fall, daß Rafa je wieder auf mich zugehen sollte, schnell dafür sorgen muß, daß wir zu mir oder zu ihm nach Hause kommen und daß ich auch nicht ohne ihn in die Dusche gehen soll. Ich soll in seiner Nähe bleiben.
Wenn ich mich mit Rafa nicht austauschen kann, geht mir an mir selbst viel verloren. Ich erfahre nur einen sehr begrenzten Bereich aus der Bandbreite meiner Empfindungen. Ich fühle mich weit weg von mir, wenn ich weit weg von Rafa bin.
Im "Radiostern" wollte Reesli immerzu mit mir tanzen, und ich versuchte, ihm klarzumachen, daß er mir dabei auch genug Platz lassen soll und mir nicht den Weg verstellen soll. Bei manchen Liedern kann ich andere Leute an den Händen fassen; es gibt aber auch Stücke, bei denen das nicht geht.
Reesli fragte mich immer wieder, ob ich ihn heiraten will. Ich entgegnete immer wieder, daß ich nur Rafa heiraten will; das schien ihn aber nicht sonderlich zu beeindrucken.
"Ich bin Rafa", sagte Reesli, und als ich das bestritt, meinte er:
"Ich bin viel besser als Rafa."
Als mich ein Junge namens Avalon ansprach, schaltete Reesli sich dazwischen:
"He, die gehört mir."
"Das ist völliger Unsinn", sagte ich und redete weiter mit Avalon.
Avalon ist groß und dünn, war wie eine Frau geschminkt und trug einen Stringtanga aus feinen Ketten über der Lackhose. Die Haare hatte er schwarz gefärbt, hoch ausrasiert und hinten zu einem langen, gekreppten Pferdeschwanz gebunden. Er meinte, er sei von meinem Tanzstil fasziniert; außer bei Eliane P. von Die Form habe er etwas Vergleichbares noch nie gesehen; für ihn sei ich schon immer "die Ballerina" gewesen. Ich würde einfach überall auffallen, auch wegen der Garderobe.
"Das stimmt", sagte ich mit einem Blick auf mein durchsichtiges Silberkleid. "Du kannst mich in die abgedrehteste Gesellschaft stecken, ich falle immer aus dem Rahmen."
Ein Mädchen, das in der Nähe stand, trug ein klassisches Mieder - vorne gehakt, hinten geschnürt - und dazu einem bauschigen Reifrock aus schwarzer Spitze. Ein anderes Mädchen trug einen engen Rock, der bis zur Hüfte geschlitzt war, dazu Strapse und Netzstrümpfe. Shirley trug lange, breite Taftbänder in den Haaren und dazu einen fließenden Mantel. Mit Kajalstift hatte sie sich feine Muster um die Augen gemalt. Und doch schienen sie alle in Avalons Augen zu einer Einheit zu verschwimmen, aus der ich herausfiel.
"Ich hatte mich bisher noch nicht getraut, dich anzusprechen", erzählte Avalon. "Da ist auch noch ein Freund von mir, der auf dich steht, aber den will ich jetzt nicht einfach so verraten."
Norman war der Ansicht, daß DJane Cyra schon zu lange nicht mehr hinterm DJ-Pult war, und er schnappte sie sich, legte einen Arm um sie und sagte zu ihr, er werde sie gleich vierteilen; sie solle endlich wieder etwas für ihn spielen. Dann führte er sie in den Elektro-Tanzsaal.
Insgesamt waren die Leute, mit denen ich da war und die ich traf, alle begeistert von dem Programm.
Normans Bekannter Daniel, der in GÖ. Jura studiert, erzählte, daß ein Mitglied von Genocide Organ ausgestiegen sei, nachdem bei einem Konzert in Frankreich sehr viele Rechtradikale erschienen seien, die ihre Parolen gebrüllt hätten. Die menschenverachtenden Snuff-Videos, die Genocide Organ vor vier Jahren bei ihrem Konzert im "La-Tekk's" vorführten, sollen sie angeblich von einer kanadischen Videokünstlerin bekommen haben. Wo die allerdings diese Filme herhat, bleibt unklar.
Einer von Daniels Freunden erzählte, daß er mit Ivo Fechtner inzwischen nichts mehr zu tun haben wolle; der sei ihm recht zuwider geworden. In einem Szenemagazin soll vor einiger Zeit eine Kontaktanzeige von Ivo Fechtner gestanden haben, wo er sich als "schwarz mit Lack und Leder" beschrieb.
Norman meinte, Ivo Fechtner versuche, über die Musikwelt Anhänger für seine ideologischen Vorstellungen zu gewinnen.
Wie jedes Jahr haben Constri und ich füreinander Päckchen-Adventskalender gebastelt. Constri hat dieses Mal einen Teil der "Türchen" als Päckchen aufgereiht und einen Teil als echte "Türchen" auf einem Papierkalender. Als Front hat dieser Kalender ein Schwarzweißbild von Schaltanlagen, und hinter den Türen verbergen sich weitere Schwarzweißfotos, unter anderem aus der Fabrikhalle, in der sich früher die Location "Halle" befand. Das sieht so unwirklich aus, daß ich kaum glauben möchte, dort gewesen zu sein, würde ich mich nicht selbst in der verwunschen wirkenden Halle sehen.
Auch Saara hat Päckchenketten gebastelt, für Svenson und dessen Bruder, der mit ihm zusammenlebt. Das Verhältnis zwischen Saara und Svenson ist zur Zeit entspannter.
An einem Abend war Saara bei mir zum Adventskaffee. Sie rief bei Rafa an und hatte zuerst seine Mutter am Telefon, die berichtete, Rafa sei unten im Keller. Ob sie etwas ausrichten könne?
Saara bat sie, Rafa auszurichten, daß sie angerufen habe und daß es um Videokassetten gehe.
Als Saara wenig später Rafa erreichte, fragte er ganz freundlich:
"Wie komme ich denn zu der Ehre?"
"Da hat jemand große Sehnsucht", erzählte sie, "nach Sachen, fünfzehn an der Zahl - es geht um Videokassetten."
"Ach, das kann ja nur E-Betty sein."
"Wer?"
"Na - Hetty."
"Genau. Sie möchte die Videokassetten gerne wiederhaben, nach viereinhalb Jahren."
"Und warum sagt sie mir das nicht selber?"
"Na, du weißt doch, wie das ist - du darfst nur mit ihr reden, wenn du keine Freundin hast. Und deshalb frage ich dich, wie wir das machen können."
Rafa fiel kein Vorschlag ein, also fragte Saara ihn, ob er mir die Kassetten schicken wollte. Er war einverstanden.
"Wohnt sie noch in dieser ...?" erkundigte er sich.
"Nein, die ist doch längst umgezogen", erwiderte Saara.
Sie ließ sich von mir meine genaue Adresse sagen und diktierte sie an ihn weiter. Dann verabschiedeten sie sich.
Im Nachhinein erinnere ich mich daran, daß Rafa noch etwas anderes hat, was mir gehört - das Minipiano mit den weißen und schwarzen Tasten. Wenn es ihm gelingt, mir die Kassetten zu schicken, kann Saara als Nächstes nach dem Minipiano fragen.
Velvet hat Saara erzählt, daß sie Rafa im November auf einer Tanzveranstaltung getroffen hat. Rafa war ohne seine Freundin da und hatte einen unauffälligen Blonden dabei, vielleicht denselben, mit dem er auch im "Zone" war.
Am Mittwoch vor Weihnachten war ich mit Cyra und Cielle im "Zone". Cyra erzählte, daß Dolf sie bei einer Tanzveranstaltung gefragt hat, ob es ihr recht wäre, wenn Rafa und er im Rahmen einer Depeche Mode Party in BS. im "Restricted Area" auftreten.
"Um Geld geht es nicht, Geld haben wir genug", behauptete Dolf.
Cyra war einverstanden und plant nun, die beiden in eine Depeche Mode Party im Frühjahr einzubauen.
Ich erzählte Cyra, daß mir bei einigen meiner Kollegen auffällt, wie sehr sie sich nach Prestige-Attributen richten:
"Sie versklaven sich dadurch. Sie schränken ihre Möglichkeiten ein, Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen. Freundschaften werden nach oberflächlichen Kriterien geschlossen. Es geht nicht um das Individuum, sondern um Etiketten. Sie leben in Kasten und setzen sich unter Gruppendruck und Prestigedruck. Es geht immer darum, 'etwas Besseres als andere' zu sein, wie das auch immer definiert ist. Du kennst dieses Verhalten auch, wir kennen es beide, aus der Musikszene - das 'Promi-Syndrom'. Im Grunde ist das 'Promi-Syndrom' nichts anderes als das 'Groupie-Syndrom'. Die Abhängigkeit von Prestige-Symbolen ist bei 'Promis' und 'Groupies' dieselbe. Der Unterschied ist nur, daß der 'Promi' auf der Bühne steht und der 'Groupie' davor. Viele Musiker sind ehemalige 'Groupies', die sich entschlossen haben, auf die Bühne zu gehen und dadurch zum 'Promi' zu werden. Ich finde es immer erfrischend, Musiker und ihre Hörer zu treffen, denen es wirklich nur um die Musik geht und nicht darum, sich in den Vordergrund zu spielen oder irgendwen anzubeten."
Cyra und ich haben die Angewohnheit, "irgendwie ganz wichtige" Leute zu kennen, Cyra noch mehr als ich, was allerdings beruflich mitbedingt ist, da sie als DJ in der Musikwelt auf dem neuesten Stand sein will. Für uns besteht immer die Gefahr, daß wir uns oder andere "wichtigmachen".
Im "Zone" traf Cyra mehrere Leute aus BS., die sie mir vorstellte und deren Namen ich mir nicht alle merken konnte. Einer der Jungen heißt Trent und ist Bundeswehrsoldat. Eines der Mädchen heißt Desirée, eines heißt Argena und legt zusammen mit Cyra im "Reentry" auf.
Gegen Morgen überlegten wir, ob wir noch etwas essen gehen sollten. Wir stellten das Auto ein Haus weiter vor den Eingang von "McGlutamat" und frühstückten dort. Kurze Zeit später kamen die Leute aus BS. dazu. Trent erzählte, daß er im ersten Panzer ins Krisengebiet gerollt ist und daß er nur mitdurfte, weil er keine Lust hat, andere Leute umzubringen.
"Die mustern dich aus, wenn du denen erzählst, du willst Leute umbringen dürfen", erklärte Trent. "Und die mustern dich aus, wenn du den Hitlergruß machst. Wenn du also nicht zum Bund willst, genügt es, wenn du in Bomberjacke und mit Billardkugel-Frisur reinkommst und den Hitlergruß machst."
In dem halben Jahr im Krisengebiet habe er insgesamt vierzigtausend Mark netto verdient.
Argena erzählte, daß man wieder schön gelästert habe im "Zone".
"Und dumme Sprüche", ergänzte Cielle. "Leck' mich - ich bin Diabetiker."
Die Zivis von Kingston haben erzählt, daß das mit dem Hitlergruß zwar stimmt, daß aber dafür auch ein Vermerk ins Führungszeugnis kommt und außerdem eine Strafanzeige erfolgt.
"Im Grunde sind wir doch Soldaten", sagte Cedric, der niedliche blondierte Zivi mit den atemberaubend zurückgegelten Haaren, der ein Auto fährt, das bei Wetterwechsel die Farbe wechselt.
"Alles von Daddy", hatte mir der Zivi mit der Raver-Cap erzählt. "Der Cedric ist von Beruf Sohn. Das Auto ist ein restaurierter BMW und hat zigtausend Mark gekostet. Je nachdem, ob es regnet oder die Sonne scheint, ist der Lack mal eher grau oder hellblau."
Mit diesem Auto karrten mich die beiden Zivis von der Kantine zurück zum Haupthaus. Sie verhalten sich sehr wohlerzogen und höflich.
"So waren die Jungen in meiner Klasse früher nicht", dachte ich. "Rowdys waren das. Irgendwie habe ich im Leben doch Einiges verpaßt."
Das Wohnheim für Pfleger und Zivis wird "Bullenkloster" genannt, das Schwesternwohnheim heißt "Jungfrauensilo". Cedric hat erzählt, daß im "Bullenkloster" kürzlich Spritzen gefunden wurden. Man weiß allerdings noch nicht, wer sie dorthin geworfen hat.
Als es zu frieren begann, erzählte eine Psychologin von der Landstraße, über die sie zur Arbeit fahren muß und die gefährliche Steilkurven hat:
"Hinter einer besonders scharfen Kurve liegen sie dann meistens schon auf dem Dach auf dem Acker, und die Bauern müssen die dann erst mal absammeln, wenn sie morgens aufs Feld kommen. Ich habe auch schon mal einen Bauern gesehen, der mit dem Traktor so ein Autowrack von seinem Acker gezogen hat. Kürzlich haben mich drei junge Männer überholt, mit einem ordentlichen Tempo, und hinter der Kurve sah ich sie auch schon liegen. Alle drei sind aus dem Auto geklettert, ihnen ist nichts passiert. Ich habe angehalten und gefragt, ob ich etwas tun könnte, aber die waren wohlauf."
Am 22.12. waren wir abends bei Elaine, die ihren sechsten Geburtstag feierte. Elaines siebenjährige Cousine Griseldis, die Tochter von Merles Schwester Eliana, war ebenfalls zu Besuch. Griseldis kennt ihren Vater nicht, weil Eliana sich schon vor der Geburt von ihm getrennt hat. Sie scheint jedoch einiges von ihm geerbt zu haben. Der Vater von Griseldis steht mit dem Gesetz nicht im besten Einvernehmen und hat unter anderem Elianas Kontokarte gestohlen und damit Geld abgehoben. Griseldis neigt ebenfalls zu Verhaltensweisen, die gekennzeichnet sind durch Rücksichtslosigkeit, Ichbezogenheit, Grobheit und Zerstörungswut. Das wird nicht eben günstig beeinflußt durch die Trunksucht von Elianas derzeitigem Lebensgefährten Conly, der im Suff auch die Kinder schlägt. Elianas halbwüchsiger Sohn Silas ergreift mehr und mehr die Flucht und hält sich lieber bei seinen Kameraden auf als in der viel zu engen Wohnung, in der die Familie haust. Eliana stellt Griseldis gern bei Merle ab mit den Worten:
"Ich werde nicht mehr mit ihr fertig. Ach, wenn sie doch so lieb wäre wie Elaine ..."
Eliana wirkt im Umgang mit der wilden Griseldis hilflos und wenig konsequent. Sie scheint die Abläufe in Griseldis' Seelenleben nicht nachvollziehen zu können oder zu wollen und geht kaum auf die Zeichen ein, die Griseldis ihr sendet; sie verhält sich ihrer Tochter gegenüber entmutigend und entwertend. Es scheint Eliana auch nicht übermäßig zu stören, daß ihre Kinder dem ständig Alkohol trinkenden Conly ausgesetzt sind und daß die Wohnung mit zwei Zimmern viel zu klein ist für eine vierköpfige Familie. Und wenn ihr doch etwas zuviel wird, greift sie selber zur Flasche.
Elaine schaut sich Griseldis' Verhalten zu Teil ab und testet, wie weit sie sich "danebenbenehmen" kann und ob das Folgen hat. Merle weist Elaine sofort in die Schranken, wenn ihr etwas nicht recht ist. Elaine zeigt sich dabei durchaus lenkbar.
Elaine hat von einiger Zeit eine Leuchte von uns bekommen, deren Schirm sich durch die Hitze der Glühbirne drehen kann. Wenn man den Schirm abnimmt, ist darunter ein freiliegender Spieß. Als Elaine Constri und mich mitnahm in ihr Spielzimmer, bot sie uns Marshmellows an und zeigte uns, was sie neulich von Griseldis "gelernt" hat: Geschäftig und wie selbstverständlich steckte sie ein Marshmellow auf den Spieß, der über der Glühbirne senkrecht emporragt, und so wollte sie Marshmellows grillen.
In der Nacht vor Heiligabend war ich in HH. bei "Stahlwerk". Ich fühlte mich an "Klangwerk" erinnert, denn gleich, als ich hereinkam, mußte ich tanzen.
Es gab auch etwas fürs Auge. Ein Junge hatte sich in die springbrunnenartig aufgestellten, ausrasierten Haare mehrere Plastikschläuche geknotet, die zwischen den Haarsträhnen herunterhingen und im Schwarzlicht leuchteten. Ein Pärchen war ganz besonders dekadent gestylt. Beide gingen in schwarzem Lack und hatten kahlgeschorene Köpfe. Sie trug ein Mieder, das die Oberweite in keiner Weise verhüllte, so daß man einfach alles sehen konnte. Er trug Armstulpen mit Federbesatz und einen engen Minirock. Die "Sie" ist, wie man sich erzählt, in Wahrheit ein umoperierter Mann.
Bei den Veranstaltungen der Industrial-Riege von HH. kann man so herumlaufen, wie man ist und wie man sich fühlt, ohne daß man auffällt, egal wie schrill man aussieht. Jeder, der sonst als Außenseiter gelten würde, kann dort "in der Menge versinken" und Zusammengehörigkeit erleben.
Ich fragte Darien, wie er Heiligabend verbringen würde.
"Heyro und Irvin fahren nach MR.", erzählte er.
"Und was machst du?" erkundigte ich mich.
"Ich setze mich an den Computer."
"Du bist ganz alleine?"
"Ja. Hahahaha ..."
"Du feierst gar kein Weihnachten?"
"Nein. Hahahahaha ..."
"Keine Familie und nichts?"
"Ich habe keine Familie", erklärte Darien. "Ich will auch keine haben. Hahahahahaha ..."
Zu Silvester will er "seinen" Behinderten betreuen, einen Rollstuhlfahrer, den er seit neun Jahren ambulant pflegt.
Darien hat seine Diplomarbeit abgegeben, eine experimentelle Internet-Domain.
"Ich hatte nur fünf Tage Zeit", erzählte er. "Deshalb ist es nicht so groß angelegt."
Darien und Heyro haben Mitte Januar beide ihre mündliche Prüfung.
Sofie erzählte, daß Mal mit Dedis Weihnachten feiert, weil die Eltern von Sofie und Dedis nur Sofie sehen wollen, nicht Dedis. Die Eltern würden Dedis vorwerfen, sich nicht artig genug zu verhalten.
"Als wir letztes Mal zu Besuch da waren", erinnerte sich Sofie, "da hatten die noch mehr Gäste, das war echt so ein katholischer Kirchengesangsverein. Das waren Geriatrie-Patienten. Und Dedis hatte blaue Haare, und ich hatte ein gefährliches Decolleté. Das hat denen natürlich nicht gepaßt. Und die haben über uns voll abgelästert."
"Dann haben doch die sich danebenbenommen, nicht ihr."
"Nein, für meine Eltern haben nur wir schuld. Und mit Dedis haben sie sich so verstritten, daß sie sie nicht mehr sehen wollen."
"Und Mal will nicht zu seinen Eltern?"
"Der hat doch gar keine. Der Vater ist abgehauen, als er zehn war, und zu der Mutter hat er keinen Kontakt mehr."
Morgens, als ich nach H. zurückfuhr, schlief ich unterwegs auf dem Parkplatz einer Raststätte.

Ich träumte, ich würde weiter auf der Autobahn fahren und währenddessen einschlafen. Vor lauter Schreck wachte ich auf.

Das Auto stand friedlich auf dem Parkplatz. Ich war durch den Schrecken munter genug, um nicht mehr schläfrig zu werden. Kurz vor H. kam dann die im Wetterbericht angekündigte Weiße Weihnacht. Ich kroch auf Winterreifen durch den Neuschnee und tastete mich die Ausfahrt hinunter.
Heiligabend brachte mein Vater eine CD mit den "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi mit, die wir zur Bescherung anhörten. Ich erinnerte mich daran, daß Rafa mir damals, als ich ihn zum ersten Mal besucht habe, die "Vier Jahreszeiten" vorgespielt hat.
Am ersten Weihnachtstag hatten wir abends unsere Weihnachtsfeier bei Merle. Es gab Salat und Tortellini. Merle hat inzwischen für Elaine ein eigenes Bett aufgestellt und ist dabei, sie daran zu gewöhnen. Mit einer Zigarette zwischen den Fingern schilderte Merle genußvoll, wie das allabendliche Ritual abläuft:
"Ich lege mich schlafen, und Elaine geht auch zu Bett. Und dann:
'Mama?'
'Ja, mein Engel, was ist?'
'Ich kann nicht schlafen.'
'Komm' jetzt, laß' Mama mal in Ruhe.'
'Ich habe Hunger.'
'Du hast jetzt eben erst gegessen.'
'Ich habe Durst.'
'Dann geh' in die Küche und hol' dir was.'
'Mama, ich hab' Angst.'
'Komm' jetzt, laß' Mama mal schlafen, ich muß morgen früh aufstehen und arbeiten.'
'Mama, wenn ich bei dir im Bett liegen könnte, hätte ich keine Angst.'
'Engelchen, laß' Mama jetzt ihre Ruhe haben, die muß auch mal schlafen.'
... und so geht das jeden Abend ..."
Elaine hatte zugehört und sagte gleich ihr Sprüchlein:
"Mama, ich hab' Angst."
Da hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.
Von Merle und Eliana hat Elaine zu Weihnachten je eine Barbiepuppe auf einem Trimmrad geschenkt bekommen. Wenn man das Arrangement einschaltet, strampeln die Puppen hektisch, und es ertönt ein immergleiches Rufen vom Chip, unterlegt mit Disco-Percussion. Ich fragte mich, welche Art von Kreativität so ein vorgeformtes Spielzeug noch anregen konnte. Constri fand es heraus. Sie zog die Barbies von ihren Sätteln, hängte sie schief auf die Trimmräder und schaltete ein. Die Bewegungen, die die Barbies nun vollführten, hätten gut in ein nicht jugendfreies Video gepaßt.
Constri hat von Derek Spitzenwäsche geschenkt bekommen. Derek hat eine Beileidskarte dazugelegt:
"Statt Blumen"
... und mit einem Filzstift ergänzt:
"Schläge!
Alles Gute zum Fest der Schläge!"
Darunter hat er Wäschestücke gemalt und beschriftet, auch einen BH, der folgendermaßen bezeichnet ist:
"BH für was??"
Am zweiten Weihnachtstag hatte ich Dienst. Auch Kingston war verschneit. Ich machte Fotos in den Katakomben, das "Kloster im Schnee".
Ein Rollstuhl wurde auf die Sucht-Aufnahmestation gefahren, in dem befand sich eine Frau, die mehr darin hing, als zu sitzen. Ein Mann begleitete sie, der erzählte:
"Ich beliefere dieses Haus nun schon seit über vierundzwanzig Jahren. Suchthilfe. Dieses arme Kind ist erst heute aus dem Krankenhaus von WF. entlassen worden, und mit ein paar alten Damen zusammen hat sie gleich weitergetrunken. Und dann kommt noch dieses Dominal dazu ..."
Ein anderer Fall aus dem Dienst, der sich vor etwa einem Monat ereignet hat, war ein Mann, der zu Hause den Notarzt rief und mitteilte, seine Freundin liege tot neben ihm. Als der Notarzt kam, war der Mann in der Wohnung allein. In einem Telefongespräch mit der totgeglaubten Freundin berichtete diese, sie sei gar nicht die Freundin des Mannes, sondern eine ehemalige Klassenkameradin, und sie habe ihn zuletzt vor mehreren Monaten gesehen. Die Nachbarn berichteten, der Mann sei schon seit Jahren alkoholkrank. Am Vortag habe er einen Computer und eine brennende Terpentinflasche aus dem Fenster geworfen. Bei Ankunft des Notarztes verwüstete der Mann gerade sein eigenes Schlafzimmer. Er berichtete, er habe seine Frau gerade im Wohnzimmer beerdigt. Vom Notarzt wurde dann die Einweisung ins Krankenhaus veranlaßt. Dort gab der Patient an, er habe mit seiner Freundin "Bettspiele" gemacht; er wollte, daß sie auf Daunen liegt. Deshalb habe er das Bettzeug kaputtgemacht. Er könne sich nicht erinnern, jemals Terpentin oder einen Computer aus dem Fenster geworfen zu haben. Sein Computer stehe noch in seiner Wohnung. Er zeigte sich sehr aufgebracht wegen des Unterbringungsbeschlusses. Außerdem beschwerte er sich darüber, daß seine Sorge um die Freundin, die er suchen lassen wollte, nicht ernst genommen würde. Er gab an, Schwingungen des Bodens zu bemerken, die andere Menschen nicht wahrnehmen könnten. Dies liege an seinem ehemaligen Beruf als Steinsetzer. Er würde auch regelmäßig sehen, wie sich Brücken durchbiegen. Zu seiner Suchtvorgeschichte gab er an, er trinke jeden Abend ein Alster und zwei bis drei Weinbrand und morgens eventuell ein Pils. Er habe kein Alkoholproblem.
Ein Patient, der im Dienst aufgenommen wurde, war aus einem Heim für seelisch Behinderte weggelaufen und wurde gefahndet. In BS. gibt es eine Straße, wo auf der einen Seite das LKA ist und auf der anderen Seite eine Polizeiwache. Und der Patient, der es bis nach BS. geschafft hatte, pinkelte ans LKA. Da war für ihn die Flucht zuende, und er kam nach Kingston.
Ein Patient kam verwahrlost zur Aufnahme. Ihm wurde vorgeschlagen, ein Bad zu nehmen. Er gab an, 1958 habe ihm sein Arzt das Baden verboten. Duschen würde er auf jeden Fall. Zur Vorgeschichte ergänzte der Patient, er sei seit dreiunddreißig Jahren arbeitslos und komme allein nicht mehr vom Alkohol 'runter, er wolle die Hilfe des Krankenhauses annehmen. Insgesamt habe er bereits zwanzig Entgiftungen hinter sich und trinke täglich zehn Liter Bier. Ambulante Hilfsangebote hätten bisher nichts gebracht. Daher ziehe er einen längeren Aufenthalt hier in der Klinik in Erwägung. Beim Ausfüllen der Essenkarten verlangte er jeden zweiten Tag ein gekochtes Ei. Da diesem Wunsch nicht entsprochen werden konnte, lehnte der Patient eine stationäre Behandlung ab und verließ schimpfend die Station.
Ein Patient berichtete im Alkoholentzug, seine Nachbarn hätten sich gegen ihn verschworen, auch der Vater der Familie. Auf den Hinweis, daß der Vater bereits verstorben sei, meinte der Patient, falls es den Vater nicht mehr gebe, sei es eine Nachbildung.
Ein Alkoholiker erzählte, wo er an seinem Arbeitsplatz den Alkohol deponiert hat. Im Kofferraum stand ein Reservekanister voller Schnaps, da ging er regelmäßig hin zum "Nachtanken".
Ein anderer Alkoholiker hat in den Maschinen bei VW Flachmänner versteckt.
Ein Patient hat erzählt:
"Damals bei der Feuerwehr haben wir so viel gesoffen, daß es oben 'rausgelaufen ist."
Eine Patientin hat von ihrer kriminellen Vorgeschichte erzählt:
"Da habe ich eine Wohnung und ein Auto überfallen."
"Und was haben Sie dafür gekriegt?" wollte ich wissen.
"Na, das Auto konnte ich ja nicht mehr verkaufen", meinte sie.
Dabei hatte ich mich nur nach der Höhe der Haftstrafe erkundigt.
Die Ehefrau eines Alkoholikers berichtete mit einem Seufzen:
"Er zerschlägt die Sparschweine seiner Kinder, um sich Alkohol zu kaufen. Jeden Tag trinkt er fünf Liter Wein aus dem Tetrapak, dieses billige Zeug, ihgitt. Und morgens um fünf geht er auf Aral."
In einem Arztbericht notierte ich die Schilderungen eines Patienten:
"Es sei ihm nicht gelungen, regelmäßig zur Arbeit zu gehen. Er sei immer nur bis zur Haltestelle gekommen, wo ein Kiosk gewesen sei."
Ein Pfleger wußte eine Geschichte aus Amerika, von einem, der wurde in seiner Wohnung gefunden und war so dick, daß er ein Doppelbett ausfüllte. Weil er operiert werden mußte, sollte er aus der Wohnung hinausgebracht werden. Durch die Tür paßte er aber nicht mehr. Also mußte die Feuerwehr kommen, ein Teil der Fensterwand mußte ausgebrochen werden, und der Mann wurde mit einem Kran auf die Ladefläche eines LKW gehoben und auf diese Weise wegtransportiert.
Eine Frau soll so dick gewesen sein, daß das Bad umgebaut werden mußte, weil sie sonst nicht mehr zur Toilette konnte. Sie schaffte es ohne Hilfe fast nicht mehr, vom Bett aufzustehen.
Weil Rafa mir die Videokassetten nicht geschickt hat, planen Saara und ich, daß sie ihn wieder anruft und mit ihm eine Übergabe verabredet. Er hat sich die Kassetten mitgenommen, also müßte er sie auch selbst wieder zurückbringen, mindestens zu Saara. Sie möchte Rafa kurz nach seinem Geburtstag anrufen, damit sie ihm nachträglich gratulieren kann.
"Er trennt sich nicht von Berenice", sagte ich, "und ich kann ihn an seinem Geburtstag wieder nicht besuchen, ich kann ihm nicht gratulieren und ihm nichts schenken, dabei ist es der dreißigste."
"Der entwickelt sich nicht weiter", meinte Saara. "Der wächst nicht. Er will es immer bequem haben und keine Verantwortung tragen."
"Es liegt so viel brach, bei ihm und bei mir. Jeder von uns erlebt ohne den anderen nur einen schmalen Bereich der tatsächlichen Bandbreite seines Gefühlslebens. Rafa stört das nicht, er ist auf seine Art zufrieden und ausgeglichen. Mich hingegen macht es rasend."
Janet hat einen neuen Freund, der mich nur vom Sehen kennt; er sagte über mich, das wäre so eine, die immer ein bißchen so wie eine kleine Ballerina aussehen würde.
"Das wird die sein", sagte Janet.
Ende Dezember legte ein DJ im "Exil" auf, der zum Bekanntenkreis von Ivo Fechtner gehört. Es sollte eine Industrial-Veranstaltung sein; der rhythmusbetonte "Power Elektro", den ich bevorzuge, lief jedoch kaum. Stattdessen wurde fast nur amorpher Noise gespielt, abgemischt mit Samples aus dem Dritten Reich. Unter den Gästen im "Exil" waren viele heidnische Jünger und Militaria-Fetischisten. Roy ging im SS-Look und Alienne in BDM-Uniform. Ich denke, daß solche Leute in der Szene nichts zu suchen haben; sie können sich von mir aus auf Sonnwend-Feiern vergnügen. Es war geschickt arrangiert von der Nazi-Fraktion, ihren harmlosesten Vertreter bei Edaín vorzustellen, damit sie ihn auflegen ließ. Sie war nicht im "Exil", und so konnte ich sie noch nicht darauf ansprechen.
Silvester wurde mein Gästebuch voll, und zur "echten" Jahrtausendwende begann ich ein neues. Am Neujahrstag ging zugleich mein Internet-Gästebuch online. Meine Domain ist nun so weit gestaltet, daß ich sie allgemein bekannt machen kann.
Merle hat erzählt, daß Erdnußkopf und Brinkus nach der Silvesterfeier bei mir noch in die Innenstadt gefahren sind. Sie waren in Jaraneks Stammkneipe, um dort seiner zu gedenken. Sie wollten Merle überreden, mitzukommen, doch die fand es geschmacklos, einen Toten mit einem Saufgelage zu ehren, auch deshalb, weil Jaranek an den Folgen seiner Alkoholsucht gestorben ist. Sie fuhr nach Hause.
Erdnußkopf berichtete Merle später, er habe in dieser Kneipe "mit besoffenem Kopf" eine Frau kennengelernt, die aus dem sumpfigen, staubigen "Nowhere"-Milieu stammt. Er soll am Telefon zu Merle gesagt haben, daß er sie nicht mehr so oft besuchen will. Elaine, die Merle gerne den Hörer wegnimmt, fragte kühl:
"Du hast wohl eine Freundin, daß du uns nicht mehr sehen willst?"
Merle ist enttäuscht von Erdnußkopf, und sie macht sich Sorgen, daß er sich bei der "Sumpfbewohnerin" mit irgendetwas ansteckt.

In einem Traum Anfang Januar war ich in meiner ehemaligen Wohnung in meinem Zimmer, das heute Dereks Zimmer ist. Mein Vater war zu Besuch und erzählte, daß er eine technische Frage nicht beantworten konnte. Constri kam herein mit Rafa und sagte zu meinem Vater:
"Hier, ich bringe dir den Rafa, der kann das beantworten."
Rafa trug Sachen aus schwarzer Baumwolle, eine Hose und ein kurzes Jäckchen mit Reißverschlüssen, und sah darin eher reserviert aus. Seine Haare waren schwarz getönt und nicht zurechtgemacht. Er und ich sahen uns kurz in die Augen, dann beschäftigten sich Rafa und mein Vater mit dem technischen Problem. Währenddessen setzte Rafa sich auf mein Bett, ans Kopfende. Als mein Vater alles Wesentliche mit ihm besprochen hatte, ging er hinaus. Ich setzte mich zu Rafa und erzählte ihm von den Geschichten, an denen ich arbeitete, und ich zeigte auf eine Barbiepuppe im weißen Kleid, die von einem gepanzerten Ritter in eine Kiste aus Peddigrohr gesetzt wurde. Ich erinnerte ihn auch an unsere Begegnungen hier in diesem Bett:
"Und dann haben wir uns umarmt und gestreichelt und geküßt ..."
Rafa betrachtete das als Aufforderung; er zog mich an sich und küßte mich, mehrmals und lange. Ich schloß meine Arme um ihn, streichelte ihn und dachte:
"Das Hoffen war nicht vergebens."
Während wir miteinander beschäftigt waren, hatte Rafa immer weniger an. Ich hatte auch nur noch ein Nachthemd an, und in dem Bett war nichts mehr außer einer Decke. Als wir umschlungen am Fußende saßen, bemerkte ich:
"Du frierst. Schnell unter die Decke."
Wir legten uns "richtigherum" ins Bett, und ich breitete die Decke über uns aus. Rafa erfand Geschichten über die Barbie und wo man sie hintun könnte und wo man den Ritter hinstellen könnte.

In BS. besuchte ich Deon. Henk war auch bei ihm. Deon machte Abendbrot. Er erzählte von seiner Arbeit in den Grünanlagen der Stadt, die ihm viel bedeutet.
"Es ist gut, daß es nur Teilzeit ist", meinte er. "Vollzeit schaffe ich wohl nicht."
In der Nacht zu Rafas Geburtstag war ich mit Laurie im "Zone". Auf der Hinfahrt wurde mir schlecht, und um Mitternacht stand ich in HF. vor einer Blumenrabatte, die zum Arbeitsamt gehörte, und fragte mich, ob ich mich übergeben würde oder nicht. Ich übergab mich nicht, vielleicht auch wegen der kalten Luft und dem Paspertin, das ich genommen hatte, bevor wir losfuhren.
"Rafa erlebt jetzt wahrscheinlich eine besonders festliche Stunde", dachte ich. "Berenice wird ihn mit irgendwelchen Geschenken zu seinem Dreißigsten überraschen. Sie kann bei ihm sein und ihm etwas schenken, weil sie ergeben und pflegeleicht ist. Und ich will und werde nie ergeben und pflegeleicht sein. Dafür kann ich ihm halt nie etwas schenken, so sehr ich mir das auch wünsche."
Im "Zone" traf ich Claire und Cal. Ich erzählte ihnen nichts von Rafas Geburtstag, weil mich der Gedanke zu sehr belastete, daß ich ihn nicht besuchen und ihm nichts schenken konnte. Ich wollte viel tanzen und wenig schlafen, um nicht in den Abgrund zu stürzen, in den ich jedesmal stürze, wenn er Geburtstag hat und ich ihn wieder einmal weder besuchen noch ihm etwas schenken kann.
"Irgendwie muß ich das nachholen, und wenn es Jahre dauert", dachte ich.
Saara wollte ihm am Montag nachträglich gratulieren, gewissermaßen an meiner Statt; das war immerhin mehr als nichts.
"Die Fliege ist mächtiger als die Venusfalle, solange sie Abstand von ihr hält", sagte ich zu Laurie. "Rafa weiß das und wird sich mir deshalb auch nicht mehr nähern."
Ich tat mir Paspertin in die Cola, und mir ging es schon bald deutlich besser. Les spielte unter anderem "Comatose delusion" von Suicide Commando, "Paradox effect" von Pierrepoint, "Further" von VNV Nation und "Nullity v 2.3" von ORPHX. Ich kam auf meine Kosten.
Am Samstag waren wir im "Radiostern". Lillien war mit ihrem Freund und dessen fünfzehnjähriger Tochter im da. Ada wurde von Lilliens Ehemaligem gehütet, Adas Vater. Das Kind soll sich gut entwickeln, und auch die Besuche beim Vater sollen reibungslos verlaufen.
"Ada ist meine ganze Freude", sagte Lillien.
"Du hast ihr auch das Wichtigste gegeben, was man einem Kind geben kann", meinte ich. "Du hast sie von Anfang an gewollt und geliebt."
Als es gegen Morgen im "Radiostern" leerer wurde, fragte mich Cyras DJ-Kollege Linux:
"Du tanzt doch zu Techno?"
Ich nickte.
"Bleibst du dann gleich auf der Tanzfläche, damit ich nicht allein tanzen muß?" bat er.
Ich nickte.
Es gab dann doch noch mehr Leute, die mit auf die Tanzfläche kamen. Es lief eine längere Techno-Schiene, wie sie seit einiger Zeit immer zum Schluß im "Radiostern" gebracht wird.
Aus Kingston gibt es wieder einige Seltsamkeiten zu erzählen. Im Nachtdienst wurde eine alte Dame aufgenommen, die erzählte, in ihren Kopf sei ein Apparat eingebaut worden, der komme von Gott. Sie sei ganz glücklich mit dem Apparat, über den sie auch Radio hören könne. Nur ihre Enkeltochter sei damit nicht einverstanden.
Es gibt auch eine Geschichte von einem deliranten Patienten, der im Papierkorb wühlte, und als man ihn daran hindern wolle, meinte er:
"Aber ich muß doch den toten Hund da 'rausholen."
Dann unterhielt er sich etwa zwei Stunden lang mit der Tür der Personaltoilette. Als ein Pfleger ihn bat, im Wachsaal zu Bett zu gehen, meinte der Patient:
"Aber ich kann doch meine hundertdreißig Millionen nicht unbeaufsichtigt lassen!"
Kollege Gerwyn erzählte nach einem anstrengenden Nachtdienst:
"Es war, als wenn in WOB. eine Rohrreinigung stattgefunden hätte und alles, was im Siphon drin war, zu uns gespült worden ist. Auf einer Baustelle in WOB. ist ein Junkie auf einen Kran geklettert, und die Feuerwehr wollte ihn mit der Drehleiter von dem Kran herunterholen. Das wollte der aber nicht und hat wild geschlagen und getreten, und der war wohl auch gut abgefüllt. Als der dann hier ankam, war er mit einem zehn Meter langen Nylonseil an einem Stuhl festgebunden und hatte Handfesseln und Fußfesseln und einen Stoffsack über dem Kopf. Wir haben den dann erstmal ausgewickelt, und der mußte grundgereinigt werden und war überall zerschunden."
"Das mit dem Kran macht der öfter", wußte eine Kollegin. "Das hatten wir kürzlich erst. Er hat gesagt, er kommt nur 'runter, wenn er hier auf eine ganz bestimmte Station darf."
Mitte Januar war Saara bei mir und erzählte, daß Svenson und sie immer häufiger über Themen wie Ehe und Kinder sprechen. Anlaß dafür ist nicht zuletzt das Kind von Danielle, das im Sommer zur Welt kommen soll. Danielle ist mit ihren zwanzig Jahren die jüngste der drei Schwestern und gleichzeitig die erste, die Mutter wird. Sie möchte mit ihrem Mike in eine größere Wohnung ziehen. Die Verwandtschaft überbietet sich in Hilfeleistungen und Geschenken.
Wie wir es uns vorgenommen hatten, rief Saara während unseres abendlichen Kaffeetrinkens bei Rafa an. Er kam gleich an den Apparat:
"Hallo?"
"Rafa?"
"Ja", sagte er kurz.
"Hier ist die Saara. Ich wollte dir gern zum Geburtstag gratulieren."
Rafa bedankte sich. Saara erinnerte ihn an die Videokassetten.
"Wie war nochmal die Adresse?" fragte er sogleich.
"Ach, du hast sie verloren?" fragte Saara nach.
"Die habe ich nicht mehr gefunden, bei den vielen Zetteln", redete er sich in bekannter Weise heraus und wirkte reichlich aufgeregt.
Saara sagte sie ihm noch einmal.
"Moment - nicht so schnell - muß erstmal was zu schreiben holen", bremste Rafa.
Sie sagte ihm die Straße und unterbrach sich dann:
"Ach ja - 'Hetty Lerag', das weißt du noch?"
"Ja."
Als er sich die Adresse aufgeschrieben hatte, fragte Saara, ob er auch die Nummer wollte?
Ja, die wollte er. Also bekam er auch die Telefonnummer und hatte nun die Gelegenheit, festzustellen, daß es dieselbe ist wie früher.
"Die Handynummer brauchst du aber nicht unbedingt?" setzte Saara hinzu.
Nein, die wollte er nicht unbedingt.
"Ach ... übrigens ... Hetty hat ja bald Geburtstag", erzählte Saara, "und sie würde dich gerne zu ihrer Party einladen."
"Das wird schlecht gehen ...", sagte Rafa hastig und verlegen. "Jedenfalls müssen erstmal diese Sch...-Videokassetten hier wegkommen. Wir hören uns ... tschüß."
"Tschüß."
Saara meinte nach diesem Gespräch:
"Also, mehr war absolut nicht drin. Da kamst du nicht weiter."
"Der hat sich wohl ganz schön erschrocken", vermutete ich. "Und ich sage, der schickt mir die Kassetten nicht, weil er möchte, daß wir ihn nochmal anrufen."
Saara dachte sich aus, was sie ihm das nächste Mal erzählen könnte:
"Nicht aufregen, Rafa ... ommm ..."

In einem Traum stieg ich an einer Landstraße in einen Linienbus. In einer Bank saßen zwei, die hatten eben einen ermordet, der lag im Gang. Sie hatten ihn mit einem feinen Stilett erstochen, alles war voll Blut, ein fürchterlicher Anblick.
"Und was alles Ekliges hier 'rumliegt", dachte ich erschauernd.
Die anderen Fahrgäste schien der Tote nicht sonderlich zu beschäftigen.
Ich stieg bald aus und machte mich auf den Weg ins nächste Dorf. Ich hatte einen Schreibtischstuhl bei mir, den ich an einer Bushaltestelle zurückließ, als ich in dem Dorf angekommen war. Ein Penner, der im Haltestellenhäuschen wohnte, betrachtete den Stuhl neugierig und wunderte sich, weil ich ihn nicht mehr weiter mitnahm. Viele Fahrgäste warteten schon, und ich dachte mir, daß es besser wäre, mit dem Bus weiterzufahren, trotz meines schaurigen Erlebnisses. Der Bus kam bald, und es war derselbe, mit dem ich vorhin schon gefahren war. Er hatte seine Schleife beendet und machte die nächste Tour. Drinnen war inzwischen aufgeräumt und saubergemacht worden. Der Busfahrer erzählte mir, daß man die beiden Mörder herausgeholt und weggebracht hatte.
"Das war vielleicht ein Aufstand", meinte er.
Der Fahrer war ein wilder Kerl mit Stirnglatze und langer Mähne. Ich fand ihn aber nett und erfrischend unkompliziert.

Im Nachtdienst aß ich in einem Schwesternzimmer mit Kollegin Patrice zu Abend. Patrice hat das, was ich gerne hätte - eine unbefristete Stelle. Das scheint ihr aber gar nicht so viel zu bedeuten; sie findet alles "ätzend" und "völlig furchtbar" und überlegt, ob sie weggeht. In ihren Augen scheint das Leben ein sorgloses Dahingleiten zu sein, nicht - wie für mich - ein ewiger, aufreibender Kampf.
"Ich bin mit einer Stelle dann zufrieden, wenn ich in meinem Fachgebiet arbeiten kann, wenn ich nicht unterfordert oder unterbezahlt bin und wenn ich beim Arbeiten in Ruhe gelassen werde und nicht immer damit rechnen muß, daß mich jemand angreift", beschrieb ich meine Sichtweise. "Das reicht mir völlig aus; um Macht oder Karriere geht es mir gar nicht. Für mich ist vor allem wichtig, daß sich in meinem Arbeitsumfeld möglichst wenig verändert."
Ich erzählte Patrice, daß mir Mobbing seit meinem ersten Schuljahr vertraut ist und daß es immer mein wichtigstes Ziel ist, ein Arbeitsfeld zu finden, wo ich von Mobbing verschont bleibe.
"Ich vertrage das nicht", meinte ich. "Wenn pro Jahr ein einziges Mal Mobbing stattfindet, habe ich auch ein ganzes Jahr lang seelisch damit zu tun."
"Das geht mir nicht so", freute sich Patrice.
Der aggressive Oberarzt, der mich nach meinem Wechsel auf eine andere Station überwiegend in Ruhe läßt, verhält sich Patrice gegenüber weit respektvoller als mir gegenüber.
"Auf mir hat er einfach alles abgeladen", erzählte ich. "Der hat sich in keiner Weise gebremst. Ich war für ihn der Fußabtreter schlechthin."
"Den Vorgesetzten gegenüber ist er immer ganz unterwürfig."
"Ja, regelrecht hündisch. Und nach unten wird getreten. Der benimmt sich nur anständig, wenn ich ihm nicht zu oft begegne. Ansonsten läßt der seinen Aggressionen freien Lauf."
"Das kann bei dir auch daran liegen, daß du besonders feminin wirkst", überlegte Patrice. "Ich bin ja etwas robuster."
Außer einem Problem mit Frauen, das vielleicht auf irgendwelche Kindheitserlebnisse zurückgeht, könnte auch die bei dem Oberarzt bekannte Epilepsie und eine damit verbundene Hirnschädigung ein Grund für dessen wiederholte aggressive Durchbrüche sein.
"Die Selbst- und die Fremdwahrnehmung sind bei ihm gestört", meinte Patrice, "und die Fremdwahrnehmung noch mehr als die Selbstwahrnehmung."
Ich konnte das nur bestätigen.
Patrice und ich erzählten einander vom Studium. Besonders skurrile Erlebnisse hatte Patrice im Kurs für Rechtsmedizin:
"Da wurde uns einer gezeigt, der hatte sich weggehängt. Uns wurde schon ganz schlecht. Das hat der Prof gesagt:
'Mensch, das ist meine besterhaltene Leiche! Da werden Sie doch nicht schon zusammenbrechen!'"
"Unser Pathologie-Professer hat uns eine Leiche gezeigt und Sachen erklärt, und währenddessen hat er ganz gedankenverloren die Hand der Leiche genommen und getätschelt. Und einer hat erzählt, er kam in den Kurs für Rechtsmedizin, und da sagte der Prof:
'Hier sehen Sie eine Familie, die von einem Auto überfahren worden ist. Jetzt dürfen Sie herausfinden, ob es ein PKW oder ein LKW war.'"
In einer Gruppentherapie-Stunde hat ein Patient erzählt, daß es im Hofbräuhaus eine sogenannte "Saufmaschine" gab. Das war ein Krug mit mehreren Schläuchen, dort wurde eine Maß hineingeschüttet, und es gab mehrere Gruppen, die um die Wette eine "Saufmaschine" leertranken. Der Rekord soll bei drei Sekunden gelegen haben.
Ein anderer Patient hat vom "Flaschendrehen" bei der Bundeswehr erzählt. Alle mußten sich in einen Kreis setzen, in der Mitte wurde eine Wodkaflasche gedreht, und bei wem die Flasche anhielt, der mußte trinken.
Das erinnert mich an das "Tequila-Auswürfeln" bei meiner Geburtstagsparty 1992. Sadia, Constri und Rikka hatten vereinbart, daß man bei einer eins und einer sechs trinken mußte. Nach etlichen Schluck Tequila mußte man schon bei fast jeder Augenzahl trinken, nur bei der zwei nicht. Irgendwann ging Sadia ins Bad und blieb dort zwei Stunden lang. Seither hat sie Tequila nie mehr angerührt.
Dero hat erzählt, daß er seit Monaten krankgeschrieben ist, weil er im November einen Herzinfarkt hatte. Das konnte in diesem jungen Alter schon passieren, weil er von seinem Vater erhöhte Blutfette geerbt hat. Bisher wußte Dero davon gar nichts. Es hat ihm sehr zugesetzt, doch nicht so leistungsfähig zu sein, wie er gedacht hatte. Er hat sonst viel Sport getrieben.
Als er aus dem Krankenhaus kam, fuhr Dero mit seinem Motorrad weg, um "abzuschalten". Das Ergebnis war ein gebrochenes Schlüsselbein, was ihm gleich den nächsten Krankenhausaufenthalt bescherte. Als er wieder herauskam, fuhr er "aus Frust" mit einem Promille Auto, wurde erwischt und mußte für einen Monat den Führerschein abgeben.
Dero ist inzwischen mit seiner "ehemaligen-und-doch-wieder-Freundin" Nanette zusammengezogen, in eine hübsche Altbauwohnung, wo jeder sein eigenes Zimmer hat. Trotz der Möglichkeit, sich zurückzuziehen, gab es schon wieder viele Streitereien.
"Ihr werdet euch immer streiten", meinte ich. "Am besten ist es, wenn ihr lernt, zu streiten, ohne euch dabei aufzuregen. Ihr könnt Rituale daraus machen, die viel weniger aufreibend sind, als wenn man jeden Streit als Ausnahmezustand betrachtet. Die Streits sollten von vornherein als Bestandteil des Alltags eingebaut werden, dann sind sie nicht mehr so furchterregend."
Zwei Kinder leben bei ihnen, Nanettes Kind aus einer früheren Beziehung und der gemeinsame Sohn von Nanette und Dero.
"Das ist es doch, worauf es wirklich ankommt", meinte Dero, "die Familie."
"Eben, dann lernt auch, euch richtig zu streiten, damit ihr als Familie zusammenbleiben könnt."



Ende Januar war ich mit Sarolyn und Victor im "Exil". Auf der Hinfahrt unterhielten wir uns über BSE. Sarolyn erzählte, daß ihr Chef sich immer Kapseln aus Amerika kommen läßt, deren Inhalt aus zerglibberten Luftröhren von Rindern besteht. Das soll für die Gelenke sein. Der Chef soll gesagt haben, BSE hin oder her, mit diesen Luftröhren-Kapseln könne er sich wenigstens bewegen.
Als wir die Treppe ins "Exil" herunterkamen, unterhielten wir uns über nicht vorhandene Begrüßungsdrinks. Rafa lehnte gleich unten im Eingangsflur an einer Konsole, mit dem Rücken zu mir, und redete mit einem Jungen. Im Vorbeigehen konnte ich Rafa kurz am Arm fassen. Er trug ein schlichtes schwarzes Sakko und ein weißes Hemd, was ich bei ihm fürchterlich langweilig finde. Ich hatte das spitzenbesetzte Tutu aus dunkelrot-schwarz changierendem Taft an, das ich Lana abgekauft habe, ein ausgeschnittenes, mit schwarzer Spitze besetztes Trägerhemdchen aus dunkelrotem Samt und darunter ein durchsichtiges schwarzes T-Shirt. Dazu trug ich ein Halsband, Ketten und Armbänder aus schwarzen Onyx-Attrappen, schwarze Spitzenhandschuhe, schwarze Spitzenschnürbänder und eine schwarze Strumpfhose mit Naht. Als ich diese Sachen das letzte Mal im "Exil" anhatte, kam ein älterer Gast auf mich zu und sagte zu mir:
"Damals in den Fünfziger Jahren, da ist man auch so herumgelaufen, daran kann ich mich noch erinnern."
Mir hat der Stil schon immer gefallen, ich hatte die Sachen nicht wegen Rafa an.
Sarolyn und ich beschäftigten uns als Erstes im Vorraum der Damentoilette mit unserem Makeup und der Frisur. Sarolyn hat sehr dichtes dunkles Haar, eine lange Mähne, die sie ordentlich nachtoupierte.
"Kannst ihn ja mal auf die Kassetten ansprechen", meinte sie im Hinblick auf Rafa.
"Nee", entgegnete ich, "solange der die Tussi hat, gibt's nichts!"
Als wir in der Damentoilette fertig waren, gingen wir die Stufen hinunter zur vorderen Area. Gleich hinter den Stufen fand ich Rafa, wieder an einem Tischchen und mit dem Rücken zu mir, immer noch mit dem Jungen im Gespräch. Ich faßte ihn ein zweites Mal am Arm. Dann war ich auf der Tanzfläche, und als ich mich nach Rafa umsah, blickte ich gerade in sein Gesicht. Es kam mir so vor, als wenn er mich beobachtete. Eine Weile blieb er da stehen, dann ging er mit dem Jungen in den anderen Tanzsaal, wo sich die hintere Area befindet. Im Vorbeigehen war er zu weit von mir entfernt, als das ich noch einmal nach ihm hätte greifen können. Er trug einen zusammengerollten Papierstapel in der Hand, eine Heftung.
Im hinteren Saal legten Kappa und Xentrix auf, im vorderen Edaín. Sie spielte unter anderem "Standing" von VNV Nation, "Better off dead" von Suicide Commando und "Starsign" von Apoptygma Berzerk, so daß es für mich etwas zum Tanzen gab und ich mich meistens dort aufhielt. Rafa stand eine Zeitlang neben Edaíns DJ-Pult in einer Ecke und redete mit Morgan. Ich sah Rafa wie gewohnt gestikulieren, mit weitausholenden Bewegungen, als wenn es da etwas ganz Wichtiges zu besprechen gab. Ich konnte mir vorstellen, daß er vor allem redete, um sich zu beschäftigen. Einmal, als ich mich nach Rafa umsah, blickte ich in das Gesicht von Berenice. Es sah aus, als wenn sie sich vor ihn stellen wollte, um ihn abzuschirmen.
Berenice ging zuerst zurück in die hintere Area, Rafa ging ihr später nach. Als Sarolyn und ich uns in der hinteren Area umsahen, fand ich Rafa gleich hinterm Eingang an einem Tischchen, Berenice neben sich. Weil Berenice nicht hinschaute, griff ich ein drittes Mal nach Rafas Arm.
Dolf war auch im "Exil", und ich hatte sehr den Eindruck, von ihm beobachtet zu werden. Erklären kann ich mir das freilich nicht.
In der hinteren Area traf ich Ivco und Carole. Ivco berichtete, daß er mit Carole nach SHG. gezogen ist. Sarolyn erfuhr von ihm, daß er Carole in etwa drei Monaten heiraten will. Ich befürchte, daß Rafa sich davon mitreißen läßt und Berenice heiratet.
Ivco trug eine "W.E"-Anstecknadel am Kragen. Er hat Sarolyn erzählt, daß Rafa dieses Jahr wieder zu Pfingsten in L. auftreten will und daß er selbst auch mitkommt. Sarolyn, Victor und ich haben schon in einem Hotel gebucht. Das Konzert von Rafa werde ich mir nur ansehen, wenn es sich nicht mit einem Industrial-Elektro-Konzert überschneidet. Wahrscheinlich wird Rafa wieder Berenice auf die Bühne stellen, in Kleidern, die sie sich selbst niemals ausgesucht hätte. Sie hatte auch dieses Mal im "Exil" nichts an, was in Rafas Konzept paßt. Sie trug eine blonde Strähne und ein schmales gemustertes Kleid im aktuellen Stil, grau und fließend.
Berenice folgte mir auf die Damentoilette, einer altbekannten Gewohnheit entsprechend. Vor dem Spiegel unterhielt sie sich mit Dana. Als ich aus der Kabine kam, fragte Dana gerade:
"Was willst du denn auf einem Blümchen-Konzert?"
Berenice antwortete mit ergebener, weichgespült klingender Stimme:
"Na, ja ... Rafa mag die Musik, und da gehen wir halt hin."
Es ging um das Abschiedskonzert von Blümchen. Das Popindustrie-Produkt Blümchen wird es bald nicht mehr geben, es ist wohl kommerziell nicht mehr lohnend.
Dana wollte in die Toilettenkabine und fragte Berenice, ob sie ihre Tasche halten könnte:
"Nimmst du das mal solange?"
"Ja, natürlich", antwortete Berenice, und wieder klang ihre Stimme weichgespült.
Ich fühlte die Aggressivität unter der Schale, bin mir aber sicher, daß Dana nichts davon bemerkt hat. Im Gegenteil, wahrscheinlich erlebt Dana Berenice als "echt voll nett", als "hätte ich zuerst gar nicht gedacht, die ist ja voll nett". Berenice verkauft sich überzeugend. Und sie scheint die Erfahrung gemacht zu haben, daß ihre Beziehung zu Rafa erhalten bleibt, solange sie alles gut findet und mitmacht, was er anordnet.
"Unterwürfig" ist mein Ausdruck für solche Leute. Der eigene Wille wird nicht benötigt, denn man hat ihn gegen einen Status eingetauscht.
Als ich auf den Wasserhahn zuging, wich Berenice zurück, blieb allerdings noch vor dem Spiegel stehen. Ein Mädchen kam herein und fragte sie, ob sie vor ihr dran sei?
"Nein, ich war schon", antwortete Berenice.
Seltsamerweise machte Berenice keine Anstalten, mich zusammenzuschlagen, obwohl wir für kurze Zeit vor dem Spiegel allein waren. Ich ging eher hinaus als sie.
Kurze Zeit später verließen Rafa und Berenice das "Exil". Berenice ging hinter Rafa, der immer noch den Papierstapel trug.
"Warum geht der so früh?" fragte Sarolyn.
"Vielleicht bin ich Berenice viel zu sehr da", meinte ich.
Ein Junge namens Tricky sprach mich an, mit der alten "Baggerformel":
"Lach' doch mal."
Das erinnerte mich an Brinkus; der hat mich vor fünfzehn Jahren im "Flash" angesprochen mit der Formel:
"Du bist auch voll fertig, nicht?"
Tricky wollte wissen, ob das wahr sei, was man sich erzähle - daß ich Psychologin sei.
"Ärztin", stellte ich richtig. "Fachbereich Psychiatrie."
Von meiner Liebe zu Rafa wußte er nichts; vielleicht wird das auch nicht mehr so herumerzählt, seit Rafa sich kaum noch irgendwo zeigt.
Tricky ist vor etwa einem Jahr nach H. gezogen, weil seine Freundin dort Arbeit gefunden hatte. Er kümmerte sich wenig um den Ausbau seines Bekanntenkreises, und als mit der Freundin Schluß war, stand er weitgehend alleine da. Ich schlug ihm vor, zu meiner Geburtstagsfeier zu kommen, wenn es ihm wirklich darum gehe, Leute kennenzulernen. Als ich ihm sagte, daß ich fünfunddreißig werde, machte er große Augen.
"Kann ich nichts für", meinte ich.
"Daß du nicht so aussiehst, haben dir andere auch schon gesagt", vermutete er.
"Die Szene hält jung", sagte ich. "Wer jung bleiben will, sollte in der Szene bleiben."
Es beruhigt mich, daß Rafa auch nicht jünger wird und daß er auch nicht jünger wirkt als ich.
Heyro hat erzählt, daß Darien kurz vor Weihnachten, gleich nach der letzten "Stahlwerk"-Party, in KI. ins Krankenhaus gegangen ist, weil er Taubheit und Lähmungen in einem Arm hatte. Man soll einen entzündlichen Prozeß im Stammhirn gefunden haben, was mich sogleich an Multiple Sklerose denken läßt, weil diese Erkrankung häufig bei ansonsten völlig gesunden jungen Leuten auftritt. Darien ist nach dem Krankenhausaufenthalt in einer Reha-Klinik an der Ostsee gewesen. Er hatte eigentlich vor, im Februar bei einem Verlag neu anzufangen, wo es weniger hektisch zugehen soll als in der Agentur, wo er bisher beschäftigt ist.
"Er ist Worcaholic", meinte ich. "Am Ende stürzt er sich gleich wieder voll 'rein."
"Ach, das glaube ich nicht; es hat ihm wohl schon einen Schuß vor den Bug gegeben."
"Der hat sich ja immer nur mit Arbeit zugeschüttet, um seine Depressionen nicht zu merken. Da konnte man kaum mit ihm drüber reden."
"Vor einiger Zeit ging es mal, aber das war auch bald wieder vorbei."
"Der läßt einen nur gelegentlich mal einen Blick auf sein Gefühlsleben werfen, dann macht er das Programm aber auch schon gleich wieder zu, wie ein ganz normaler Computer."
Hendrik hat erzählt, daß einer seiner Bekannten Rafas Silvester-Auftritt in L. gesehen hat. Es soll "gut 'rübergekommen" und "viel Stimmung gewesen" sein. Einmal soll jemand in der Menge Ärger gemacht haben. Rafa soll von der Bühne aus schnell für Ordnung gesorgt haben, mit irgendeinem witzig klingenden Spruch.
"Er animiert die Leute, so daß sie in Stimmung kommen", meinte ich, "er ist aber selbst kein Teil von ihnen. Er gibt nicht seine eigene Stimmung weiter, sondern erzeugt nur Stimmung bei den anderen, geschickt und routiniert. Er macht sich zum Herrn über die Gefühle der 'Masse'. Er will leiten und lenken, nicht eins werden mit den anderen. Er will sich von der 'Masse' abgrenzen, er will sich über sie stellen."
Es gibt in der Presse Werbeanzeigen für Rafas neue MCD "VW Käfer & 1000 Tage ... und weitere Lieder". Vor einem Hintergrund in Fünfziger-Jahre-Resedagrün sieht man ein altes Schwarzweißfoto von einem VW Käfer und einer Dame im Hausfrauen-Look.
"Stereo" ist auf dem Cover vermerkt. Es soll auch Programme "für Ihren Commodore C64" dazu geben.
In einer "streng limitierten Sonderauflage" gibt es als Dreingabe "2 Bonus-Stücke, W.E-Stahlanhänger und handsignierte Autogramm-Photokarte". Eine "'Mit einem Käfer um die Welt'-Tournee Teil 2" wird angekündigt. Ich frage mich, ob Rafa wirklich mit so einem Automobil unterwegs ist.
Sofie hat am Telefon erzählt, Darien gehe es nach seinem Aufenthalt in der Reha-Klinik nicht besser, sondern schlechter als vorher. Die Lähmungserscheinungen sollen einen Arm und ein Bein betreffen.
"Da kann er gar nicht mehr richtig tanzen", befürchtete Sofie.
"Ausgerechnet Darien trifft es", seufzte ich, "der sich immer so schick zurechtgemacht hat und mit Hanteln trainiert hat, immer so fesch und körperbewußt."
Auf seinen abstrakten Computergrafiken, die bei den "Stahlwerk"-Parties auf große Dia-Leinwände projiziert werden, verwendet Darien drei Symbole: das Gehirn, den Körper und ein Ohr - "Music for body and brain". Ohne "body" würde ein Teil dieser Einheit verlorengehen, ein Teil der Sprache und des Ausdrucks.
In einer Szenezeitschrift gibt es ein Interview mit Rafa zu lesen, das im Rahmen eines nächtlichen Telefongesprächs geführt wurde. Rafa mußte sich von Interviewerin Anima Dahrends die Frage gefallen lassen:
"Warum nur eine Maxi und noch kein Album?"
Rafa redet sich darum herum, indem er mehrere technische Errungenschaften oder Mißgriffe vergangener Zeiten benennt:
"STARFIGHTER F-104G, COMMODORE C=64, TRANSRAPID, TELEPHON W-38, CONTAGAN, VW-KÄFER ... Na? Dämmert es?
Ab 03.02.2001 um 23.32 Uhr geht die neue Hausseite von W.E in das Internetz. Hier bekommen Sie bestimmt weitere Faktoren für eine detailierte Beantwortung Ihrer Frage."
Daß es eigentlich "Contergan" heißt, scheint ihm nicht bekannt zu sein.
Anima gibt sich mit Rafas Antwort nicht so schnell zufrieden und hakt nach:
"Wann kommt das Album?"
Rafa scheint nach Ausreden zu suchen:
"Wir arbeiten mit Hochdruck an der kommenden Sendung. Jede Sekunde wird sich nur in der Qualität und in der Perfektion dieser widerspiegeln. Je länger der Hörer sich gelduldet, desto mehr wird er auch bekommen und nicht mit schnell produziertem, nichtssagendem Einheitsbrei abgespeist und alleine gelassen werden."
Anima will Näheres wissen:
"Was erwartet uns auf dem Album?"
Rafa scheint selber nichts Genaueres sagen zu können:
"Da muß sich der Hörer überraschen lassen. Aber bei aufmerksamem Hören der letzten Teilsendungen wird sich das Konzept der neuen Sendung 'DIE WUNDERWELT DER TECHNIK' herauskristallisieren."
Anima äußert Bewunderung:
"Wieso springt Ihr nicht auf den fahrenden Zug auf? Warum bleibt Ihr Eurem Stil treu?"
Rafa wirkt geschmeichelt und beweihräuchert sich selbst:
"Wie könnten wir auf der Welle mitreiten ...? - Wir sind die WELLE ...! Wie könnten wir auf den fahrenden Zug aufspringen ...? - Wir sind der fahrende Zug! Der fahrende Zug, der alle überholt hat und jetzt nur wartet, bis das Geschmeiß sich wieder auf gefährliche Distanz nähert? Darüber hinaus ist Treue schon immer eine unserer stärksten Tugenden, und da wir bei W.E und nicht bei einer anderen Firma arbeiten, werden wir wohl vorzüglich unserem Sender die Treue halten."
Treue ... dazu fällt mir ein, wie oft und wie einfallsreich Rafa schon seine Freundinnen und sonstigen Liebschaften betrogen und gegeneinander ausgespielt hat.
Anima leitet zu dem Thema "Weiterentwicklung" über:
"Euch gibt es schon so lange, aber trotzdem hat sich Euer Sound nie gewandelt ..."
Rafa antwortet mit gewaltigen Satzbauten:
"'Sound'? Was ist denn das? Der Ton macht die Musik, und das Wort macht den Sinn. Wir wollen die Welt verändern - wobei neben dem Klang der Text wohl im Vordergrund steht. Und auf dieser Basis haben wir uns grundlegend weiterentwickelt. Es geht uns nicht um pseudomystisches Gequassel, welches niemanden weiterbringt, sondern vielmehr um den Gebrauch unseres wichtigsten Organes."
Zu dem Begriff "Pseudomystisches Gequassel" fällt mir ein, daß Rafa viel, schnell und unglaublich verschlungen daherreden kann, ohne damit wirklich etwas zu sagen.
Anima verbindet das Thema "Sound" mit sanfter Kritik:
"... wird Euch das teilweise zum Vorwurf gemacht, oder erntet Ihr dafür eher Lob?"
Rafa scheint sich beleidigt zu fühlen:
"Wer könnte uns schon einen Vorwurf machen, wenn wir genau das tun, was wir wollen? Wir haben uns selten darum geschert, was andere machen oder jemand von uns hält. Das würde uns auch zu stark ablenken. Wir sind vielleicht nicht die Elektro-Band, wie sie sich das Geschmeiß vorstellt, aber das wird doch immer unser Vorteil sein und sich mit viel Lob bemerkbar machen."
Wer das "Geschmeiß" sein soll - das wird nicht erklärt. Anima nimmt auch keinen Bezug auf diesen abfälligen Ausdruck, der an den Jargon brauner Zeiten erinnert.
Es geht weiter mit der Frage nach dem Geldverdienen:
"Wenn Ihr Euch gängigen Elektro-Bands anpassen würdet (Covenant, Apoptygma Berzerk, :wumpscut: ...), könntet Ihr doch viel mehr Schotter machen als jetzt. Oder ist Euch der Kommerzaspekt völlig egal?"
Rafa wird nun auch Anima gegenüber deutlich herablassend:
"Nochmal kurz zum Mitdenken ...:
Wir haben eine Mission, eine Berufung, wir haben eine Vision und ein Ziel. Die Finanzierung dessen, was wir tun, muß sich mit dem, was wir verdienen, balancieren. Jeder Pfennig mehr wäre neben der Investition der Tod jedes Gedankens. Oder anders gesagt: Zuviel Geld vermindert die Effizienz Ihres Gehirnes und Ihrer Idee!
Wir können uns zwar nicht vorstellen, woher Sie, Frau Dahrends, wissen, wieviel 'Schotter' wir verdienen, aber die von Ihnen genannten Bands zählen nicht zu unseren anstrebungswürdigen Objekten."
Anima möchte nun wissen, weshalb Rafa für sein neuestes Titelstück einen betagten Kultwagen auserkoren hat:
"Warum schreibt man ein Lied und einen Text über den VW Käfer? (Ich finde den Z3 von BMW viel geiler.)"
Rafa verwendet den Begriff "Perfektion" in einer Weise, die eher an kritiklose Idealisierung der Vergangenheit denken läßt:
"Es geht uns nicht um die Geilheit eines Automobils. Es ist wichtig, zu erkennen, daß perfekte Produktionen nicht im Einklang mit neuer Technologie und der parallelen Propaganda stehen. Das Prinzip des VW Käfer besteht seit fast 70 Jahren, und er fährt immer noch überall auf der Welt und vertritt den Gedanken eines Landes, welches einmal für den Menschen ein Automobil nach einer Vision von Ferdinand Porsche hergestellt hat. Der VW Käfer als Symbol für das ewig Perfekte, als Symbol eines Wunders ..., eine Ikone für Fortschritt, angemessene Perfektion einer Zeit, Menschlichkeit und vor allen Dingen für Unabhängigkeit. Das Prinzip des VW Käfer besteht seit fast 70 Jahren, aber wir haben uns kaum proportional dazu weiterentwickelt. Aber er läuft und läuft und läuft und läuft und läuft und läuft und ..."
Anima nimmt Bezug auf Rafas liebstes "Zahlenmonster", das er auch gern in Musiktiteln auftauchen läßt:
"Es gab schon '1000 Küsse', jetzt gibt's '1000 Tage'. Warum denn immer 1000? Es gibt doch so viele Zahlen, was ist denn an der Zahl '1000' so signifikant? Außerdem könnt Ihr nicht richtig zählen, weil das Jahr hat nur 365 Tage?"
Rafa redet vorbei und bleibt herablassend:
"... und das Schaltjahr hat noch einen mehr. Und das Jahr der Venus viele weniger. Und was ist mit der Sonne? Auch sie dreht sich um sich selbst. Verlassen Sie einmal Ihre Konventionen und Ihre scheinbare Realität. Irgendwann in einer anderen Welt wird irgendwer uns doch verstehen ... Dort hat das Jahr 1000 Tage, an denen wir vielleicht nur an Sie denken werden, Frau Dahrends. Nichts ist so wie es scheint!"
Anima erkundigt sich, was es mit Rafas Vision von Wasserstoff-Autos auf sich hat und ob Rafa sich für Spielkonsolen interessiert. Rafa antwortet mit dem Hinweis, jeder solle versuchen, seinen Wagen gegen ein Wasserstoff-Auto einzutauschen, da herkömmliche Autos umweltschädlich seien. Hierzu fällt mir ein, daß der VW Käfer nicht mit Wasserstoff fährt.
Am Ende seiner Ausführungen über die Wasserstoff-Autos merkt Rafa an:
"Doch morgen werden Sie leider schon alles vergessen haben ..."
Danach äußert er sich zu Spielkonsolen. Sein Stück gegen Videospiele solle aussagen, "daß Sie nie ein Produkt erwerben oder Ihren Kindern schenken sollten, welches auf der Basis des Vergessens und der Zeittotschlagung anzusiedeln ist. Sie wollen spielen? So schreiben Sie Ihr eigenes Spiel. Das können Sie nicht? Mit einer Spielkonsole haben Sie auch kaum eine Option dazu. Ein COMMODORE C=64 z. B. würde Ihnen diese Option förmlich aufzwingen. In Ihrem und unser aller Interesse: Vergessen Sie nicht, daß diese Option nur aus einem Grund nicht gegeben ist:
An einer Spielkonsole, für die jeder selbst die Weichware schreiben könnte, würde der Hersteller an dieser nicht einen Pfennig verdienen und der Verbraucher auch nur unnötig sein Gehirnvolumen vergrößern und diesen Mißstand erkennen.
Doch morgen werden Sie leider schon alles vergessen haben ...
Vergessen Sie aber bitte nicht, daß wir uns bei Ihnen für dieses nette Interview bedanken und Ihnen und den Lesern Ihres Magazins viel Erfolg und Gesundheit in einem noch jungen, neuen Jahr 2001 wünschen.
Mit freundlichen Grüßen ...
W.E"
Im Internet habe ich noch ein weiteres Interview gefunden, daß vom vergangenen Dezember stammt. Rafa überhöht auch hier sein Projekt:
"Eine Band?! - Nicht zeitlos genug! Wir als Menschen die Musik machen? Viel zu sterblich! Aber ein Radiosender, für den wir als imaginäre Radiomoderatoren arbeiten und mit ihm Informationen, Sprache und Klänge in den Äther senden ... W.E ist dieser Sender, den es eigentlich schon seit den 20er Jahren gibt und dem wir ein neues, ewiges Leben eingehaucht haben."
Auf die Frage, was Rafa unter dem "Sinn des Lebens" versteht - Titel seines letzten Albums - antwortet er ausweichend:
"Das ist wohl die falsche Frage Ihrerseits ... Es geht wohl mehr darum, was Sie darunter verstehen?! Und genau darum geht es auch uns. Vielleicht besteht der Sinn des Lebens nur darin, genau diesen nur zu finden. Wo liegt Ihr Sinn Ihres Lebens?"
Auf die Frage, weshalb Rafa das Internet nutzt, obwohl er neue Technologien ablehnt, erklärt er, das "Internetz" sei eigentlich eine "angestaubte, alte und nicht mehr zeitgemäße Vernetzung".
"Klar, das Geschmeiß hinkt der Zeit immer etwas hinterher", setzt er abfällig hinzu, "und informiert zu sein war noch nie eine menschliche Stärke."
Auf die Frage, welcher beruflichen Tätigkeit der "imaginäre Radiomoderator" Rafa in Wirklichkeit nachgeht, weicht er wieder aus:
"'BERUFUNG' wäre wohl besser als das Wort 'Beruf'. Wir sind KEINE Musiker, die nebenbei als Hobby auch noch ein wenig in die Tasten hauen. Wir leben W.E, und das 28 Stunden am Tag und 1000 Tage im Jahr. Das kann man dann nicht mehr als Projekt bezeichnen. Und bei W.E wird Zeit mit der Zeit relativ."
Rafa schaut hier auf diejenigen herab, denen es gelingt, nicht nur Musik zu machen, sondern auch arbeiten zu gehen und sich selbst zu ernähren. Vielleicht stellt Rafa diese Musiker als "Hobbymusiker" dar, um sich selbst in seiner Arbeitslosigkeit besser und professioneller zu fühlen, obwohl er trotz der vielen Freizeit so wenig zustandebringt.
Auf die Frage nach den bedeutendsten Dingen in seinem Leben antwortet Rafa bereitwillig:
"Holla! Eine sehr schöne Frage! Die Dinge, die in unserem Leben eine wirkliche Bedeutung darstellen, sind in erster Linie Tugenden, wie Ehrlichkeit, Wissen, Arbeit, Moral, Freundschaft, Ethik und Ästhetik und die Macht, seine Visionen zu kompensieren und umzusetzen. Es geht darum, die Welt zu verbessern, und alle müssen nochmal ran ...!!!"
Bedenkt man die Untreue und die Unwahrheiten in Rafas bisherigem Leben, entsteht der Verdacht, daß Rafa sich auch deshalb als so moralisch hochstehend beschreibt, um selbst ein wenig daran glauben zu können.
Wie so oft verwendet Rafa auch hier Fremdwörter falsch. "Visionen" zu "kompensieren" würde übersetzt in etwa bedeuten, daß man für seine Visionen einen Ausgleich findet, ein Gegengewicht. Rafa scheint jedoch sagen zu wollen, daß es ihm darum geht, seine Visionen zu verwirklichen.
Am Schluß des Interviews wird Rafa nach dem "Sachsenring"-Emblem befragt, das er in sein Bandlogo umgewandelt hat. Rafa lobt in diesem Zusammenhang lauter Errungenschaften der früheren DDR, wo er selbst nie gelebt hat. Ich frage mich, ob ihm die Menschenrechtsverletzungen bekannt sind, die in diesem Staat begangen wurden - Folter, Hinrichtungen ...
Rafa scheint auch die DDR unkritisch zu idealisieren.
An meinem Geburtstag traf ich Terry und Zoë im "Zone". Xentrix war auch da und erzählte, das gemeinsame Auflegen mit Kappa im "Exil" sei darauf hinausgelaufen, daß er selbst aufgelegt und Kappa an der Bar gestanden habe, ohne daß man viel miteinander geredet habe.
"Mit Freundschaft wie früher, das ist vorbei", meinte Xentrix. "Wir haben einfach nicht mehr den Draht zueinander."
"In welchem Film ist Kappa denn jetzt?"
"Im Ehe-Film."
"Und wie zeigt sich das?"
"Weiß ich nicht; ich habe nicht geheiratet."
Weil Xentrix über weite Strecken Les am DJ-Pult vertrat, war die Musik nicht sehr schwungvoll. Immerhin liefen "Orkid" von Sonar, "Dunkler Tag" von Siechtum und "Hang him higher" von :wumpscut:.
Eines Morgens kam ich in Kingston in die Eingangshalle, da wurde im Rollstuhl eine Frau hereingefahren, die rief unablässig:
"Maja! Maja! Maja! Maja! Niet! Niet! Niet! Niet!"
"Das ist voll die geile Aufnahme", sagte ich begeistert zu Kollege Gerwyn, den ich "unser kleiner Nihilist" nenne, weil er ausschließlich Schwarz trägt. "Das ist einfach nur geil."
"Da haben die wohl mal wieder was aus Rußland importiert", meinte er. "Da ist das so, wer am lautesten schreit, wird als Erster eingeladen."
Ted erzählte am Telefon, daß er am ersten Weihnachtstag von Marvin geträumt hat:

Ted lebte in seiner eigenen Welt, wo er vertrauten Personen begegnete und viel Bewegung war. Er wußte, daß er sich in einem Traum befand; deshalb wollte er versuchen, sein Schicksal zu beeinflussen. Vor ihm erschien eine Tafel, und er begann, darauf zu schreiben:
"Schicksal, führe mich zu Marvin."
Wie er so schrieb, begann die Tafel zu rosten und schien nicht zu wollen, daß er seinen Wunsch bis zum Ende vortrug. Ted schrieb aber beharrlich weiter und fügte zum Schluß sogar noch ein "Danke!" hinzu, als Zeichen, daß es ihm gelungen war, sein widerspenstiges Schicksal zu bezähmen. Da öffnete sich die Tafel, und Ted konnte durch sie in eine andere Welt steigen, eine ruhige, dunkle Welt, wo Menschen bewegungslos an Lagerfeuern saßen. Der Einzige, der hier arbeitete, war Marvin beim Holzhacken. Ted ging auf Marvin zu, und der war sehr aufgebracht:
"Was hast du denn hier zu suchen?"
Ted schloß Marvin in die Arme, der daraufhin zu weinen begann. Ted nahm bei Marvin drei Gefühle wahr: Hilflosigkeit, Scham und Angst.

Cyan, der seit Jahren Familienvater ist, rät Ted ab, sich weiter um Marvin zu kümmern. Cyan soll immer wieder betonen, daß Marvin hetero sei. Ted hat den Verdacht, daß Cyan auch versucht, Marvin Ted auszureden.
"Cyan ist genauso schwul wie du und Marvin", meinte ich. "Er kann das nur nicht leben, und er neidet dir das Coming out."
"... und ist vielleicht eifersüchtig?"
"Das kann sein, daß er auch an Marvin Interesse hat. Ihr seid damals immer zu dritt ausgegangen, drei fesche blonde Kerls in schwarzem Leder. Ich habe das gesehen und gedacht, also, wenn die nicht schwul sind!"
Carl hat Cyan kürzlich in einem schwulen "Fummelkino" getroffen. Cyan soll ihn nicht erkannt haben, ihn sogar gefragt haben, ob man miteinander fummeln wolle. Carl hat das freundlich, aber bestimmt abgelehnt, um nicht für noch mehr Verwirrung zu sorgen.
Ted hat sich von seiner Nachbarin Agnes die Karten legen lassen, und für ihn kamen aufmunternde Bilder; als besonders wichtige Karte habe da der "Turm" gelegen; das sei eine besonders mächtige Karte, die große Veränderungen ankündige.
"Rafa hat mir damals den 'Turm' zum Geburtstag geschenkt", erinnerte ich mich. "Bisher hat sich allerdings zwischen uns noch keine große Veränderung ergeben."

Anfang Februar habe ich geträumt, im Vorraum der Damentoilette im "Exil" würde wieder Berenice vorm Waschbecken stehen. Sie sprach mich höflich an und erzählte:
"Rafa hat mich so oft betrogen und hintergangen, jetzt will ich ihn nicht mehr."

Abends hatte ich meine Geburtstagsgäste, vierzig an der Zahl. Merle zauberte Schnittchen und half mir auch sonst beim Buffet. Mir war schlecht - schon tagelang -, und ich konnte selbst kaum etwas essen; mir ging es aber vor allem darum, daß die Gäste ein kulinarisch hochwertiges Buffet bekamen, und das gelang. Bis zur letzten Olive putzten sie alles weg. Viele verewigten sich im Gästebuch, auch mit Gedichten. Talis brachte Janice mit und seinen Kumpel Hauke. Der schenkte mir ein besonders schönes, selbstgemachtes Foto von Röhren auf einem Industriegelände. Wir unterhielten uns am Couchtisch über die Frage, wieviel Hirnsubstanz Männer oder Frauen haben, und Hauke klopfte sich gegen die Stirn:
"Hallo! Ist jemand zu Hause?"
Susa erzählte mir, was es mit Clark auf sich hat, den ich bei Sven getroffen habe. Clark soll als eine Art Lustknabe bei einem älteren Mann in Diensten stehen. Dafür soll der ältere Mann Clarks Drogensucht finanzieren und ihn auch sonst aushalten. Clark wird wahrscheinlich diese Versorgungsmöglichkeit ungern aufgeben wollen und deshalb auch nichts an seinem Leben verändern.
Seit Dezember ist Rikka neu liiert und meint nun, ihre Beziehung mit Adrian sei gar nichts Richtiges gewesen. Das wirkt auf mich im Nachhinein entwertend; immerhin hat sie Adrian zwei Jahre ihres Lebens gewidmet.
Rikkas neuer Freund heißt Fermin und ist sechsunddreißig, ein gutes Jahr älter als ich. Rikka brachte ihn mit zu meiner Geburtstagsfeier. Die nur zwei bis drei Jahre jüngere Constri neckte ihn mit der Frage, ob er denn schon einen eigenen Seniorenausweis hat.
Rikka findet, Fermin sei viel unternehmungslustiger als Adrian. Zu den Veranstaltungen, die ich besuche, kommen die beiden allerdings nie mit. Ich habe den Eindruck, daß Rikka sich wieder einmal etwas vormacht und daß sie sich auch in gewisser Hinsicht von ihrem Freund abhängig macht. Beruflich bewegt sie sich zur Zeit überhaupt nicht. Sie kümmert sich nicht mehr um das so mühsam erkämpfte Studium, aus Angst vor den unvermeidlichen Prüfungssituationen, und sie zieht es vor, als Angelernte im Lager eines Textilfabrikanten zu arbeiten.

In einem Traum irrte ich im Brautkleid durch die Stadt und sucht nach einem passenden Jäckchen. Das Brautkleid war elfenbeinfarben und hatte Spaghettiträger und einen langen weiten Rock. Alles hatte ich vergessen, mein Handy und sogar den Namen der Kirche, wo geheiratet werden sollte. Ich dachte nur noch an Kleider. Dabei mußten die Gäste schon auf mich warten. Von Rafa sah ich während des gesamten Traumes nichts.

Dieser Traum sagt mir, daß Kleider für eine Hochzeit nicht wichtig sind und daß es allein darum geht, die Verbindung zu Rafa herzustellen und zu erhalten.
Die Betreiber von Rafas Fanpage haben für ihn eine neue Internet-Präsenz eingerichtet, eine Domain mit einem kurzen, leicht zu merkenden Namen und einheitlichem Design für alle Rubriken. Die Seiten haben einen Hintergrund wie auseinandergefaltetes helles Einwickelpapier. Auch das Gästebuch wurde neu aufgebaut. Rafa meldet sich im zweiten Eintrag - gleich nach dem Starteintrag des Fanpage-Designers - erstmals selbst zu Wort, unter "W.E Honey":

Einen wunderschönen, guten Abend, meine Damen und Herren ...
... es ist der 03.02.2001 um 22.57 Uhr. In weniger als einer Stunde wird die neue Hausseite im Internetz "auf die Linie" gehen, und wir sitzen hier nicht weit des W.E-Funkhauses und warten gespannt auf den Startschuß. W.E bedankt sich nochmal in aller Form bei allen, die ihren Teil zur Realisierung beigetragen haben. Wir hoffen, Sie als Hörer und in diesem Fall auch Leser und Seher sind mit Ihrer neuen W.E-Hausseite zufrieden. Bei eventuell auftretenden Verbesserungsvorschlägen oder von Ihnen erkannten Fehlern konsultieren Sie uns bitte unverzüglich.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen viel Spaß!
Vergessen Sie nicht, daß diese Seite auch von Ihrer Mitarbeit lebt und Aktionen Ihrerseits erforderlich sind, um ein perfektes Produkt noch etwas zu perfektionieren.
W.E - DER SENDER

Bei "DER SENDER" denke ich an "Messias" oder "Missionar", wie Rafa sich wohl auch selbst sieht oder sehen möchte.
Ansonsten fällt mir - abgesehen von der bekannten gestelzten Ausdrucksweise - vor allem ein Widerspruch auf:
Wenn Rafa meint, daß sein Produkt perfekt ist, was soll es daran noch zu perfektionieren geben? Perfektes ist per definitionem vollendet, also nicht verbesserungs-, entwicklungs- oder veränderungsfähig.
Am Neujahrstag hatte ich das Gästebuch meiner Internet-Domain mit dem folgenden Eintrag begonnen:

Auf dieser Seite kann jeder mitmachen, sie ist also niemals "fertig" oder "vollendet" oder "vollkommen". Eines Tages habe ich mich von dem Gedanken verabschiedet, etwas "Vollkommenes" liefern zu wollen; stattdessen entsteht hier etwas, das sich immer weiter entwickelt und auch verändert.

Ich finde es seltsam, daß Rafa und ich uns beide unabhängig voneinander in unseren ersten Einträgen im eigenen Gästebuch mit dem Thema "Vollkommenheit" oder "Perfektion" beschäftigt haben. Wir scheinen uns beide unter hohen Erwartungsdruck zu setzen, verarbeiten das aber unterschiedlich. Rafa stellt sich selbst als "perfekt" dar, was allerdings nicht stimmig wirkt, da er Verbesserungsvorschläge nicht ablehnt. Und ich wünsche mir zwar, etwas "Vollkommenes" zu schaffen, will aber von Anfang an deutlich machen, daß dieses mit der lebendigen Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen ist, weil Lebendes sich immer verändert und deshalb niemals "vollkommen" oder "vollendet" sein kann. "Vollkommen" ist allein das Nichts, denn alles, was ist, das verändert sich auch.
Mit Bertine war ich im "Radiostern". Constri ließ durch mich dem Türsteher Solvar Grüße ausrichten. Constri hat sich mit Solvar schon mehrmals lange und angeregt unterhalten. Constri hat den Eindruck, daß er in sie verliebt ist, hofft aber, daß er letzendlich mit einem freundschaftlichen Verhältnis auch zufrieden ist.
Cyra ist wieder mit ihrem Freund vom letzten Jahr - Denny - zusammen.
"Sie hat mich schon gefragt, warum ich nicht so viel tanze", erzählte Denny. "Sie meinte:
'Du amüsierst dich hier wohl gar nicht?'"
"Am besten ist es, wenn du einen ebenso großen Bekanntenkreis hast wie sie", meinte ich.
"Da komme ich nicht hin", glaubte Denny. "Die kennt doch hier jeden Dritten."
"Das geht irgendwann wie von selbst", erzählte ich. "Eines Tages hat man das Schlüsselerlebnis, daß man in einer fremden Stadt allein mitten in einer Disco steht, und auf einmal kommen Leute an, die einen kennenlernen wollen. Sowas geht in der Szene, deshalb fühle ich mich hier auch wohl. Das hat damit zu tun, daß ein Großteil der Leute, die in der Szene sind, früher diejenigen waren, die im Sportunterricht immer als Letzte in die Riegen gewählt worden sind, die ewigen Außenseiter. In der Szene gibt es weniger Cliquenwirtschaft, und die Leute sind offener."
Bertine und ich blieben bis zum Schluß und noch etwas länger. Cyra aß ein Brötchen, das für sie zurückgelegt worden war. Alle anderen Brötchen und Brezeln hatten die Gäste schon verschlungen, denn der "Radiostern" war sehr gut besucht. Seit einiger Zeit ist der Service auf Brötchen und Brezeln ausgeweitet worden, zu den gewohnt niedrigen Jugendzentrum-Preisen, und außerdem gibt es an der Theke Schüsseln mit Salzstangen und Erdnüssen kostenlos.
"Dolf hat mich angesprochen", berichtete Cyra.
"Hat er schon was festgemacht wegen der Depeche Mode Party?" erkundigte ich mich.
"Ja, die wollen spielen", sagte Cyra, "das geht jetzt nur noch um die Technik."
"Rafa hat doch jetzt ein Stück über euer Lieblingsauto gemacht", spielte ich auf das Stück "VW Käfer" an, denn Cyra arbeitet schließlich bei VW.
"Mit Rafa rede ich nie", erzählte Cyra, "das ist immer nur Dolf."
"Sicher, Rafa delegiert", meinte ich. "Er selber hält sich zurück, verhandeln dürfen die anderen. Ich sehe den schon in den Charts. Wer so viel Schwachsinn so konsequent verkauft, ist irgendwann in den Charts."
"Ach, da waren And One auch schon", erinnerte sich Cyra, "und dann waren sie gleich wieder draußen und blieben es auch."
Über ihre Beziehung mit Denny sagte Cyra:
"Im Augenblick ist es gut so, wie es ist, und ich lasse es so laufen, wie es läuft."
Ich fuhr Reesli nach Hause.
"Du hast ein Auto mit Stern", sagte er. "Willst du mich heiraten?"
Darauf bekam er die immergleiche Antwort:
"Ich heirate nur Rafa."
In Rezensionen wird Rafas MCD überschwenglich gelobt. In der Szenepresse gibt es auch einen Bericht über die "Stahlwerk"-Parties. Fotos von Rega und seinem DJ-Kollegen Delan sind dort zu sehen. Delan ist zugleich der Hauptveranstalter von "Stahlwerk". Er organisiert im "Megamarkt" auch die musikalisch gemäßigteren "Undead"-Parties. In dem Artikel werden Grafiken von Darien gezeigt, der eigens erwähnt und besonders gelobt wird. Ich hoffe, daß Darien zur nächsten "Stahlwerk"-Party erscheint.
Henk und Deon waren bei mir zu Besuch. Wir gingen am Kanalufer spazieren. Für Deon war es etwas Besonderes, zu mir kommen zu können; er ist wenig belastbar, und alles Ungewohnte überfordert ihn schnell.
Henk beschäftigt es sehr, daß ich über so lange Zeit mit Gastritis zu tun habe und mich deshalb schon krankschreiben lassen mußte.
"Du denkst immer zuletzt an dich selbst", meint er. "Du will dich immer um andere kümmern und läufst Gefahr, deine eigenen Bedürfnisse dabei zu vergessen."
Antra ist ein Medikament, das gegen Gastritis hilft. Allmählich bringt es etwas.
Am darauffolgenden Abend war Saara wieder abends bei mir und rief bei Rafa an. Die Mutter meldete sich und meinte, Rafa sei im Keller. Saara gab ihr ihre Handynummer und bat, daß er zurückrufen möge. Kurz vor zehn rief Saara noch einmal an, und die Mutter berichtete, Rafa sei doch nicht im Keller; sie habe zuerst gedacht, er sei dort, er sei aber gar nicht zu Hause. Saara meinte, Rafa könne sie dann ja am nächsten Tag anrufen.
Die Mutter soll am Telefon "genervt" gewirkt haben, nicht eigentlich von Saara, sondern eher als Grundstimmung.
Daß Rafa Saara anruft, halte ich für unwahrscheinlich. Ich glaube vielmehr, daß Rafa die Nummer ebenso schnell "verliert", wie er meine Adresse "verloren" hat.
Saara und ich haben vereinbart, Rafa am kommenden Montag noch einmal anzurufen.
Kappa hat zusammen mit DJ Ravelab das Stück "Push!" von den Invisible Limits gecovert, und das ist als Live-Mitschnitt im Fernsehen auf einem Musikkanal gesendet worden. Clara gab mir das Video, und ich habe es mir gemeinsam mit Saara angeschaut. Das "Push!"-Cover wirkt auf mich musikalisch eher banal. Kappas Kostümierung finde ich angenehm schlicht. Er trägt Schwarz und hat seine Haare nur wenig toupiert. Rechts und links von Kappa allerdings bewegt sich etwas, das ich peinlich finde. Es handelt sich um zwei hübsche junge Damen in engen Lackanzügen, die sich in betont auffordernden Posen auf dem Boden herumaalen. Ich denke, das muß nicht sein, und es paßt auch nicht zu der Musik, die an sich eher kühl ist.
Auch Rafa setzt auf weibliche Dekoration. Im Booklet seiner neuen MCD dekoriert er Berenice und Kitty im Fünfziger-Jahre-Design. Es sind mehrere Fotos von einem "Ausflug ins Grüne mit dem VW Käfer" zu sehen, alle gestellt wirkend; die Figuren rücken nicht näher an den Betrachter heran, und die Gesichter sind hinter Sonnenbrillen versteckt. Es gibt auch keine Posen von Rafa mit Berenice; daß es sich bei ihnen um ein Pärchen handelt, ist für Außenstehende nicht zu erkennen. Auf der beigefügten "Autogramm-Photokarte" sind die Mitglieder einzeln abgebildet, nicht als Gruppe. Rafa verdeckt sein Gesicht mit einer Super 8-Kamera, zusätzlich zu der Spiegelbrille; von seinen Zügen ist fast nichts mehr zu sehen.
Die Künstlichkeit der posierten Fotos wird noch dadurch verstärkt, daß die Damen sich in schulterfreier Abendrobe zu einem "Ausflug" in den VW Käfer setzen, eine Garderobe, die für solche Unternehmungen mehr als unpassend ist. Weshalb sie sich dann Kopftücher umbinden, anstatt sich einen Schal um die Schultern zu legen, bleibt vollends unverständlich.
Unter einem Foto, auf dem die Damen sich mit Mühe auf die Rückbank quetschen, liest man:
"Viel Volumen im VW Käfer."
Rafa ergeht sich - wie schon auf der "Starfighter F-104G"-MCD - in technischen Details; er bringt Zeichnungen aus alten Werbeprospekten für den VW Käfer und erklärt, wie man seiner Meinung nach die Energieversorgung auf Wasserstoff umstellen könnte. Das Missionarische in seinem Verhalten gesteht er sogar wörtlich zu in dem Stück "Metal Dust":

Das Schicksal liegt in meiner Macht.
Ich bin ein Missionar und töte für mein Ziel.
Und mein Ziel, das vor mir liegt,
zieht mich an wie ein Magnet,
jetzt gibt es kein Zurück, ich muß der Erste sein.
Ich flieg' in meine Ewigkeit, kurz vor dem Ziel, ich bin bereit.
Denn im wunderschönen Sternenlicht wartet eine neue Welt auf mich.

Einerseits scheint er alle und alles beherrschen zu wollen, andererseits scheint er aus seiner Wirklichkeit fliehen zu wollen; in jedem Fall scheint es ihm um eine Form totaler Kontrolle zu gehen, um grenzenlose Macht und völlige Unabhängigkeit für ihn selbst.
Teilweise versucht Rafa, in "Metal Dust" klassische EBM-Strukturen unterzubringen, doch das wirkt auf mich letztlich nicht überzeugend.
Ansonsten dreht er sich hinsichtlich seiner Texte und auch musikalisch im Kreis; kaum etwas, das er nicht schon einmal in ähnlicher Form gebracht hat. Wie immer fliegt er durchs All, "in meinem Schiff aus Chrom und Laserstrahl, zwischen Raum und Zeit, da fliege ich hindurch, und es wird niemals haltgemacht", und mit "1000 Tage" findet sich auch eines jener Liebeslieder, wo sich "Herz" auf "Schmerz" reimt und das auf mich ungefähr so glaubwürdig und tiefgehend wirkt wie ein Kitschroman vom Kiosk. Die Damen haben Background-Funktion, was ich nachvollziehen kann, denn diese flachen Stimmen sind meiner Ansicht nach ohnehin zu nichts anderem zu gebrauchen.
Auf der MCD gibt es auch eine Coverversion von "Berühren" von Profil, in der Rafa versucht, seine Stimme erotisch klingen zu lassen.
"Gib's auf", möchte ich ihm zurufen. "So verklemmt, wie du bist, wirkt das nur peinlich."
Ich denke, es ist verständlich, daß Rafa nichts mit mir zu tun haben will. Er müßte sich sonst Kritik gefallen lassen, und das paßt nicht in sein gleichgeschaltetes Universum. Wer nicht auf sein Kommando hört, wird zur "Un-Person" erklärt und vaporisiert.
Der schwere, schlicht gehaltene Stahlanhänger, den Rafa der MCD beifügt, paßt eher zum Industrial-Stil als zur Neuen Deutschen Welle. Ich werde das Gefühl nicht los, daß Rafa insgeheim von der Industrial-Welt fasziniert ist. Ich bin in dieser Welt zu Hause, Rafa jedoch kann sich nie auf einer Industrial-Veranstaltung zeigen, ohne daß das für ihn eine Art "Outing" bedeuten würde.
So, wie Rafa sich früher genannt hat - "Feindsender" - heißt ein Stück der Industrial-Band MS Gentur. Ich frage mich, ob Rafa zu solchen Rhythmen jemals tanzen würde.
"Er kann den Rhythmus des Lebens nicht mitleben", denke ich. "Er kann sich nicht darauf einlassen, zu sein, einfach nur zu sein als einer von vielen anderen, unterzugehen in Rhythmen."
"Stahlwerk" ist eine wortlose Gemeinschaft, die sich von der Musik mitziehen läßt, in Kreisen, in Linien, ein Zusammenspiel, ein Ritual. Rafa will sich abseits stellen, nicht Teil eines Ganzen werden, nicht eins werden mit dem Rhythmus, nicht sich geben und hingeben.
Und insgeheim ... will er es vielleicht doch, traut es sich nur nicht zu?
Schwester Marie-Julia, die auf derselben Station arbeitet wie ich, schickt mir SMS-Nachrichten, in denen sie mir Glück für meine Liebe wünscht. Seit sie Pfleger Nic erhört hat, fühlt sie sich wie im siebten Himmel.
Nic sammelt vor allem CD's mit klassischer Electronic Body Music und klassischer Gothic-Romantik, hat aber auch Musik von Thomas D. Er will mir einige CD's brennen.
Constri und Sadia sind für mehrere Tage in DO. Tagsüber verkaufen sie Handies, nachts wohnen sie in einem 4-Sterne-Hotel. Sadia hat Constri ein Plüsch-Schaf geschenkt, und Constri hat es zusammen mit einem Becher Buttermilch in ihre Tasche getan. Dann ist sie gestolpert und hingefallen, der Becher ist kaputtgegangen, und das Schaf war voller Buttermilch. Im Hotel hat Constri das Schaf gewaschen und zum Trocknen "in die Dusche gequetscht".
"Weil es noch naß ist, kann ich gar nicht damit kuscheln", erzählte sie mir am Telefon. "Wir nennen es jetzt das 'Buttermilchschaf'."

In einem Traum begegnete ich Rafa nachmittags in einem mehrstöckigen Veranstaltungszentrum. Ich faßte ihn kurz am Arm. Weiteren Kontakt gab es nicht zwischen uns. Später habe ich ihn draußen vor einem schwarzen VW Käfer gesehen.

Drei Tage nach Saaras vergeblichem Versuch, Rafa telefonisch zu erreichen, erhielt ich von Rafa ein Paket mit den versprochenen Videokassetten. Er hatte die Kassetten in ein "W.E"-Poster eingewickelt, mit der Rückseite nach außen, und er hatte das Poster so verklebt, daß man es nicht auseinanderfalten konnte ohne einen gewissen Verlust. Sein eigenes Portrait war jedenfalls noch gut zu sehen, auch Dolf sah man und ein kleines Foto von Kitty, Berenice aber sah man nicht. Hinten auf dem Paket war ein Stempel mit Rafas Adresse, die er als "Funkhaus" bezeichnet; seine Telefonnummer ist mit schwarzem Edding übermalt, jedoch kann man sie noch gut erkennen. Vielleicht ist dieser Stempel auf allen Plakaten, und Rafa will nicht, daß er angerufen wird.
Rafa legte auch einen mit schwarzem Edding beschriebenen DIN A 4-Zettel bei, auf dem steht:

Hat leider "etwas" länger gebraucht - ich hoffe es sind alle vollständig.
Nochmals vielen Dank!
Gruß
Honey

Ich schickte Saara eine SMS:

Stell dir vor, er hat mir die Videokassetten geschickt und auch noch einen artigen Kurzbrief dazugelegt und das Ganze in ein W.E-Poster eingewickelt. Jetzt muß er mir nur noch das Minikeyboard zurückgeben.

Kurz nachdem ich Saara die SMS geschickt hatte, rief Rafa auf Saaras Handy an:
"Hallo, hier ist der Rafa."
Er entschuldigte sich dafür, daß es mit den Kassetten etwas länger gedauert habe und berichtete, daß er mir gestern die Videokassetten geschickt hat.
"Die hat sie schon gekriegt", erzählte Saara. "Eben hat sie mir eine SMS geschickt."
Rafa zeigte sich erstaunt:
"Was? So schnell? Aber ich habe sie doch gestern erst abgeschickt!"
Saara erzählte ihm, daß jetzt nur noch eines fehlt, nämlich das Minipiano. Mit etwas Nachdenken fiel ihm auch ein, daß er das noch hat:
"Ach ... ja, das ... wo habe ich das denn jetzt ..."
"Bei fünfzehn Videokassetten weiß man ja schon, wo man die hinlegt; mit so einem Minipiano ist das schon anders."
"Ja, das war ja auch kaum größer als eine Zigarettenschachtel. Wenn ich es finde, schicke ich es ihr. Aber du kannst Hetty gleich sagen, daß das noch dauern kann, bis ich das gefunden habe."
"Und wenn du es nicht findest, was dann?"
"Dann muß ich eben losgehen und ein neues kaufen."
Wir wollen ihm etwas länger Zeit geben, das Minipiano zu suchen; irgendwann wollen wir wieder bei ihm anrufen. Wenn er ein neues besorgen möchte, ist es wichtig, daß er weiß, daß das Minipiano auch schwarze Tasten hat, also auch die Halbtonschritte.
"Ich finde, der hat ganz schön schnell geschaltet", meinte Saara. "Vor allem hätte ich nicht damit gerechnet, daß er überhaupt noch bei mir anruft. Und ich finde es auch seltsam, daß er genau am Valentinstag die Kassetten abgeschickt hat."
"Mir fällt noch etwas anderes ein. Gestern habe ich mich an eine sehr intelligente Satire erinnert, eine Literaturverfilmung aus den Sechzigern, 'Dr. Murkes gesammeltes Schweigen' nach Heinrich Böll. Das habe ich vor vielen Jahren mal aufgenommen. Die Satire fängt in ganz besonderer Weise die Atmosphäre der Sechziger ein, der Zeit, in der ich zur Welt gekommen bin, das Erste also, was ich mitbekommen habe. Ich hatte das Literaturstück und den Film ganz lebendig vor Augen und dachte mir, das ist auch nicht für jedermann, da kann sich auch nicht jeder hineinversetzen. Und dann packe ich diese Videokassetten aus, die Rafa mir geschickt hat, und sehe: 'Dr. Murkes gesammeltes Schweigen'. Und dann fällt mir auch noch ein, daß die Geschichte ja in einem Funkhaus spielt ..."
In BS. habe ich Deon besucht. Er erzählte von der Kassette, die er vor vierzehn Jahren mit mir in seinem damaligen WG-Zimmer besprochen hat. Er hat die Kassette sehr oft gehört, bis sie eines Tages kaputtgegangen ist. Deon und ich haben auf der Kassette nur Unsinn geredet. Deon erinnert sich noch daran, daß ich erzählt habe, wie Ratten und Mäuse miteinander gekreuzt werden, so daß sich "Matten und Räuse" ergeben.
Deon war beruhigt, als ich ihm erklärte, daß seine schizophrene Psychose nicht durch irgendjemandes Schuld entstanden ist, sondern durch eine ungünstige genetische Veranlagung, und daß man sie eher mit neurologischen Erkrankungen vergleichen kann. Deon hat die Erfahrung gemacht, daß eine dauerhafte Medikamenteneinnahme ihm ein fast normales Leben ermöglicht, zumal man ihm seine Erkrankung nicht mehr anmerkt. Mit einer Teilzeitstelle ist er nicht überfordert. Bei seiner Arbeit im Park begegnet er Menschen, denen es weit schlechter geht als ihm, abgebauten Alkoholikern und anderen Verwirrten.
Deon erzählte, Henk falle es schwer, sich gegen Menschen am untersten Rand der Gesellschaft abzugrenzen ... auf Kosten seines Privatlebens und seiner übrigen Freunschaften. Er selbst habe schon viele zweifelhafte Bekannte, Henk sei jedoch schon fast so etwas wie eine öffentliche Anlaufstelle für verwahrloste Trunksüchtige und gestrandete Existenzen. Das hat wohl etwas mit Henks Fürsorgeimpuls für Suchtkranke zu tun. Dieses Verhalten ist Deon sehr auf die Nerven gegangen, zumal Deons Wochenendbesuch bei Henk dadurch mehrfach gestört wurde. Als die beiden zum Kanalufer kamen, lungerte dort ein Haufen gröhlender Trinker herum. Mein erster Gedanke wäre da gewesen:
"Nicht hingucken, weitergehen, Land gewinnen!"
Deons erster Gedanke war jedoch:
"Oh Gott, hoffentlich kennt Henk die nicht!"
Und tatsächlich rief auch sogleich einer dieser heruntergekommenen Trinker:
"Eh, Henk, Alter, wie geht's!"
Und Henk war nicht in der Lage, ihnen einen Gruß hinüberzurufen und mitzuteilen, daß er für sie gerade keine Zeit habe; stattdessen plauderte er lange und immer länger mit dem alkoholumnebelten Volk.
Das erinnert mich daran, wie ich vor acht Jahren einen unangemeldeten Trupp von drei Trinkern aus Dereks Wohnung geworfen habe, weil Derek sich nicht dazu entschließen konnte, die ungebetenen Gäste hinauszubefördern.
"Warum soll ich zuvorkommend mit denen umgehen, wenn es denen egal ist, ob sie uns stören?" sage ich mir in einem solchen Fall.
In OS. gab Clarice ihre Geburtstagsfeier. Ich fuhr mit Bertine dorthin. Clarice hatte ein schönes Buffet angerichtet, entsprechend ihrer Erfahrung als Konditorin. Ein Fotograf schenkte ihr zum Geburtstag, daß er alle Gäste fotografierte, mit Kulisse und Licht wie in einem Studio.
Clarice hat sich selbst in letzter Zeit oft von ihrer Freundin Arya fotografieren lassen, in aufwendigen Kostümierungen, auch mit Leander als Pärchen. Die Aufnahmen wirken sehr kunstvoll und professionell. Sie sind überwiegend schwarzweiß.
Leander brannte mir eine CD voller Software. Er ist VW-Käfer-Fan seit Jahren und hat viele Fanartikel. Darunter ist auch eine CD, die VW-Käfer-Fans aufgenommen haben. Ein Stück ist im Techno-Stil gehalten, und darin sind Geräusche von Handbremse, Hupe und Anlasser vom VW Käfer versampelt worden. Ein anderes Stück ist Fun Punk, darin wird der VW Käfer satirisch besungen:
"Wir fahren luftgekühlt ..."
Es wird kein Hehl daraus gemacht, daß der VW Käfer durchaus seine Mängel hat, etwa die ewig kaputte Heizung, die nur dann funktioniert, wenn es draußen glühend heiß ist. Das Auto wird ebenso liebevoll wie kritisch betrachtet, eben als echtes Kultstück. Ich kann das ernst nehmen, weil es mit Humor gemacht ist.
Auch in Leanders Wandkalender mit Original-Schwarzweißbildern aus der "großen Zeit" des VW Käfer fehlt den Kommentaren zu den Fotos bei aller Romantik nie der Blick für die Schattenseiten des gefeierten Automobils.
Rafa geht mit diesem Kultgegenstand ganz anders um. Er idealisiert den Wagen in jeder Hinsicht, geht über die längst weithin bekannten Mängel des Wagens hinweg und bezeichnet den VW Käfer auch in seiner Internet-Domain durchweg als "perfektes Produkt".
Ich wollte es genau wissen und habe meinen Vater gefragt. Er erklärte mir, daß die Luftkühlung beim VW Käfer nicht verhindern konnte, daß sich einzelne Teile überhitzten, deshalb mußte am Motor von vornherein etwas verstellt werden, das als Nebenwirkung den Kraftstoffverbrauch erheblich steigerte. Rafa, der behauptet, die Menschheit würde schon viel zu lange die Luft mit Abgasen verpesten, geht auf diesen Umstand nirgends ein. Er wirbt für wasserstoffbetriebene Autos, kann aber nicht erklären, weshalb diese Technologie bisher nicht im großen Rahmen angewendet wird, und daß der VW Käfer alles andere als umweltfreundlich war, erwähnt er ebensowenig.
Internet-Freak Leander kennt viele Gags und Spiele. Er hat mir eine Systemerweiterung gebrannt, die "Gravité" heißt. Sie bewirkt, daß immer dann, wenn man an einem Icon zieht, dieses den Gesetzen der Schwerkraft entsprechend hinter dem Cursor herschlenkert. Wenn man die "ctrl"-Taste drückt und die Maustaste losläßt, fällt das Icon, das man sich geschnappt hat, hinunter an den unteren Bildschirmrand und gibt beim Aufschlagen ein lautes Klirren von sich. Dann erscheint es wieder an seinem ursprünglichen Platz.
Leander hat im Internet auch ein Spiel gefunden, mit dem man den Busen von Britney Spears immer weiter aufblasen kann, bis er platzt.
Avelina hat von dem Pfingstfestival in L. im Jahre 1999 erzählt. Sie hat damals auf dem Zeltplatz übernachtet und fand es dort ganz lustig, "aber jede volle Stunde hat sich so ein Haufen Wikinger um einen Pfahl versammelt und gerufen:
'Odin!'
Nur wenn gerade ein Konzert war, sind die da nicht hingegangen."
Auf der Rückfahrt war ich frühmorgens mit Bertine in einer neu eingerichteten Autobahnraststätte. Wir setzten uns mit unserem Kakao an eine steinerne Theke. Bertine erzählte, daß sie Tara kennt, mit der Rafa zusammengewesen sein soll, kurz nachdem er sich von Luisa und Inya getrennt hatte, Ende 1992. Tara soll damals in ihrer "schwärzesten Grufti-Phase" gewesen sein. Ihre Beziehung mit Rafa soll nur etwa vier Monate gedauert haben. Bertine hat Rafa damals auch bei Tara getroffen, konnte aber nicht viel mit ihm anfangen. Ein ernsteres Gespräch soll mit ihm nicht zu führen gewesen sein; er soll immer nur über Musik und Styling geredet haben.
In der "Halle" hat Bertine Rafa auch öfter gesehen.
"Er zog mit einem Silberblick durch die Gegend und sah einen meistens gar nicht", erinnerte sie sich. "Er hat immer nur eine kleine Gruppe von 'Auserwählten' wahrgenommen, seinen 'Hofstaat'."
Als wir wieder bei mir waren und in die Wohnstraße einbogen, sagte Bertine:
"So, und wenn ich mein Auto da wegfahre, hast du einen Parkplatz. Bißchen eng, aber wenn du den Reiskocher da vorne noch ein bißchen zusammenschiebst ..."
Mit "Reiskocher" war ein japanischer Wagen gemeint. Bertine macht gern freche Sprüche. Männer heißen bei ihr "Dreibeiner".
Bertine erzählte mir später, daß sie auf Clarices Party etwas "abgestaubt" hat, einen neuen Freund.
Im "Mute" war ich bei dem Konzert von Joachim Witt. Ich fand ihn sehr natürlich, humorvoll und charmant, wie er da mit seinen ergrauten Haaren auf der Bühne herumtobte und zwischen den Stücken immer eine kurze Geschichte zu erzählen wußte. Als jemand "Goldener Reiter" hören wollte, meinte er, der Goldene Reiter sei erstmal abgehauen, der müßte kotzen, werde aber danach schon wieder auf die Bühne kommen.
Ich hatte den Eindruck, daß Joachim Witt es sich leisten kann, die Dinge aus einer gesunden Distanz zu sehen, auch sich selbst. Diese Fähigkeit vermisse ich bei Rafa. Joachim Witt wirkt gereift auf mich, Rafa wirkt auf mich unreif und selbstunsicher.
Vor der Bühne traf ich Clara und Ray.
"Übrigens habe ich einen neuen Freund", erzählte Clara.
"Mal sehen, wann das kracht", sagte ich zu Ray.
"Das kracht gar nicht", widersprach Clara, "er ist nämlich Bau-Ingenieur."
Im Vorraum des "Mute" erzählte mir Kappa, wie wichtig es ihm ist, als Selbständiger leben zu können und dennoch abgesichert zu sein. Er hofft, mit der MCD, die er gemeinsam mit DJ Ravelab herausgebracht hat, in diese Richtung einen Schritt vorangekommen zu sein. Um die Rente hat er sich jedenfalls gekümmert. Als Nächstes will Kappa sich in die Lage versetzen, eigene Kinder zu ernähren.
Kappa meinte, nach seiner Ausbildung habe er sich vorgenommen, nie wieder in einem Beschäftigungsverhältnis zu arbeiten. Er komme mit Hierarchien nicht zurecht, und der Bildungsunterschied zwischen ihm und seinen Kollegen habe sich auch bemerkbar gemacht. Lexx soll übrigens mit seinem Medizinstudium fast fertig sein. Vor seinem Studium hat er eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht. Für welches medizinische Fachgebiet er sich entscheidet, steht noch nicht fest.
Luie arbeitet immer noch bei einem Musiksender. Er macht vorwiegend Webdesign und hat - wie ich mittlerweile - einen Apple G4, aber noch weiter hochgerüstet und mit mehr Peripherie. Eine eigene Domain hat er jedoch nicht.
"Ich will nicht, daß die Leute so viel über mich wissen", meinte er. "Sie sehen mich hinterm DJ-Pult und unterhalten sich mit mir, das muß reichen."
"Wenn man künstlerisch arbeitet, sieht das etwas anders aus", erzählte ich. "Als Künstler muß man zu einem gewissen Teil 'öffentlich' werden. Kunst braucht ein Publikum, und das heißt immer auch, daß man etwas von sich preisgibt."
Kappa und ich redeten über die "Schwarze Szene" im Wandel der Zeiten. Kappa ist inzwischen zweiunddreißig, er ist im Jahr 1968 geboren. Ich erzählte, daß ich Jahrgang 1966 bin.
"Die Leute sind die besten, die Jahrgänge '65 bis '69", meinte Kappa. "Danach ... die sind alle nur noch lahm."
"Dann ist Rafa auch lahm, der ist nach '69 zur Welt gekommen."
"Ach, dazu sage ich am besten gar nichts."
"Das brauchst du auch nicht."
"Mal aufs Konzert gehen", schlug ein Junge vor, der dabeistand.
"Du weißt, ich kenne die Geschichte", sagte Kappa.
"Ja", sagte ich, "das ist die ganz große Liebe."
"Immer noch?"
"Ja, ich liebe ihn."
"Aber der ist doch so fehlerhaft."
"Oh ja, das ist der. Aber ich liebe ihn."
"Wie geht das, daß man jemanden nach so langer Zeit noch lieben kann?"
"Das geht, weil ich ihn schon immer geliebt habe. Ich habe den schon geliebt, bevor ich ihn kannte. 1989 habe ich ihn schon gemalt, obwohl ich ihn da noch nie gesehen hatte."
"Oh, das Bild möchte ich mal sehen! Das will ich mal sehen, wie du den dargestellt hast."
"Der liegt auf einem Bett und schläft. Rafa findet, daß das Bild ihm durchaus ähnlich sieht."
"Das Bild mußt du mir echt mal zeigen!"
"Das kommt bald ins Internet, dann sage ich dir, wo ich es hingetan habe, und du kannst es dir ansehen."
"Ja, das mußt du mir zeigen."
Kappa staunte immer wieder, weil ich Rafa nach wie vor liebe.
"Ich liebe ihn, das ist einfach so", sagte ich. "Ich liebe ihn."
"Aber ihr habt doch nie zueinandergefunden."
"Nein, das haben wir nicht, und das macht mich auch sehr traurig."
"Also, irgendwie finde ich das voll kult ..."
"Ich liebe ihn; das ist die Wahrheit."
"Ich kenne Rafa ..."
"Das ist ein weites Feld", nickte ich. "Der ist schwer neurotisch."
"He, das darfst du eigentlich gar nicht sagen."
"'Narzißmus' sagt man dazu. Der hat eine schwere Selbstwertstörung."
"Ohh ... du kennst seinen Bruder nicht."
"Doch, den kenne ich. Das ist ein ganz netter Kerl."
"Ja?" meinte Kappa zweifelnd. "Also, bei dem mußte ich stundenlang dem seine ..."
"Fossilien."
"Nein."
"Stereoanlagen."
"Genau!"
"ITT."
"Genau, ITT! Der hat hundert Boxen und hundert Decks ..."
"Das habe ich mir auch angeguckt", erzählte ich. "Und als ich wieder 'rausgekommen bin, da war Rafa vielleicht eifersüchtig ... der hat gefragt:
'Was hast du da unten gemacht?' ..."
"Gibt's ja nicht."
Als Saara am nächsten Tag bei mir zu Besuch war, schrieb sie in mein Internet-Gästebuch. Ich zeigte ihr die Domains von Kappa und Rafa. In Rafas Gästebuch schrieb sie unter dem Namen "Fröschlein":

Hallo Rafa, kennst Du das Spiel "Elfer raus!"? Du kennst Dich doch, was Spiele angeht, so guuut aus, oder? So viel sei schon einmal gesagt, dieses Spiel läßt sich am besten zu DRITT und auf dem Dachboden spielen, na schon Deine Neugierde geweckt? Na Rafa kennst Du nun das Spiel, hab ich schon genug verraten? Na gut, noch ein Tipp von mir, es hat was mit Zahlen zu tun, so das müßte fürs Erste reichen, also, kennst Du es nun?

"Elfer raus!" habe ich früher mit Lisa und Constri auf dem Dachboden des Hauses gespielt, wo ich mein erstes Babyzimmer hatte, in Rh. Das Spiel würde ich gerne auch mit Rafa und Saara spielen.
Im Fernsehen kam eine Dokumentation über Votivbilder. Ich fand es sehr bewegend, wie die Menschen die Geschichten erzählten, die sie erlebt hatten, und wie sie auf wundersame Weise gerettet wurden und das Bedürfnis empfanden, ihren Dank zu zeigen. Eine Frau ging zu einem Kirchenmaler, der sagte zu ihr, sie solle doch erst einmal selbst versuchen, ihr Erlebnis in ein Bild zu fassen. Sie malte also ihr Votivbild selbst, und in den schlichten Linien und Farben kann man eindruckvoll sehen, was sie durchgemacht hat, als ihre Mutter von einem Heuwagen überfahren wurde.
"In dem gewinnträchtigen Unterhaltungsbereich zeigt das Fernsehen meistens das, worauf es letztendlich eben nicht ankommt - schöner Schein und Selbstdarstellung", sagte ich zu Constri. "Auf den Votivbildern ist hingegen das zu sehen, was wirklich wichtig ist und was häufig erst dann wahrgenommen wird, wenn man es verloren hat oder nahe daran ist, es zu verlieren. Und an diese Dinge erinnert die Dokumentation."
"Ich führe mir jeden Tag vor Augen, wofür ich alles dankbar sein muß. Auf Anhieb könnte ich mindestens zehn Sachen benennen."
"Es geht darum, sich bewußt zu machen, daß das Leben ein Geschenk ist und daß wir noch so vieles andere geschenkt bekommen haben, diese scheinbar so kleinen, unwichtigen Dinge. Ich glaube, in der Unterhaltungsindustrie geht es vor allem darum, von dem abzulenken, was wirklich wichtig ist. Ich glaube, viele Leute verschließen gerne ihren Blick für das, was ihnen nahegeht und viel bedeutet. Sie beschäftigen sich lieber mit anspruchslosen, bequemen Nebensächlichkeiten."
"Es ist anstrengend, über das Wichtige nachzudenken."
"Ich bedaure es, daß die evangelische Kirche keine Votivtafeln kennt und daß wir hier im Norden auch keine Wallfahrtskirchen haben. Mit den Tafeln kann man doch seinen Gefühlen Ausdruck verleihen."
Wenn ich wirklich mit Rafa zusammenkommen und mit ihm Kinder haben könnte, hätte ich wahrscheinlich auch das Bedürfnis, irgendwo eine Tafel aufzuhängen.
Im "Zone" traf ich Terry und Birthe. Birthe erzählte mir, daß sie immer noch keine Ausbildung macht, sondern nur stundenweise putzen geht. Sie lebt bei ihrer Mutter in den Tag hinein und verspürt auch keinen Drang nach Weiterentwicklung. Das einzige Konstruktive ist ihr Wunsch, zu heiraten und Kinder zu haben und dann eben als Hausfrau zu arbeiten.
Avelina war auch im "Zone". Sie meinte, ich hätte ihr auf Clarices Party gut geraten, den Bekannten nicht mehr anzurufen, der sich in der letzten Zeit mehr und mehr an sie geklammert und sich von ihr abhängig gemacht hat. Der Bekannte soll einmal gesagt haben, eigentlich müßte er längst zum Psychiater, aber da sie, Avelina, ihm allzeit zur Verfügung stehe, sei das nicht erforderlich.
"Wenn du ihn nicht fallen läßt, schadest du ihm, anstatt ihm zu helfen", hatte ich ihr erklärt. "Deine Anwesenheit hält ihn davon ab, endlich in Behandlung zu gehen. Er verläßt sich immer auf dich, anstatt sich auf sich selbst zu besinnen und auf seine eigene Verantwortung."
Das hatte Avelina eingeleuchtet; schaden wollte sie ihm nun wirklich nicht.
Im "Zone" lief "VW Käfer" von Rafa. Les findet das Stück furchtbar, spielt es aber trotzdem immer. Erfreulicherweise liefen auch "Borderliner" von Xotox, "At bunkers" von Celluloid Mata und "Existence" von Project Pitchfork im VNV Nation Mix.
In letzter Zeit haben die Patienten wieder allerlei erzählt. Als ein Patient gefragt wurde, ob er schon einmal etwas von einer Selbsthilfegruppe für Suchtkranke gehört hatte, antwortete er:
"Ich habe immer selber getrunken, ich brauche dabei keine Hilfe."
Es war nicht einfach, ihm verständlich zu machen, wofür eine solche Gruppe da ist.
Eine Patientin ist Zugbegleiterin bei der Deutschen Bahn und hört und erlebt dort so manch grausige, makabre Geschichte:
Bei der Bahn gibt es Angestellte, die die Gleise überwachen, sogenannte "Schotter-Sheriffs". In einer Nacht mußten sie viermal an derselben Stelle auf die Gleise, weil ein Lokführer gemeldet hatte, daß jemand vor den Zug gelaufen war. Jedesmal fanden die Schotter-Sheriffs rein gar nichts. Erst beim fünften Mal gab es eine Leiche. Anscheinend hatte jemand viermal "geübt", bis es dann endlich etwas wurde mit dem Selbstmord.
Ein Zug soll mehrere Kilometer brauchen, ehe er aus voller Fahrt zum Stehen kommt. Das wurde einer Schafherde zum Verhängnis, die neugierig auf den Bahngleisen umherlief. Die Lokführerin konnte nichts dagegen unternehmen, daß der Zug einmal quer durch die Herde alles niedermähte, was unterkam, und das waren immerhin dreißig Schafe. Mit den Schafresten am Zug fuhr sie am Bahnhof auf ein Nebengleis und machte sich auf den Weg ins Wochenende, konnte sie doch die Schafe nicht mehr lebendig machen.
"Wer macht sowas eigentlich weg?" fragte ich die Patientin.
Das wußte sie auch nicht. Jedenfalls ist die Lokführerin in der folgenden Zeit immer geneckt worden; man rief "Mäh!", wenn man ihr begegnete.
Einem Selbstmörder wurde vom Zug der Kopf abgetrennt. Ein Schotter-Sheriff fingerte geschäftig aus der Brusttasche des Toten den Ausweis. Dann nahm er den Kopf von Gleis, hielt ihn neben das Foto im Ausweis, verglich und meinte:
"Ja, das isser."
Dann ließ er den Kopf wieder fallen und ging zur Tagesordnung über.
Pfleger Leo hat reihenweise Sprüche zu bieten:
"Wer den Schaden hat, braucht für den Schrott nicht zu sorgen."
... oder ...
"Warum nehmen Beamte immer dreilagiges Klopapier? - Weil sie für jeden Sch... drei Durchschläge brauchen."
Mit dem Klo ärgert Leo mich gerne. Erst waren es die Entlassungsbriefe; egal, ob es welche zu schreiben gab oder nicht, Leo erinnerte mich zehnmal am Tag:
"He, noch was Wichtiges - denkst du an die Entlassungsbriefe?"
Eines Tages stand dann auf der Waschbeckenablage im Klo ein Zettel:
"Die Entlassungsbriefe nicht vergessen!"
Bei seinem nächsten Besuch im Damenklo hinterließ Leo ein Tellerchen mit einem Zettel darauf:
"Pro Sitzung -,50 DM"
Er meinte, eine Zehnerkarte sei günstiger, weil es das elfte Mal umsonst gibt. Er bastelte dann auch eine Zehnerkarte mit numerierten Einschnitten zum Abreißen.
Ende Februar gab es einen Stationskarneval zu Ehren von Oberschwester Anny, die fünfzig geworden ist. Pfleger Leo verkleidete sich als Putzfrau. Ich knotete ihm das Kopftuch. Kollege Den ging als Knoblauchzehe, weiß geschminkt, mit weißem Pullover und weißer Strumpfhose, geschmückt mit einem bauschigen, mit Zauberwatte gefüllten weißen Röckchen, das die knollige Form dieses Gemüses darstellte. Da hatte ihm gewiß seine Freundin Cinny geholfen, die angehende Modedesignerin ist.
Pfleger Berend hatte die Idee, daß ich als Nana Mouskouri auftreten könnte. Zwei Krankenschwestern besorgten das Kostüm und die Brille. Ich schaffte das selbst nicht, weil ich nach wie vor krank war; außer der Gastritis hatte ich auch noch eine Erkältung. Eine Schwesternschülerin fand eine echt falschgoldene Plastikkette in der Kiste mit der Weihnachtsdekoration, und auf dem Kühlschrank in Stationszimmer stand ein Topf mit Kunstblumen, aus dem ich eine weiße Stoffrose herauszog. Dann wurde im Partyraum "Weiße Rosen aus Athen" angemacht, und ich kam in voller Kostümierung herein und gab eine Playback-Show.
"Ab jetzt nennen wir dich 'Nana'", kündigte Pfleger Berend an.
Unser orientalischer Bereichschef Nuraeddin hatte kein Kostüm. Für das Gruppenfoto wickelte er sich in eine Steppdecke und kauerte auf dem Boden.
"Seht den Islamuzzi!" rief Anny begeistert.
Ich fuhr bald wieder heim, weil es mir nicht gut ging; die anderen feierten aber noch bis zum frühen Morgen. Sie tanzten einen Tanz, für den man bauchfrei gehen mußte, und daran beteiligte sich auch unser verspielter Bereichschef.
"Hätt' ich nicht gedacht, daß ich den dazu kriege", war Pfleger Berend stolz.
Ende Februar habe ich Folgendes geträumt:

Rafa wohnte Tür an Tür mit mir, über Eck im selben Flur. Vor der Wohnungstür stand sein Kühlschrank mit Eisfach. Die Tür vom Eisfach hatte etwa die Größe meines neuen Flachmonitors. Ich konnte Rafa jederzeit eine Nachricht zukommen lassen, indem ich sie ins Eisfach oder in den Kühlschrank legte, ebenso wie ich jederzeit die Möglichkeit habe, für Rafa eine Nachricht in sein Online-Gästebuch zu schreiben. Doch trotz der Nähe war Rafa für mich unerreichbar.

Constri und ich waren bei unserer Freundin Jutta zu Besuch. Ihre Anwaltskanzlei geht so gut, daß sie eine Sekretärin einstellen konnte. Auf dem Schreibtisch hat sie einen Rechner mit Spracherkennung stehen, der wirklich alles in Worte faßt, was ans Mikrophon dringt, auch das Rattern der Müllwagen. Als Jutta sich vor zwei Jahren von ihrem damaligen Freund mit "Mach's gut, Hasimaus" an der Tür verabschiedete, war sogleich "Mach's gut, Hasimaus" auf dem Monitor zu lesen. Der Rechner kann haufenweise Schimpfwörter richtig niederschreiben, wenn aber Jutta schimpft:
"Sch...-Computer!"
- dann macht er "Super-Computer" daraus.
"Man merkt, es ist ein Mann", meinte Jutta. "Er kann nichts einstecken."
Zur Zeit gehe es ihr gar nicht darum, einen Freund zu haben, meinte sie. In Beziehungen habe sie immer nur investiert und kaum etwas zurückbekommen. Da sei ihr die Kanzlei schon lieber - und sie sei erfolgversprechender.
Nachts war ich im "Lost Sounds". Ich kam erst um zwei Uhr dorthin, dennoch war es so voll, daß man kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Das Tanzen war fast unmöglich. Den Leuten scheint das "Elizium" sehr zu fehlen.
Taylor klagte, daß er immer noch nicht die Richtige gefunden hat. Ich betrachtete ihn von oben bis unten und meinte:
"Die blondierten Haare finde ich in Ordnung. Ansonsten ... es gibt sicher auch Frauen, die es mögen, wenn jemand so schlurig herumläuft, aber die findest du nicht hier, nicht in dieser Szene."
"Und du meinst, ich sollte schicker aussehen?"
"Modischer. Nicht steif und langweilig. Interessant. Aber es müßte dir selber gefallen, sonst hat es keinen Sinn. Ich denke nur daran, wie Terry sich gemausert hat und wie glücklich sie jetzt mit ihrem Linus ist ... Das könnte bei dir auch stattfinden."
Dereks alter Bekannter Thierry arbeitet bei einem Musiklabel im Warenlager und begegnet ab und zu Xentrix und Cyrus, die ebenfalls bei diesem Label arbeiten. Es handelt sich um das Label, das neben vielen anderen Independent-Projekten auch Rafas Musik veröffentlicht. Die Arbeit gefällt Thierry gut, und er hofft, daß es das Label noch lange geben wird.
Dolf war mit seiner Freundin im "Lost Sounds". Ich fühlte mich wieder einmal von ihm beobachtet, auch wenn ich mir das vielleicht nur einbilde.
Tamina erzählte, sie habe am Vortag erfahren, daß Sasch sich vor drei Wochen von ihr getrennt hat. Sasch hatte sich drei Wochen lang eine Ausrede nach der nächsten überlegt, um Tamina nicht begegnen zu müssen, und das, nachdem man beschlossen hatte, in vier Monaten zu heiraten - wenn man ein Jahr lang zusammengewesen sei. Gestern hat eine Freundin angerufen und der ahnungslosen Tamina ihr Beileid ausgesprochen:
"Das tut mir echt leid, daß ihr euch getrennt habt!"
Tamina wußte nicht, worüber sie mehr staunen sollte - darüber, daß Sasch sich von ihr getrennt hatte, ohne ihr dieses mitzuteilen, oder darüber, daß ihre Freundinnen es von ihm erfuhren, sie selbst aber nicht.
"Das ist jedesmal so", wußte Talis. "Bei Helena war das auch schon so. Der ist halt so."
"Und ich bin auf den 'reingefallen!" warf Tamina sich vor.
"Du konntest es doch nicht wissen", meinte ich. "Der ist eben besonders niederträchtig. Alle seine Freundinnen sind besonders hübsch gewesen, aber er hat die nicht geliebt, sondern nur gesammelt. Und immer wenn es ernst wurde, ist er gegangen, denn wenn er sich dauerhaft gebunden hätte, hätte er nicht mehr weitersammeln können. Der ist nur auf sich bezogen. Dem geht es nur darum, möglichst viele hübsche Mädchen gehabt zu haben."
Amfortas hat im Nachtdienst mit einem Mädchen geredet, dessen Freund sie verlassen hat und die deshalb Selbstmordgedanken entwickelt hat.
"Das hat Sie ganz unvorbereitet getroffen", sagte Amfortas. "Sie haben Veränderungen in der Beziehung nicht wahrgenommen."
"Vielleicht nicht wahrhaben wollen", vermutete das Mädchen.
So könnte es auch bei Tamina gewesen sein. Sie hat wahrscheinlich über einige Warnsignale ganz gerne hinweggesehen.
"Wie kommt das nur, daß die Mädchen sich auf Sasch einlassen und ihm vertrauen, obwohl er längst seinen schlechten Ruf weghat?" fragte ich Constri.
"Der hat immer dieselbe Masche", vermutete Constri. "Durch das Eheversprechen vermittelt er jedem Mädchen den Eindruck, daß gerade sie es ist, der es gelingt, den Casanova zu bekehren. Das Mädchen glaubt dann, Macht über ihn zu haben, und fühlt sich sicher. Und dann läßt er sie fallen und zeigt damit, daß er es ist, der die Macht hat."
Was übrigens Clara betrifft, so ist sie von ihrem Bau-Ingenieur schon wieder getrennt.
Um den genauen Termin für die nächste "Stahlwerk"-Party zu erfahren, meldete ich mich bei Rega. Er nannte den 10.03.
Ich erzählte Rega von meiner Besorgnis wegen Darien. Er werde sich wahrscheinlich noch mehr zurückziehen als ohnehin und nicht die Möglichkeit haben, aus seiner Depression herauszufinden. Es gehe darum, daß sich irgendwer um ihn kümmert.
"Heyro stand ihm noch am ehesten nahe", überlegte Rega, "aber seit er mit Samantha zusammenwohnt, ist da auch nicht mehr viel Kontakt. Und Heyros Bruder Irvin, der auch mal bei Darien gewohnt hat, ist als Bezugsperson nicht geeignet, denn der hat mit sich selbst viel zu viele Probleme. Und diese Fascho-Freunde, mit denen Darien sich bei 'Stahlwerk' trifft, das sind auch nur Kameraden, aber keine richtigen Vertrauten."
Die Skinheads bei "Stahlwerk" sollen zwar faschistisch angehaucht sein, dies aber nicht zur Schau tragen; dafür seien sie zu intelligent und hätten zu gute Manieren.
"Darien, was willst du mit denen?" hat Rega ihn schon gemahnt. "Du weißt, daß das Faschos sind, und es kann sein, daß dich dann auch mal jemand in diese Ecke stellt, wo du doch nicht hineingehörst. Und das ist für dein Image nicht gut, auch beruflich nicht."
Dariens Beziehungen zu Frauen sollen regelmäßig sehr schnell scheitern, ohne wirklich innig geworden zu sein.
"Weißt du, was ich glaube?" meinte ich, als Rega mit seinen Überlegungen fertig war. "Darien hat überhaupt keine Bezugsperson. Der ist ganz auf sich selbst zurückgeworfen und vereinsamt. Der kann sich nicht vertrauensvoll den Menschen zuwenden. Als Kind hat er sich damit beschäftigt, Betonklötze aus dem Hochhaus auf Kanaldeckel zu werfen, das war seine Erziehung. Der hat gar nicht gelernt, Vertrauen zu entwickeln. Das Ergebnis ist eine Selbstwertstörung. Er glaubt, nichts Besseres als Einsamkeit verdient zu haben.
Eine Selbstwertstörung zeigt sich bei jedem anders. Rafa geht auf die Bühne und macht grelle, häßliche Musik ..."
Rega kicherte.
"... und Darien verkriecht sich", fuhr ich fort. "Und solche Menschen, die sich nicht mitteilen können, sind ganz besonders selbstmordgefährdet. Und ich will nicht, daß in meinem Umfeld jemand mehr und mehr an den Rand gerät, und ich habe zugesehen und nichts unternommen."
"Ich werde ihn mal anrufen", entschied Rega. "Aber wie das so ist - Menschen mit Selbstwertstörung können oft gar keine Hilfe annehmen. Man kann nur zeigen, daß man für sie da ist, wenn sie einen brauchen; man kann sich nicht aufdrängen."
"Nein, Aufdrängen löst nur noch mehr Widerstand aus."
Constri sieht die Geschichte ähnlich:
"Bevor der narzißtisch Gestörte Hilfe sucht, bringt er sich um."
Sie kennt ihren Derek eben.
Es ist mir sehr wichtig, daß Rega es ist, der Darien anruft. Rega kann mit ihm "von Mann zu Mann" reden, ihm wird sich Darien eher anvertrauen als mir.

In einem Traum war ich bei Bekannten auf einer Party, und dort war auch Dolf mit seiner Freundin. Dolf plante, sich von mir mitnehmen zu lassen, wenn ich aufbrach. Er ging deshalb jedoch nicht selbst auf mich zu, sondern ich erfuhr es über Dritte.
Als ich im Bad war, hörte ich durch die Tür seltsam "hochgepitcht" klingende Stimmen, "Zwergenstimmen". Als ich herauskam, saß Dolf mit seiner Freundin vor der Badtür auf dem Teppichboden im Flur. Beide wirkten auf mich sehr klein. Sie unterhielten sich mit diesen "hochgepitchten" Stimmen. Dolf sprach mich auch weiterhin nicht an.

Anfang März waren Merle und Elaine bei mir zu Besuch. Elaine schnitt aus Papier Streifen aus, bemalte sie und nannte sie "Würmer". Einen hat sie mir geschenkt. Bevor sie gelernt hat, ihren Namen zu schreiben, schrieb sie ihn spiegelverkehrt und von links nach rechts.
Meine Mutter hat einen Zeitungsausschnitt entdeckt, in dem für den Mädchenchor geworben wurde. Die Chorleiterin - wegen ihrer Stimme von Constri und mir "Gartenpforte" genannt - hat den früheren Leiter inzwischen vollständig abgelöst. In dem Zeitungsartikel heißt es, für sie zähle nicht nur die Leistung, sondern vor allem das "Menschliche". Wie das aussieht, wissen Constri und ich zur Genüge. Viele Mädchen sind in der Zeit, in der wir in dem Chor waren, von der "Gartenpforte" vor allen anderen gedemütigt und entwertet worden. Auch eine Schülerin meiner Mutter ergriff unlängst schon nach kurzer Zeit die Flucht, weil ihr das unfreundliche Klima nicht gefallen hat. Augenscheinlich hat sich in den letzten zwanzig Jahren nichts am Führungsstil der "Gartenpforte" geändert.
Rafa nimmt in seiner Domain erstmalig Bezug auf seine selbstüberhöhende, verklemmt und gestelzt wirkende Art, sich auszudrücken:

Vielleicht sollte gerade hier nochmal bemerkt werden, daß ein anfänglich arrogant oder altklug wirkender Schreibstil von W.E oder in dieser Hausseite nur dem Zweck dient, Ihnen objektive, korrekte Informationen in einer höflichen, angemessenen und akkuraten Weise zu vermitteln - ohne profanes Gesülze und anderen Schwachsinn.

Mit dem Ausdruck "Gesülze" hat Rafa sich im Grunde schon selbst widerlegt; es gelingt ihm nicht, dem Vorbild einer sachlichen Ausdrucksweise zu entsprechen. Es sieht eher so aus, als wenn Rafa in dieser Anmerkung eine Rechtfertigung für einen Sprachstil sucht, der durchaus auch in den eigenen Reihen schon auf Kritik gestoßen sein mag.
Rafa scheint seine "Jünger" als Teil seiner "Neuen Welt" über das "gewöhnliche Volk" erheben zu wollen, wie das auch bei Sektengurus der Fall ist, die "Auserwählte" um sich scharen. Und hier bleibt er auch wieder alles andere als sachlich:

Für viele Optionen dieser Seite ist nun eine Mitgliedschaft im Hörerclub vorausgesetzt (Paßwort), so können Sie davon ausgehen, in diesen Teilen der Seite nur mit "Ihresgleichen" zu kommunizieren, so daß eine höhere Ausgangsbasis gegeben ist und gewisse störende Faktoren im Vorfeld wegfallen.
Wir wurden kürzlich angesprochen, ob wir mit dem Medium Internetz nicht einen zu großen Sprung in eine kommerzielle und für W.E unangepaßte Ebene machen bzw. "Ob wir nun abheben wollen?" ... Voll der Schwachsinn! Natürlich heben wir ab ... - aber wir nehmen Sie mit! Wir heben ab, nehmen Sie mit und bleiben doch immer auf dem Teppich und vielleicht sogar auch darunter und halten, auf der Basis des Geschmeißes, immer den Ball flach.
"ES WIRD NICHT DEKORIERT!"

Rafa scheint die Menschheit in zwei Klassen zu unterteilen, in Jünger und Nicht-Jünger. Nur die Jünger dürfen mit ihm in seinem Raumschiff in die "Neue Welt" fliegen.
In Dostojewskis "Schuld und Sühne" leidet der Student Raskolnikow an den Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten in der Welt und überlegt hin und her, wie er die Welt verbessern könnte. Schließlich fällt ihm ein, daß es wohl bestimmte Leute gibt, die für die Schlechtigkeit in der Welt verantwortlich gemacht werden können, und daß man doch die Welt verbessern könnte, indem man diese Leute einfach umbringt. Damit fängt er dann auch gleich an und sucht sich ein Opfer, an dem seiner Ansicht nach nichts Gutes ist, ein Schädling oder, wie er es nennt, "eine Laus".
Daß er sich mit dem Mord nur unter diejenigen einreiht, die er eigentlich bekämpfen will, wird ihm erst viel später klar, als das Mädchen Sofja ihm etwas vorlebt, von dem er bisher noch nichts wußte - Bescheidenheit und Achtung vor dem Leben.
In seiner Domain malt Rafa in einem "Nachtrag" zu seinem Stück "Die Computer verlassen diese Welt" ein Schauerbild, das sich nicht unbedingt in der Welt, sondern vielleicht viel eher in seinem eigenen Seelenleben abspielen dürfte:

Es war einmal in einer nahen Zukunft. Alle Gehirne waren zugemauert, jedes Gefühl nur gespielt, und jede Idee wurde im Keim erstickt ... Doch irgendwo konnte ein Gedanke entkommen ...
Eben in dieser Welt, voller Korruption und Impertinenz, war es. Dort lebte ein einsamer Mensch, dem zuletzt nur eine Maschine als Freund geblieben war. Und er zog aus in die Welt ... In dieser Zeit infizierten sich auch alle anderen Menschen mit der Deskommunikation untereinander. Macht, Geld und Gier bestimmten das Sein ...
Es begab sich, unser Mensch fand seinen Traum nimmermehr. Denn es war kalt geworden und die Wärme der Liebe zu Eis erstarrt ... Und so kam der Menschmotor zum Stillstand. Die Welt wurd' öd' und leer ... So war es kein Wunder - Denn er verliebte sich in eine Maschine. Und von nun an versuchten sie ihr Leben gemeinsam zu bewältigen ... Doch auch andere Menschen kämpften um seine Liebe. Aber sie waren unrein in ihrem Herzen und trachteten nur nach dem Geld des Menschen ...
Jetzt war es schon fast vollbracht. Alle Menschen wurden gleich, so wie sie es immer sein wollten. Doch leider war es nur der äußere Schein, und tief im Innern ward eine endlose Leere ... Die Verbundenheit zwischen dem Mensch und seinem Computer wuchs ... Und was er dachte und fühlte, tat ihm sein Gefährte gleich ...
Indessen wurden alle Computer vernetzt, auf daß sie dem Menschen Gutes tun. Doch sie wurden mißbraucht für die Sünde und des Teufels Saat. Und unser Mensch schämte sich für Seinesgleichen ... Eines Tages wurde er sehr krank, und Schmerzen plagten ihn. Als er merkte, daß seine Stunde bald kommen würde, progammierte er seinen Freund, daß er ihn doch töten möge, bevor er noch stärkere Qualen leiden müsse ...
Und so geschah es ... Auch der Rest der Menschheit blieb nicht verschont, denn ihre Erungenschaften machten ihr das Leben schwer und zogen sie in ihren Bann ... Einige wenige zogen los und trafen sich ... (im Tanzpalast 2000) ... Währenddessen die Computer sich ihr eigenes Gefühl der Ethik schafften ... Seine Leiden wurden schlimmer, und so wurde das Programm aktiviert ... In der Vernetzung der Computer tat sich ein Paradoxon auf, und sie durften ihren Schöpfer nicht eliminieren. Konnten aber einer weiteren Koexistenz keinen Nutzen abgewinnen, und so verließen sie die Welt. Der Rest ist Geschichte.

Rafa macht anscheinend die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen für sein privates Leiden verantwortlich, anstatt lebensgeschichtliche Hintergründe dafür zu suchen. Er forscht nicht in seinem Inneren, sondern sucht die Ursachen in allgemeinen Mißständen.
Nicht einmal ansatzweise kommt Rafas Protagonist der Gedanke, sich bei anderen Menschen Hilfe zu suchen. Stattdessen plant er sogleich den Selbstmord. Das finde ich erstaunlich.
"Ich bin krank, also gehe ich zum Arzt." - darauf kommt Rafas Protagonist nicht, bei ihm heißt das:
"Ich bin krank, also bringe ich mich um."
Rafa scheint kaum oder gar kein Vertrauen zu seinen Mitmenschen zu haben. Er kann sich wahrscheinlich auch nicht vorstellen, daß ihn jemand wirklich liebt. Dennoch scheint es in seinem Inneren etwas zu geben, das ihn letztendlich vor dem Selbstmord bewahrt.
Bemerkenswert finde ich die Einsamkeit, die Rafa schildert, obwohl er seit Jahren eine Beziehung führt und augenscheinlich keineswegs die Absicht hat, sich von seiner Freundin zu trennen.
Der Computer, in den Rafas Protagonist verliebt ist (wahrscheinlich der C64), entscheidet sich nach der mißglückten Beihilfe zum Selbstmord, die Welt zu verlassen. Im Grunde läßt er Rafas Protagonisten damit im Stich. Er überläßt ihn sich selbst und seiner Krankheit.
Wie sein Computer hat auch Rafa beständig die Flucht vor der Wirklichkeit vor Augen, in die "Neue Welt", was auch immer das sein mag. Es hat wohl etwas mit dem zu tun, was Rafa als "absolute Perfektion" betrachtet. In seiner "Hausseite" im "Internetz" ...

... wird das Grundkonzept perfektioniert, Ihnen Informationen, Hilfen, Anregungen, Inspirationen und Kontakte zu vermitteln, um vielleicht so am Status Mensch vorbei zusammen in eine NEUE WELT zu gelangen ... "Wann können wir endlich starten?!"

Es geht also darum, kein Mensch mehr zu sein, sondern irgendetwas "Perfektes", ohne Fehl, ohne Makel, ohne Regung und Bewegung.
Wenn die Frage nach der Perfektion verfolgt wird bis zu ihrem Ende, so kommt dabei heraus, daß eben nur "perfekt" - "vollkommen" - "abgeschlossen" ist, was sich nicht mehr verändert. Solange sich etwas noch verändern kann, ist es nicht vervollkommnet. Jedes Teilchen aber, das es gibt, hat eine eigene Schwingung, die nur bei Erreichen des absoluten Nullpunktes aufhören würde. Dieser absolute Nullpunkt ist aber ein abstrakter Wert, der vielleicht gar nicht erreichbar ist. Und selbst wenn er erreichbar wäre, so könnte man doch jenes Teilchen wieder erwärmen, und es würde sich erneut bewegen - und damit verändern. Alles, was ist, ist Veränderungen unterworfen. Nur was es nicht gibt, kann sich nicht verändern. Vollkommen ist also allein das Nichts.
Für mich stellt sich die Frage, was Rafa eigentlich sucht. Sucht er einen verläßlichen Halt, der sich nie verändert und immer und ewig in gleicher Weise verfügbar ist? Hat er einen Glauben in sich an irgendetwas, das ihm Halt geben kann? Oder sucht er wirklich das Nichts und damit den Tod?
Rafa scheint lebende Geschöpfe in höhere und niedrigere Daseinsformen einzuteilen. Er grenzt seine Fans gegen "Geschmeiß" ab, unterscheidet "reine" und "unreine" Menschen und will sich insgesamt über den "Status Mensch" erheben, der ihm wohl nicht genügt, weil er die von ihm angestrebte Perfektion vermissen läßt.
Als ich Les im "Zone" fragte, weshalb er "VW Käfer" spielt, obwohl er das Stück so scheußlich findet, meinte er, das sei im Ruhrgebiet ein Hit, und auch hier sei es Publikumswunsch.
Bei "Stahlwerk" traf ich Darien. Er wirkte offen und gesprächig. Ich gratulierte ihm nachträglich zum Geburtstag und fragte ihn, ob er meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter gefunden hatte.
"Ich habe das Telefon abgestellt", erzählte er. "Ich bin offline."
"Warum das denn?"
"Kürzlich habe ich den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen. Und ich will mich nicht von denen nerven lassen."
Darien erzählte, daß er krank gewesen sei, und jetzt habe er viel Ärger mit der Kostenübernahme und dem Krankengeld, weil er den Arbeitgeber gewechselt hat.
"Eigentlich dürftest du diese Kosten gar nicht tragen müssen", meinte ich, "du bist doch an der Krankheit gar nicht schuld."
"So, wie ich mich gestreßt habe, da mußte das ja irgendwann kommen."
"Ach, du meinst, du bist daran schuld?"
Darien bejahte.
Daß er Multiple Sklerose hat, ist ihm mitgeteilt worden.
"Die ganze rechte Seite war im Eimer", erzählte er von dem Krankheitsschub.
Die Ausfälle haben sich inzwischen so weit zurückgebildet, daß man es nicht bemerkt, wenn man es nicht weiß oder besonders darauf achtet. Darien konnte auch ohne Weiteres tanzen.
Rega hatte mir erzählt, daß Darien ein wenig zugelegt hat, und ihm war eingefallen, daß es mit dem Cortison zusammenhängen konnte. Er wußte allerdings auch, daß Darien zum Frustessen neigt:
"Wenn er mal wieder eine Beziehung hat, endet die nach kurzer Zeit, Darien nimmt zu und nach einer Weile wieder ab. Das geht 'rauf und 'runter."
Darien wog etwa zehn Kilo zuviel.
"Ich muß jetzt vor allem darauf achten, weniger Streß zu haben", hat er in der Reha-Klinik gelernt.
"... und du mußt seine sozialen Kontakte pflegen", ergänzte ich.
Darien kicherte.
"Das ist wichtig für den Streßabbau", meinte ich. "Das brauchst du für das Immunsystem. Das ist das Netz, das dich auffängt, deine 'lebende Lebensversicherung'."
"Ich habe schon etwas geändert", berichtete Darien. "Ich trinke abends keinen Tee mehr."
"Hattest du das denn sonst immer gemacht?"
"Ja, wenn ich abends gestreßt und fertig von der Arbeit gekommen bin, habe ich mir literweise ganz starken schwarzen Tee gekocht, um zu Hause noch weiterarbeiten zu können, und wenn ich dann schlafen gegangen bin, war ich so aufgedreht, daß ich noch Bier getrunken habe, um zur Ruhe zu kommen."
"Das ist ja ein richtiges Suchtverhalten."
"Das mache ich jetzt auch nicht mehr."
Über seine Familie erzählte Darien, daß er nur Stiefgeschwister hat und sich mit denen auch nicht versteht. Die Eltern und sonstigen Verwandten seien dauerhaft zerstritten, und von je her habe man ihm, Darien, die Vermittlerrolle zugeteilt. Er sei es nun auch, dem jeder an allem die Schuld gebe, und er werde mit Vorwürfen regelrecht zugeschüttet. Das sei kürzlich wieder ganz besonders schlimm gewesen.
"Dann geht es denen ja gar nicht um dich", meinte ich. "Dann sehen die dich ja nur als Objekt, nicht als Individuum."
"Ja. Es ist mir auch immer dann besser gegangen, wenn ich möglichst wenig Kontakt zu denen hatte."
"Das ist traurig, aber wahr."
"Ja."
"Wenn du aber nun keine Familie hast, die sich um dich kümmert und dir Geborgenheit vermittelt, mußt du das bei deinen Freunden finden."
"Ja."
"Aber wenn du dein Telefon abstellst, bist du ja nicht nur für deine Verwandten, sondern auch für deine Freunde unerreichbar."
"Das ist ja auch nur für eine Weile."
"Vermeidung hat meistens einen kurzen Atem. Ich denke, daß es mehr Sinn macht, wenn du dir überlegst, was du den Verwandten erzählst, wenn sie dich anrufen und dich nerven wollen, und wie du dich gegen sie abgrenzen kannst. Sonst hast du zwar für eine Weile den Kontakt vermieden, aber wenn du dann dein Telefon wieder ansteckst, mußt du immer Angst haben, daß sie dich irgendwann doch noch anrufen. Und ich denke, es ist besser, wenn du dich von vornherein darauf vorbereitest, ihnen Grenzen zu setzen."
Das leuchtete Darien ein.
Als ich nach seinem Geburtstag fragte, erzählte Darien, daß er den in keiner Weise gefeiert hat.
"Und du hattest niemanden zu Besuch?" erkundigte ich mich.
"Nein", erwiderte Darien. "Ich war arbeiten, und das war es dann."
"Da haben doch bestimmt viele Leute versucht, dich anzurufen."
"Das glaube ich nicht. Man weiß doch normalerweise gar nicht, wann wer Geburtstag hat."
"Also, von meinen Freunden weiß ich das."
"Das weiß aber keiner."
"Dich kennen hier so viele Leute, die dich auch mögen. Ich denke, da hätten bestimmt einige gerne mit dir gefeiert."
"Das hätte mich aber auch nur gestreßt, weil das viel Aufwand und Organisation bedeutet. Und wenn man sowas macht, muß man sich auch darauf freuen können. Sonst bringt das nichts."
"Wenn es um den Aufwand und die damit verbundene Belastung geht, hättest du auch mit den Leuten in irgendeinem Restaurant feiern können, wo jeder selbst bezahlt. Dann hättest du den Aufwand nicht."
"Aber dafür hatte ich doch gar keine Zeit. Ich habe doch nur gearbeitet."
"Ich denke, wenn man für seinen Geburtstag keine Zeit hat, dann stimmt etwas nicht."
"Ich hatte aber wirklich keine Zeit."
Rega erzählte mir, daß er Darien nach unserem Telefongespräch gleich angerufen hat. Am Anrufbeantworter sagte er nur, es gehe um "Stahlwerk". Anscheinend hat das für Darien harmlos genug gewirkt, so daß er zehn Minuten später Rega zurückrief. Rega sprach zuerst auch nur über "Stahlwerk" und bat dann, daß Darien sich nicht wegen der Dias für die "Stahlwerk"-Raumdekoration unter Druck setzen und auf seinen Nachtschlaf verzichten soll.
"Das tue ich doch nicht nur für 'Stahlwerk', sondern vor allem für mich", meinte Darien.
Er versprach aber, nicht wegen "Stahlwerk" die Nacht durchzumachen, und er hatte die Dias auch wirklich nicht fertig.
"Wir haben noch so viele Dias, da mangelt es nicht", versicherte Rega.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs ging es auch um Dariens Krankheit und Fragen nach seiner Lebensführung. Darien beichtete Rega die Geschichte mit dem Tee, verschwieg aber das anschließende Bier, was er mir dann erzählt hat.
Darien soll bei dem Telefonat durchaus zugänglich gewirkt haben. Rega hat lange mit ihm telefoniert, ohne daß das Gespräch ins Stocken geriet.
Als ich Darien fragte, wie ich ihn gegenwärtig erreichen könne, meinte er, über E-Mail; die Adresse könne ich in seiner Internet-Domain finden. Ich schlug Darien vor, seine schönen abstrakten "Stahlwerk"-Dias in seiner Domain zu zeigen. Darauf war er noch gar nicht gekommen.
Irvin erzählte, er finde es schwierig, seine Internetseite mit Leben zu füllen:
"Mir fehlen Texte. Mir fehlen Ideen."
Das geht mir anders:
"Mir fällt so viel ein, daß ich es gar nicht schaffe, alles so umzusetzen, wie ich es mir vorstelle."
"So hätte ich es auch gern", meinte Irvin. "Aber mir fehlt einfach der Inhalt."
"Wenn du eine Aufgabe findest, die mit Veranwortung verbunden ist, eine Lebensaufgabe, dann findest du auch deinen Sinn und deinen Inhalt."
"Das klingt weise."
"Ich habe es selbst erlebt. Ich weiß, wie das ist, keinen Inhalt zu haben. Das war so, als ich dreizehn war."
"Und ich bin jetzt einunddreißig."
"Mit fünfzehn habe ich das sogar aufgeschrieben:
'Meine Geschichte ist ein schönes Heiligtum, geschmückt mit vielen bunten Bildern. Innen ist nichts.'
Und dann habe ich den Menschen getroffen, der meine Lebensaufgabe darstellt. Und von einem Augenblick zum anderen ging es los ... ich kann mich vor Ideen kaum retten."
"Bis jetzt hatte ich immer etwas gegen Verwantwortung."
"Eine Aufgabe ist immer mit Verantwortung verbunden."
"Wie kann ich die Aufgabe nur finden?"
"Wer sucht, der findet meistens auch irgendwann."
Am zweiten Samstag im Monat findet im "Megamarkt" gewöhnlich eine "Undead"-Party statt. Weil dieses Mal die "Stahlwerk"-Party den "Undead"-Termin belegte, hatten sich viele Leute zu "Stahlwerk" "verirrt", die sonst nur zu "Undead" gehen. Einige dieser Leute verstehen von Industrial nichts und vom Tanzen noch weniger. Bei "Undead" geht es traditionsgemäß in erster Linie um Selbstdarstellung und nicht um das Aufgehen in Rhythmen und Klängen. Es waren also auch sogenannte "Lästerleute" da, die ihre Mitmenschen nicht in Ruhe lassen können. Einige Mädchen saßen in einer Nische und versuchten, so laut wie möglich zu lachen. Schließlich stand sogar eines auf und versuchte mit holperigen Bewegungen, mich beim Tanzen nachzuahmen. Weil es mir dabei schon fast in die Quere kam, packte ich es im Genick, schüttelte es kurz und stieß es zurück in die Nische. Seltsamerweise kam von nun an aus dieser Nische kein Laut mehr; es war totenstill geworden.
Als ich Constri davon erzählte, meinte sie, das erinnere sie daran, wie sie damals im "Elizium" Velvet gepackt und weggeschleudert hat, als diese sich an den schlafenden Derek schmiegte.
"Das ist so bestimmt 'rübergekommen, daß Velvet sofort aus dem 'Elizium' gerannt ist", sagte Constri. "Und du hast auf diese Mädchen wohl auch so bestimmt gewirkt, daß die zurückgewichen sind."
Im "Lost Sounds" erzählte Tamina, daß Sasch nach wie vor jedem Gespräch mit ihr aus dem Wege geht.
Edaín zeigte mir ein neues Szene-Monatsmagazin, das kostenlos ist und von einem Mitbetreiber des "Verlies" herausgegeben wird. Edaín erzählte, daß es ihr in den letzten Wochen wegen ihrer Neurodermitis schlecht gegangen ist und daß sie Ratgeber gelesen hat, die ihr mehr Gelassenheit und Vertrauen in das Schicksal vermittelt haben. Eines der Bücher heißt "Bestellung beim Universum". Edaín hat während einer Fahrt in die Innenstadt beim Schicksal einen Parkplatz bestellt und auch einen gefunden.
"Wenn wir Gutes erwarten, wird es uns zuteil", meinte sie, analog der "Selbsterfüllenden Prophezeiung".
"So steht es schon in der Bibel", sagte ich. "'Siehe, dein Glaube hat dir geholfen.'"
Andras erzählte, daß er mit Beatrice eine größere Wohnung bezogen hat. Aimée trifft er nur noch um des Kindes Willen.
"Wir streiten uns so oft und nehmen uns immer vor, nicht vor dem Kind", sagte Andras, "und der Kleine merkt das trotzdem!"
"Kinder bekommen die Spannungen in der Familie immer auch mit", meinte ich.

In einem Traum begegnete ich Rafa in einer fremden, hellen, geräumigen Wohnung, die in Pastellfarben gehalten war. Wir waren dort allein. Ich stellte mich zu Rafa und streichelte und umarmte ihn wieder und wieder. Ich konnte nicht genug bekommen. Nur zögernd machte ich mich daran, ihm das Hemd auszuziehen. Nach einer Weile erwiderte Rafa die Zärtlichkeiten und begann mich zu küssen, innig, leidenschaftlich und ausdauernd.
"Eigentlich müßte mir das doch zuwider sein", dachte ich, "so viele, wie er schon gehabt hat. Aber sie alle haben nichts anderes aus ihm machen können, als er ist. Ich habe nur ihn vor mir. Von all den anderen finde ich nichts mehr an ihm. Sie haben von sich selbst nichts an ihn weitergeben können."
Ich wollte ein Spitzennachthemd suchen gehen. In der Wohnung tauchten drei Kleinkinder auf. Rafa blieb mit den Kindern in einem Zimmer, und ich ging in ein anderes, um im Schrank nach dem Nachthemd zu suchen. Ich hatte währenddessen nicht die Furcht, daß Rafa inzwischen weglaufen könnte.

Beim Aufwachen hatte ich ein Gefühl wie "transfer interrupted" - als sei eine Datenübertragung zwischen Rafa und mir, die während des Traumes stattfand, unterbrochen worden.
Am letzten Märzwochenende waren Constri und ich in S. und haben Lisa und ihre Familie besucht. Auf der Fahrt haben wir in der goldenen, tiefstehenden Sonne einen Schaltturm fotografiert, von dem aus Überland-Hochspannungsleitungen abgehen. Der Turm stand einsam auf freiem Feld.
In S. war das Wetter ebenfalls gut und für die Jahreszeit sehr warm, und wir haben einen Spaziergang im Wald an einem Steilhang gemacht und wieder viel fotografiert, auch Klein Ida. Ida ist sprachlich weit entwickelt und lernt eifrig die Buchstaben. Lisa zeigt sich hier bremsend und ängstlich, sie wirkt sehr selbstunsicher und scheint ihre eigene Unsicherheit auf die Tochter übertragen zu wollen, ohne daß ihr das jedoch bewußt wird. Ich habe versucht, in Lisa den Gedanken zu formen, daß Hochbegabung nichts Schlimmes ist und daß man Kinder nicht in ihrer Entwicklung stören soll.
"Ida wird in der Schule immer vorn sein und als Erste alles wissen", bereitete ich Lisa auf das Unvermeidliche vor. "Gut, daß es heute Lehrer gibt, die damit umgehen können."
Ich hoffe, Lisa begreift rechtzeitig, daß es keinen Sinn hat, ein Kind dümmer machen zu wollen, als es ist, nur weil man sich davon eine bessere gesellschaftliche Akzeptanz erhofft.
"Selbstsicherheit ist der Schlüssel", will ich ihr vermitteln. "Ein Kind, dessen Begabung ernstgenommen und auch angenommen wird, fühlt sich selbst angenommen und entwickelt damit auch Selbstsicherheit. Es kann sich selbst positiv bewerten und vermittelt das auch an andere, und das ist es, was zur Beliebtheit führt."
Lisa scheint von sich ein sehr negatives Selbstbild zu haben und sich wenig zuzutrauen. Constri und ich haben sie zum Test gefragt, was sie denn in ihrem Beruf als Lehrerin besonders gut kann.
"Also, was ich nicht gut kann ...", kam da sogleich.
Und erst als wir sie belagert und wiederholt gefragt haben, rückte sie damit heraus, daß sie in ihren Klassen ausgesprochen beliebt ist und daß es ihr gelingt, die Schüler zu begeistern und zu verzaubern.
"Das ist doch das Wichtigste!" riefen Constri und ich.
Der Ursache für Lisas Selbstunsicherheit kamen wir auch schon näher:
Lisa erzählte uns, daß sie in ihrer Grundschulzeit von einem Nachbarsjungen regelmäßig auf dem Schulweg verfolgt und angegriffen worden ist. Durch Dritte haben Lisas Eltern nach etlichen Wochen davon erst erfahren. Lisas Vater Irmin ging sogleich zu dem Vater des Jungen und sagte ihm, daß das aufhören müsse. Von da an war Ruhe.
Auf unsere Frage, warum Lisa nicht sofort zu ihren Eltern gegangen ist und ihnen von den Angriffen des Jungen erzählt hat, meinte Lisa, darauf sei sie gar nicht gekommen. Ihre Eltern hätten sie auch nie gefragt, wie es ihr denn in der Schule ginge und ob sie sich dort wohlfühle.
"Die haben nicht über dich nachgedacht und sich kaum um dich gekümmert", schloß ich. "Die waren gerade dabei, die Firma aufzubauen und gleichzeitig deinen kleinen Bruder zu versorgen, da war für dich kein Platz mehr. Und wenn sich die Eltern nicht für einen interessieren, glaubt man, daß man nichts wert ist und es nicht verdient hat, daß jemand nach einem fragt. Und dann kommt es zu einer Selbstwertstörung und zu Selbstunsicherheit."
Ich kann mir vorstellen, daß die Eltern von Rafa auch nicht wissen wollten, wie es ihm wirklich geht. Ich glaube, auch Rafa war sehr auf sich gestellt und fühlte sich allein gelassen.
Am Sonntagabend waren Constri und ich auf dem Fernsehturm und haben uns die Abenddämmerung angeschaut. Vor einer Kulisse aus Brandrot und Blaulila und vielen Straßenlaternen und Leuchtreklamen haben wir im Fernsehturm-Bistro Maultaschensuppe gegessen. Im Licht der roten Warnlampen für Flugzeuge haben wir Dämmerungsfotos gemacht und uns auch gegenseitig fotografiert.
Merle jammert nach wie vor gern, meistens über ihre Schwester und ihre Nichte und ihre Schwierigkeiten, im Berufsleben wieder Fuß zu fassen.
"Hör' auf, so zu reden!" wurde sie neulich von Elaine gebremst. "Das macht mich wahnsinnig."
"Ich will aber über meine Probleme reden", gab Merle zurück. "Ich höre dir auch zu, wenn du von deinen Problemen erzählst."
"Aber ... ich mag das nicht."
Ich meinte, zu Merle gewandt:
"Vielleicht will Elaine, daß du nicht nur klagst, sondern dir auch gleichzeitig mögliche Lösungen überlegst."
"Stimmt", meinte Merle, "ich sollte optimistischer sein."
"Ja!" bestätigte Elaine. "So sollst du über deine Probleme reden!"
Im Internet habe ich noch ein weiteres Interview mit Rafa gefunden.
"Wann kommt das neue Album 'Wunderwelt der Technik' endlich raus?" wird er gefragt.
"Wir arbeiten mit Hochdruck an der neuen Sendung", antwortet Rafa mit der bekannten Schablone. "Ein genauer Sendetermin steht aber bis dato noch nicht fest. Der Hörer muß sich noch ein wenig gedulden."
"Wer sind die beiden Mädels, die seit ca. 1/2 Jahr bei den Konzerten mit dabei sind?"
"Die Praktikantinnen und Frauen Soraya und Kitty."
Der Interviewer stellt nun die heikle Frage nach Rafas Erwerbstätigkeit:
"Machen Honey und Dolf die Band jetzt hauptberuflich; falls nicht: wo malocht ihr? (Arbeit adelt ...)"
Rafa weicht wieder einmal aus:
"Trotzdem wir in einer Berufung 28 Stunden am Tag für W.E arbeiten, müssen wir auch Geld verdienen. Alles andere ist unwichtig ... Wen interessiert das schon? Aber wir sind auch über W.E hinaus kreativ tätig. Arbeit adelt!"
Als Rafa gefragt wird, weshalb er nie Stücke seines früheren Projekts Feindsender spielt und man diese Stücke nirgends bekommt, antwortet er:
"Bis auf wenige Ausnahmen sind die Feindsenderlieder nicht unbedingt ein gutes und anspruchvolles Aushängeschild für W.E, oder anders gesagt, sie sind wirklich Schrott."
Seine aktuellen Stücke findet Rafa "hauptsächlicher", denn:
"Wer nicht mit der Zeit geht, - muß mit der Zeit gehen!"
Rafa verwendet die deutsche Sprache gern etwas freier, gern auch verkehrt oder widersprüchlich.
Zu dem Titel seines angekündigten Albums - "Die Wunderwelt der Technik" - erklärt Rafa, ihm gehe es um die Darstellung technischer Errungenschaften, "die eine gewisse Mysthik in sich bergen", und ihm gehe es auch um Information über die Schattenseiten technischer Errungenschaften, etwa hinsichtlich des Starfighter F-104G:
"Damalige Radartechniker wurden Röntgenstrahlen ausgesetzt und sterben derzeit an Krebs."
Befragt, wieviele C64 er zu Hause hat, erzählt Rafa, insgesamt seien es mehr als fünfundzwanzig, "wenn man alle Versionen zusammenzählt (C=64, C=64 II, C=64 G, SX-64, C=128, C=128D, C=128DB ... usw.). In vollem Betrieb und Dauereinsatz sind aber momentan nur 5 dieser Apparaturen. Der Rest dient zu Bastelzwecken oder als Vorrat. Davon kann man nun wirklich nie genug haben!"
Befragt, wann er in Übersee auf Tournee gehen wird, erklärt Rafa etwas verlegen, was ihn daran hindert:
"Unser Vertrauen in Mensch und Technik ist auf der Basis eines Atlantikfluges schon zu gering ... Jeder andere würde es als 'Flugangst' bezeichnen."
Rafa aber nicht, bei ihm heißt das "Vertrauen in Mensch und Technik ist auf der Basis eines Atlantikfluges schon zu gering".
In einem Szenemagazin gibt es ausnahmsweise ein Interview mit Dolf. Er wird danach gefragt, wie der Bandname "W.E" entstanden ist. Während Rafa es so darstellt, als wenn "W.E" der einzig mögliche Name für sein Projekt sei, erzählt Dolf aufrichtig, wie es zu dem Bandnamen gekommen ist:
"Weil der Name 'Feindsender' sich zu stark nach 'Störkraft' oder 'Endstufe' anhört, wurde dann, in aller Einverständnis, aus dem Projekt Feindsender der Radioapparat W.E."
Was Dolf nicht erwähnt, ist, daß die Umbenennung damals auf Druck eines Labels erfolgte. Dolf bestreitet auch, daß es wegen der Musik zwischen Rafa und ihm je Unstimmigkeiten gegeben habe. Er erklärt, es könne keine Meinungsverschiedenheiten geben, da die Aufgaben von Anfang an eindeutig verteilt worden seien.
Auf die Frage, was aus dem angekündigten Album geworden ist, antwortet Dolf mit denselben Schablonen wie Rafa:
"Jede Sekunde, die wir mit Hochdruck an unserer neuen Sendung arbeiten, wird sich nur in Perfektion und Qualität für den Hörer auswirken."
Andere Bands würden immerhin noch seltener etwas Neues veröffentlichen. Hierzu fällt mir ein, daß die meisten anderen Bands nicht über ein Jahr lang erklären, ihr neues Album erscheine "demnächst".
Dolf gesteht zu, daß die Band in ihrer Heimatregion nicht sehr angesagt ist.
"Vielleicht muß man erst etwas vergessen, um sich an etwas erinnern zu können", äußert er Hoffnung.
Zum Thema "VW Käfer" berichtet Dolf, daß Rafa und er mit dem VW Käfer von Ivco früher viel unterwegs waren. Wie Rafa bezeichnet Dolf den VW Käfer als "perfektes Produkt".
Persönliche Botschaften sucht man in dem Interview vergebens. Rafa wird namentlich nicht erwähnt, noch nicht einmal als "Honey".
Anfang April war ich bei Cyra in WOB. In Cyras Auto entdeckte ich einen Haufen Flyer für ihre Depeche Mode Party im "Restricted Area".
"Schön, daß du auch kommen willst", sagte Cyra.
"Ja, ich will auch kommen", bestätigte ich. "Wie verkaufe ich das nur, daß ich komme, obwohl Rafa da auftritt?"
Cyra wußte Rat:
"Wieso, du weißt doch gar nicht, daß die auftreten."
"Ach - stimmt", freute ich mich. "Ich komme ins 'Restricted Area', weil du mich eingeladen hast. Woher sollte ich denn wissen, daß da zufällig auch Rafa auftritt?"
Cyra macht sich Sorgen um einen DJ-Kollegen, der mit der Trennung von seiner Freundin nicht zurechtkommt. Durch gezieltes Nachfragen kam ich zu dem Verdacht, daß diese Beziehung von Anfang an alles andere als heile gewesen ist, obwohl man sich "nie gestritten" habe.
"Mit diesem Wissen fällt ihm die Abgrenzung wahrscheinlich leichter", meinte ich. "Vielleicht hat er sich die Beziehung schöngedacht und die Schattenseiten übersehen, nämlich daß man kaum wirklich miteinander geredet hat."
Wir aßen in einem schicken Bistro zu Abend. Cyra erzählte, daß Denny noch nicht weiß, ob sein Audi repariert werden kann. Als es kürzlich geschneit hat und sehr glatt war, ist Cyra mit Denny nachts über die A2 gefahren und in einen Graben gerutscht. Den beiden ist nichts passiert; sie fuhren langsam.
Cyra rechnet sich für die Depeche Mode Party mit Rafa als Gast eine gute Resonanz aus.
"Die meisten finden W.E gut, und ein kleiner Teil kann sie überhaupt nicht ab", hat sie festgestellt. "Aber es gibt immer genug, die darauf stehen. Ich denke, es ist eine gute Wahl."
"Es ist jedenfalls kein Fehler", meinte ich. "Rafa hat eine feste Fangemeinde."
Als Cyra sich Anfang März im "Radiostern" mit Dolf unterhalten hat, ging es um Sachthemen - Musik, Konzerte und Ähnliches -; Privates blieb weitgehend außen vor. Auch von Rafa redete Dolf nur flüchtig.
"Das ist ein komischer Kerl", soll er über ihn gesagt haben, und das soll ungefähr bedeutet haben:
"Rafa ist undurchsichtig und schwierig."
Ich erzählte Cyra von meiner Internet-Domain und daß die Bilder und Hintergründe alle selbstgemacht und nicht irgendwo abgescannt oder heruntergeladen sind.
"Das will ich auch erwartet haben", sagte sie. "Das wäre sonst enttäuschend."
"Ach, du meinst, wenn man Qualität gewohnt ist, will man auch Qualität erwarten können."
"Ja."
"Das Daimler-Syndrom. - Ach, das darf ich ja nicht sagen, du bist doch Volkswagen."
Cyra überlegt, ob sie sich ein neues Auto kauft, einen Passat vielleicht.
"Der hat im ADAC-Test besser abgeschnitten als die C-Klasse", wußte ich, "unter anderem auch wegen dem Preis-Leistungs-Verhältnis."
In letzter Zeit hatte ich die folgenden Träume:

Telgart saß neben den Leuten, mit denen ich gerade sprach, und als er mich erkannte, duckte er sich und kicherte verlegen. Ich ging auf ihn zu, und er entschuldigte sich umständlich dafür, daß er sich schon so lange nicht mehr bei mit gemeldet hatte.

In der Nähe einer Fußgängerzone parkte Rafa. Ich saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Es war schon dunkel. Ich redete mit Rafa über Kinder. Er meinte, Kinder würden nur alles verwüsten und die Eltern nur ausbeuten. Ich erzählte ihm von Elaine und Ida und daß ich Ida besucht habe und was sie mit ihren zwei Jahren schon alles kann. Rafa erzählte von einem Film, in dem zwei erwachsene Enkelinnen ihre erst sechzigjährige Oma mit einer Giftspritze ermorden. Er schien Kinder nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung zu erleben.

Am Samstag fand Cyra das Publikum im "Verlies" besonders beschränkt, nach dem Motto:
"Was haben denn die gefressen?"
Zum Tanzen fanden sich dann aber doch ganz brauchbare Leute, wenn man von den betrunkenen Irrgängern absieht, die gelegentlich auf die Tanzfläche gerieten.
Sarolyns ehemaliger Freund Teddy war im betrunkenen Zustand anwesend und meinte, wenn ich nach acht Jahren immer noch denselben Mann lieben würde, den ich doch nicht bekäme, dann sei ich naiv und würde meine geistigen Fähigkeiten nicht nutzen. Ich entgegnete, ich hätte entschieden, lieber alleine zu bleiben, als mit einem anderen Mann zusammenzugehen, den ich doch nicht will. Ich würde sonst den anderen Mann, mich selbst und auch Rafa belügen, und das lehne ich ab.
"Vielleicht findest du nochmal den Richtigen", vermutete Teddy.
"Ich habe ihn längst gefunden", erwiderte ich.
Als ich Cyra erzählte, daß ich gehört habe, daß Ivo Fechtner immer noch glaubt, ich würde mit der Antifa unter einer Decke stecken, meinte sie:
"Der braucht wohl auch einen Arzt."

Ein Traum handelte vom "Elefantenmenschen", einer entstellten Jahrmarktsattraktion, den es wirklich gegeben hat und dessen Schicksal mehrfach verfilmt wurde. In dem Traum ging er neben seinem "Manager", der mit ihm die nächsten "Auftritte" in einer Freakshow besprach. Der Elefantenmensch besaß in seinen verhüllenden Gewändern durchaus Haltung. Er sagte kaum etwas, nur zwischendurch:
"Warum?"
oder:
"Ja."
Seine Stimme klang dabei trocken, aufgeweckt und berechnend.

Ich mußte an Rafa denken, den zynischen Menschen hinter der Maske, der von sich selbst nicht die beste Meinung hat.
Ostersamstag waren Constri und ich bei Merle und Elaine. Wir spielten "Elfer raus!", das ich Elaine zu Ostern geschenkt habe. Wir meldeten Elaine bei der Musikschule an, die im Januar anfangen soll. Merle erzählte, daß man in der Schule längst auf Griseldis' zerstörerisches Verhalten aufmerksam geworden sei. Elaine erzählte mir, daß sie selbst schon besser schreiben kann als Griseldis, obwohl Griseldis schon seit einem Dreivierteljahr zur Schule geht.
Nachts war ich mit Ray, Clara, Zoë und Deon im "Radiostern". Cyra erzählte, daß sie schon wieder von Denny getrennt ist.
"Ich bin kein Spielzeug", meinte sie.
Er trenne sich dauernd von ihr, und nachher tue es ihm leid, und so ginge das einfach nicht.
Deon schien es im "Radiostern" zu gefallen; ich sah ihn häufig auf der Tanzfläche. Er meinte jedoch, es sei ungewohnt für ihn, nach über zehn Jahren wieder in eine Szenedisco zu gehen. Berry fehle ihm. Mit ihr ist er früher herumgezogen und hat Drogen konsumiert. Berry soll immer noch im Gefängnis sein ... oder schon wieder.
Reesli hatte sein Notebook mit in den "Radiostern" gebracht und es in dem Tanzsaal von Osiris, dem "Gitarren-Raum", mit der Anlage verkabelt. Sasch und Osiris ließen ihn eine Weile auflegen. Reesli freute sich sehr darüber. Er zeigte Deon und mir ein Plüsch-Entchen, das er in seiner Jackentasche trug. Das Entchen gab Geräusche von sich, wenn man es knautschte.
Clara erzählte von ihren siebzehn Männern. Mit zweien ist schon wieder Schluß, und vier stehen gegenwärtig zur Besichtigung an.
"Ich will einen vernünftigen Mann mit Bildung", sagte sie.
Ray saß daneben und grinste. Clara trifft sich häufig mit ihm. Als sie darüber klagte, daß ihr jüngst Verflossener im Bett nur an sich selbst denke, meinte Ray:
"Siehste, bei mir kann dir das nicht passieren."
"Vergiß' es", sagte Clara.
Zoë und Clara nennen sich jetzt "die Göttliche" und "der Engel ohne Flügel".
Mitte April war ich im "Read Only Memory". Gegen drei Uhr nachts begegnete mir Edaín. Sie stand neben der Theke, sorgsam geschminkt, mit hochgesteckten Haaren und Lederjacke, und holte sich Kaffee. Sie erzählte mir, daß sie nachts viel Kaffee braucht, um durchzuhalten. Sie bewunderte meine neue Garderobe aus durchsichtigem silbergrauem Crush-Material, grobgestricktes "Techno-Gewebe". Svenson hat mir einen sehr kurzen Pullover in Kastenform mit Dreiviertelärmeln und Stehkragen und ein kurzes Tutu mit Schärpe daraus germacht.
"Das habe ich mir erst kürzlich anfertigen lassen", erzählte ich. "Ich muß mir dauernd neue Kleider machen lassen, weil ich dauernd Ideen habe, und die muß ich umsetzen."
Auf meine Nachfrage erzählte Edaín, daß sie ihr Hochzeitskleid in einem Brautatelier hat anfertigen lassen.
"Das war bestimmt nicht billig", vermutete ich.
"War es auch nicht."
"Ich finde es aber sehr hübsch", meinte ich, "überhaupt nicht kitschig."
"Danke. Das Pentagramm hat die Chefin selber draufgenäht, die hat sich extra dafür noch abends hingesetzt."
"Das ist auch sehr schön geworden."
"Soll ich dir mal was ganz Schönes erzählen?"
"Ja, was gibt es?"
"Kappa wird Vater."
"Herzlichen Glückwunsch", sagte ich und umarmte sie.
"Eigentlich wollte ich erst mit dreißig Kinder, vorher noch auflegen und Veranstaltungen machen, aber nun ist es eben schon soweit."
"Und wenn du Kinder hast, heißt das noch lange nicht, daß du auf Veranstaltungen verzichten mußt."
"Nein, das sowieso nicht. Wir wohnen doch in dem Haus von Kappas Oma. Und die Oma freut sich schon so auf das Kind."
"Ja, dann kümmert die sich darum, das ist doch schön."
Edaín fragte mich, was sie gegen ihre Sucht tun könne. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr raucht sie eine Schachtel Zigaretten täglich, und seit ihre Schwangerschaft bekannt ist, ist es ihr gelungen, auf eine halbe Schachtel zu kommen.
"Das Wichtigste ist der Wille", meinte ich. "Du bist ein Familienmensch und hast viel Verantwortungsgefühl, das wird dir helfen."
Edaín gestattet sich selbst nur noch, zur vollen Stunde zu rauchen; wenn sie es vergißt, darf sie erst wieder zur nächsten vollen Stunde rauchen.
"Das ist eine geschickte Strategie", meinte ich. "Wenn du so weitermachst, schaffst du es wirklich."
Ich fragte sie, weshalb die Zigaretten für sie so wichtig sind und an welches Gefühl das Rauchen sie erinnert.
"Ganz klar - Schnuller", wußte Edaín.
"Dann könntest du dir überlegen, welche Attrappe in Frage kommt", schlug ich vor.
"Na, wie würden die Leute lästern, wenn ich mit einer Kaugummi-Zigarette ankomme?"
"Cool wäre das", fand ich. "Da muß man sich nicht für schämen, im Gegenteil. Womit wir bei einem weiteren Grund für das Rauchen wären - der Unsicherheit ..."
Ich erinnerte mich daran, wie Edaín angestrengt und hektisch nach einer Zigarette gesucht hatte, als ich vor etwa eineinhalb Jahren am DJ-Pult mit ihr sprach.
"Die Leute, die schon wußten, daß ich schwanger bin, sind angekommen und haben mir voll das Horrorzeug erzählt", berichtete Edaín. "'Du kriegst schon noch deine Wochenbett-Depressionen, wart's ab', und so. Und - 'Was fällt dir ein, zu rauchen? Du Verbrecherin an deinem Kind', und so."
"Vorwürfe machst du dir schon selbst genug", meinte ich, "das hat keinen Sinn, dich noch mehr mit Vorwürfen zuzumüllen. Es geht doch vielmehr darum, dich aufzubauen und zu bestärken, daß du das schon schaffen wirst."
"Ich fühle mich auch schon viel wohler, seit ich mit dir geredet habe."
Ein betrunkener Junge kam an, recht aufdringlich, und schien Annäherungsversuche zu unternehmen. Edaín wies ihn in die Schranken und schickte ihn weg.
"Kann es sein, daß du in den letzten Jahren selbstbewußter geworden bist?" fragte ich nachdenklich.
Edaín meinte, sie sei schon immer so gewesen.
"Du hast zwei Seiten", sagte ich.
"Findest du, ich bin eine gespaltene Persönlichkeit?"
"Nein, das bist du nicht. Du bist ein völlig normaler Mensch."
"Also einer von den wenigen hier ..."
"Ach, hier gibt es viele normale Menschen, die meisten. Und fast alle haben nicht nur eine sichere, sondern auch eine unsichere Seite."
"Es kommt halt darauf an, wie überzeugend man sich 'rüberbringt."
"Das habe ich kürzlich in HH. bei 'Stahlwerk' erlebt", erzählte ich. "Da waren dieses Mal Leute bei 'Stahlwerk', die von Industrial nichts verstehen und auch von der Art, dazu zu tanzen, keine Ahnung haben. Und hinter mir waren in einer Nische so ein paar Mädchen, die geglaubt haben, sich über mich lustig machen zu müssen, und die versucht haben, möglichst laut über mich zu lachen. Und als dann ein Mädchen angefangen hat, mich nachzumachen, bin ich aus der Bewegung beim Tanzen heraus auf das Mädchen zugesprungen, habe es im Genick gepackt und geschüttelt und in die Ecke zurückgestoßen."
"Waas? Das hätte ich nie von dir gedacht!"
"Ich hätte das auch nicht unbedingt von mir gedacht. Aber beim Tanzen stehe ich unter Spannung, ich habe Schwung und bin stärker als sonst. Ich muß ausgestrahlt haben, daß es sich nicht lohnt, sich mit mir anzulegen. Seltsamerweise war dann auch sofort Ruhe. Damit habe ich gar nicht gerechnet; ich habe gedacht, jetzt werden die erst recht aggressiv. Aber war nicht."
"Bei dir kommt man aber auch gar nicht auf sowas. Von dir hat man doch das Bild 'klein, zierlich, tut keiner Fliege was zuleide, und wenn doch, hat sie eh keine Chance'. Vielleicht waren die deshalb so perplex."
"Vielleicht war es auch einfach die Entschlossenheit, dieses 'Warte, versuch's nur!'. Ich entwickle eine ungeheure Energie, wenn es darum geht, mich oder andere zu verteidigen."
Wir setzten uns an ein Tischchen. Edaín erzählte, daß sie nach wie vor sehr nervös und hektisch ist und sich viel Streß macht.
"Auch heute schon", meinte sie. "Erstes Mal hier Party ... und kommen Leute? Kommen Leute? Da habe ich mich ganz verrückt gemacht."
"Aber du hast doch so schöne Psycho-Bücher gelesen, das hat doch schon geholfen."
"Schon, aber wenn ich mitten im Streß bin, kann ich nicht nach den Büchern greifen."
Anscheinend hat sie die dort vorgestellten Konzepte nicht so verinnerlicht, wie sie es sich wünschte. Und doch, meinte sie, habe sie etwas gelernt - die Menschen nicht im Ganzen abzuurteilen. Da gebe es ein Mädchen, eine Bekannte von ihr, die eines Tages begonnen habe, gegen sie zu intrigieren, indem sie Edaíns Freundinnen gegenüber behauptet hatte, Edaín würde schlecht über ihre Freundinnen reden - ganz im Stile Ivo Fechtners. Und wie ich damals im Falle Ivo Fechtners, hatte Edaín viel zu tun, ihren Freundinnen klarzumachen, daß es sich um eine Intrige handelte.
"Kann das sein, daß die neidisch auf dich war?" vermutete ich.
Edaín fand das nicht abwegig.
"Eines Tages war ich so wütend auf die", erzählte sie, "da wollte ich auf die losgehen. Ich hatte die Faust schon geballt. Kappa ist von hinten gekommen und hat mich gebremst, sonst hätte ich das wahrgemacht. Und dann habe ich in dem Buch gelesen:
'Gib den Menschen Liebe, und sie kommt zu dir zurück.'
Und ich habe versucht, dem Mädchen Liebe zu senden, in Gedanken. Und dann ist eines Tages ein Mädchen angekommen und hat gesagt, 'ich soll dich grüßen' - von der. Und ich habe gesagt, schön, dann grüße sie auch mal von mir. Und die hat mich angeguckt - 'waas?' - und ich - 'Ja, grüß' sie mal von mir.' Und seitdem ist die Feindschaft weg."
"Ich achte auch immer darauf, über einen Menschen nicht grundsätzlich den Stab zu brechen. Aber wenn mich jemand angegriffen und verletzt hat, ist es für mich sehr anstrengend, dann auch noch andere Seiten an dem Menschen wahrzunehmen und ihn nicht völlig abzuurteilen. Das kostet mich sehr viel Kraft."
Edaín erzählte von einem Ratgeber namens "Das Lola-Prinzip - Die vollkommene Welt" von Egli.
"Da stimmt schon der Titel nicht", meinte ich. "Die Welt ist nicht vollkommen."
"Es hängt ja auch davon ab, wie ich die Welt sehe. Und wenn ich mir sage, für mich ist die Welt perfekt, dann ist sie es. Kappa ist auch für mich - in meinen Augen - der perfekte Mann."
"Aber du liebst ihn doch nicht, weil er perfekt ist, sondern weil er er selbst ist. Du liebst doch ihn als Individuum, ihn als Menschen."
Edaín bestätigte das.
"Für mich ist 'Vollkommenheit' als Begriff ein Abstraktum", fuhr ich fort, "weil es nichts Perfektes gibt. Ich suche auch nicht nach Vollkommenheit. Ich suche nach menschlicher Wärme und Zuwendung und will die auch geben. Ich suche eine tragfähige Beziehung und kann das auch geben."
Edaín ist in der sechsten Woche. Ihre Freundin verstehe etwas von Kinesiologie und wisse deshalb schon, daß es ein Junge werde.
"Wenn ihr euch ein Fotoalbum anschafft, könnt ihr schon die ersten Fotos einkleben, die Ultraschallbilder", meinte ich.
"Haben wir doch schon", erzählte Edaín. "Kappa findet, das Bild sieht nach 'Krieg der Sterne' aus. Deshalb will er unseren Sohn Anakin nennen. Aber wir wissen noch nicht, ob wir beim Standesamt damit durchkommen."
Kappa habe das Kind zuerst Damien Luzifer nennen wollen.
"Ich würde es nicht Luzifer nennen", meinte ich.
"Ach - - Kappa", lächelte Edaín. "Du kennst doch Kappa. Er ist aber schon davon abgekommen."
"Und wie nennt ihr das Kind, wenn es wider Erwarten doch ein Mädchen wird?"
"Maya, habe ich mir überlegt."
Sie wisse schon, was sie tun könne, wenn das Standesamt bei 'Anakin' Schwierigkeiten mache. Sie erzählte, wie es ihr damals gelungen sei, die Backsteinkirche für die Hochzeit zu bekommen:
"Ich habe da angerufen und gefragt, und die haben wissen wollen, wer denn da heiraten will, weil es doch nicht so häufig ist, daß jemand eine Kirche mit tausend Plätzen für eine Hochzeit haben will. Und da habe ich gesagt, ja, meine Wenigkeit - ich heiße Edaín -, und Kappa. Und da haben die erstmal gar nichts gesagt und dann vorsichtig gefragt:
'Kappa, der DJ aus H.?'
Und ich:
'Ja, eben der.'
Und da war auf einmal alles ganz einfach, die haben nur noch gefragt, wann wir heiraten wollen."
"Das ist übel."
"Was?"
"Das finde ich voll übel, wenn man da erst mit irgendeinem Namen ankommen muß, um in der Backsteinkirche heiraten zu können."
"Na, man geht halt manchmal den Weg des geringsten Widerstandes."
"Stimmt, ich bin auch schon oft den Weg des geringsten Widerstandes gegangen."
"Und wenn das beim Standesamt wegen dem Namen Probleme gibt, sage ich auch einfach, daß das das Kind von Kappa ist ..."
"Ich glaube, du kannst den Standesbeamten auch so überzeugen, da brauchst du Kappa nicht für."
Ich erzählte, daß ich früher auch vorhatte, in der Backsteinkirche zu heiraten:
"Wir sind da doch immer aufgetreten, und mir hat die Kirche so gefallen."
Edaín erzählte, daß ihr Stiefvater sie zum Altar geführt hat. Ihren leiblichen Vater hat sie nicht zur Hochzeit eingeladen.
"Wie lange war dein richtiger Vater in der Familie?" erkundigte ich mich.
"Bis ich neun war."
Er ist Alkoholiker und hat, wie Edaín berichtete, inzwischen alles verloren, die Familie, das Haus, die Arbeit und die Gesundheit. Die Mutter sei über zwanzig Jahre mit ihm verheiratet gewesen, habe es aber schon ein halbes Jahr nach der Hochzeit bereut. Sie habe sich nur deswegen nicht von ihm getrennt, weil sie so erzogen worden sei, daß man sich eben nicht scheiden lasse. Der Vater hat im Suff die kleine Edaín über die Stufen einer Treppe gezerrt, so daß sie am Rücken erhebliche Verletzungen erlitten hat. Und die Mutter warf er durch das verschlossene Badezimmerfenster.
"Damals habe ich mich immer noch schuldig gefühlt für sein Verhalten", erzählte Edaín. "Heute weiß ich, ich habe die Narben, aber er hat die Schuld, und diese Schuld behält er für immer, die wird er nie mehr los, mit der muß er leben."
Mit dem Stiefvater, den die Mutter kurz nach der Scheidung heiratete, sei sie "ein Herz und eine Seele", sie fühle sich mit ihm verwandt und betrachte ihn als ihren eigentlichen Papa.
Als ich Edaín erzählte, daß Griseldis auch in einer Suchtfamilie aufwächst und daß ich darüber nachdenke, das Jugendamt zu informieren, meinte Edaín, das Jugendamt würde nichts unternehmen, ehe die Wohnung oder die Kinder nicht sichtbar verwahrlosen. Und ihre Mutter habe immer darauf geachtet, daß nach außen nicht sichtbar wurde, wie sehr der alkoholkranke Vater sich auch danebenbenahm. Im Hause habe alles nach "Heiler Welt" ausgesehen. Edaín schilderte ein co-abhängiges Verhalten der Mutter, die das süchtige Verhalten ihres Mannes indirekt noch förderte, indem sie ihn vor den Folgen bewahrte.
Edaín erzählte von ihrem Sternzeichen und dem ihres Mannes. Sie hoffe, daß ihr Kind ein Schütze wird, das passe gut.
Ich erzählte, daß ich auch gerne heiraten und Kinder haben würde.
"Nur ist das eher unwahrscheinlich", meinte ich.
"Warum?"
"Na, du kennst doch Rafa. Du weißt doch, wie er drauf ist. Du weißt doch, was das für einer ist."
Edaín meinte, sie könne nicht verstehen, weshalb ich nach wie vor jemanden haben will, der mich ablehnt.
"Du bist doch eine Süße", sagte sie, "ich meine, du bist doch eine ganz besonders Hübsche, und ich will nicht wissen, wieviele Männer gerne mit dir zusammen wären."
"Viele ... wahrscheinlich."
"Ja, dann ..."
Ich sagte ihr, daß man mich kritisieren darf und daß man in meiner Anwesenheit auch Rafa kritisieren darf:
"Es geht mir nicht darum, eine Position zu verteidigen. Es geht mir darum, Erkenntnisse zu gewinnen. Ich lege Wert auf die ungeschönte Meinung anderer Menschen."
"Also, wenn das so ist ... ich kenne Rafa und Berenice auch schon eine Weile, und ich denke, die sind so fest zusammen, die trennen sich nicht mehr."
"Ich glaube auch nicht daran, daß die sich trennen. Aber streiten tun sie sich ..."
"Streit gehört zu jeder Beziehung. Kappa und ich streiten uns auch. Ich denke, wenn man sich nie streitet, stimmt etwas mit der Beziehung nicht."
"Streit ist wichtig, das finde ich auch. Es kommt nur darauf an, wie man sich streitet, auf welche Art."
"Am Anfang haben Kappa und ich uns besonders heftig gestritten, auch hinterm DJ-Pult. Dann hat Kappa schließlich gesagt, Angel, ich liebe und verehre dich, aber wenn wir uns streiten, bitte zu Hause, nicht in der Öffentlichkeit. Und seitdem tragen wir das zu Hause aus."
"Es ist schön, daß ihr beide diese Absprache durchhalten könnt."
"Ich finde das auch besser so. Und wenn Rafa und Berenice sich in der Öffentlichkeit streiten, ich denke, das ist dann deren Sache. Ich meine, Grund zum Streit gibt es genug; wenn sie zusammen auf der Bühne stehen, ist das schon ganz schön stressig."
Edaín riet mir, auf jeden Fall nach einer anderen Beziehung Ausschau zu halten:
"Du blockierst dich doch für jemand anderen, wenn du nur an Rafa denkst."
"Es ist mir wichtig, viele Menschen zu kennen und auch näheren Kontakt zu haben, und wenn mir ein Junge begegnet, den ich hübsch und nett finde, achte ich auch immer darauf, den näher kennenzulernen. Ich will mich für andere Menschen immer offenhalten. Das ändert aber nichts daran, daß ich in Rafa den Mann gefunden habe, den ich gesucht habe und daß ich auch keinen anderen will."
"Woher willst du denn wissen, daß es nicht auch einen anderen für dich gibt? Warum sollte es ausgerechnet einer sein, der in SHG. wohnt? Die Welt ist groß, und es gibt sechs Milliarden Menschen."
"Für mich gibt es nur Rafa."
"Warum muß es einer sein, der deine Liebe gar nicht erwidert?"
"Es ist nicht so, daß er die Gefühle, die ich habe, nicht erwidert. In der Vorgeschichte war Einiges, das mir gezeigt hat, daß er etwas für mich empfindet."
"Aber Menschen ändern sich doch so sehr im Laufe der Jahre. Kappa hat sich auch schon unheimlich verändert, seit ich ihn kennengelernt habe. Und vielleicht würdest du Rafa schon nach drei Wochen gar nicht mehr wollen, wenn ihr zusammenkommen würdet."
"Ich kenne ihn zu gut."
Immerhin hat sich Edaíns Verhältnis zu Kappa auch nicht verschlechtert seit dem Anfang ihrer Beziehung, trotz aller Veränderungen. Das könnte eigentlich schon als Beleg ausreichen dafür, daß Veränderungen im Laufe eines Menschenlebens noch lange nicht bedeuten müssen, daß man aufhört, jemanden zu lieben.
Edaín erzählte von einer wichtigen Erfahrung mit Nähe und Zurückweisung:
"Ich bin zwar zehn Jahre jünger als du, aber ich habe auch schon Erfahrungen gemacht."
"Das ist richtig."
"Damals im Reitstall war ein Junge, auf den habe ich total gestanden. Und wenn er etwas zu mir oder über mich gesagt hat, habe ich das gleich auf mich bezogen und so gedeutet, daß er auch auf mich steht. Und ich konnte das überhaupt nicht fassen, als er eines Tages eine andere als Freundin hatte. Und Jahre später habe ich ihn noch einmal bei einem Turnier getroffen. Ich hatte einen Freund, er eine Freundin. Und er ist auf mich zugekommen und hat gesagt:
'Du siehst heute aber toll aus.'
Da habe ich überhaupt nicht mit gerechnet. Ich hatte ihn innerlich losgelassen, und da auf einmal wurde ich für ihn interessant. Vielleicht solltest du Rafa auch innerlich loslassen. Ich meine, er weiß, du bist immer für ihn da, auf dich kann er immer zurückgreifen, und es geht vielleicht darum, ihm das Gefühl zu vermitteln, daß du eben nicht mehr für ihn da bist."
"Ich versuche, das für mich zu übersetzen ... Wichtig ist, daß ich niemals gegen meine Gefühle handle. Ich folge immer meinen Gefühlen."
Ich erzählte, daß ich mir auch darüber Gedanken gemacht habe, ob ich vielleicht Rafas Verhalten beschönige oder zu sehr auf mich beziehe:
"Ich achte immer sehr darauf, nichts zu beschönigen und auch nicht anders darzustellen, als es wirklich ist. Wenn ich etwas aufschreibe, stelle ich es eher noch negativer und pessimistischer dar, als es gewesen ist, damit ich nicht anfange, etwas zu beschönigen."
Edaín warnte:
"Rafa ist sehr schwierig, es ist nicht so ohne Weiteres möglich, mit ihm fertigzuwerden."
"Ich kann es", war ich sicher. "Solange er vor mir wegläuft und sich von mir fernhält, hat er die Oberhand. Aber wenn er sich auf mich einläßt, habe ich die Oberhand."
"Weshalb betrachtest du das als 'weglaufen'? Es kann doch auch einfach nur sein, daß er kein Interesse an dir hat."
"Rafa ist nicht gegangen, weil er mich nicht liebt. Er hat immer wieder gesagt, daß er Angst vor mir hat."
Edaín meinte, daß Rafa mich doch nun wirklich nicht verdient hat, wenn man sein Verhalten betrachtet.
"Er hat mich auch nicht verdient", bestätigte ich. "Er hat mich ganz bestimmt nicht verdient."
"Aber dann ist doch alles klar", freute sich Edaín. "Dann kannst du doch losgehen und dir jemand anderen suchen."
"Er verdient mich zwar nicht - ganz bestimmt nicht -, aber ich liebe ihn. Und ich liebe ihn wirklich, und nur ihn."
"Aber dann ist das ja bedingungslose Liebe."
"Das stimmt, ich liebe Rafa bedingungslos."
Edaíns Staunen über die Bedingungslosigkeit meiner Liebe läßt ahnen, daß Liebe für sie nicht bedingungslos ist, sondern daß Kappa dafür eine Gegenleistung zu erbringen hat, wie etwa Verläßlichkeit und Zuwendung. Wenn er diese Leistung nicht erbringt, würde das folglich bedeuten, daß ihre Liebe zu ihm erlischt.
"Aber du brauchst doch auch mal jemanden", meinte sie. "Das ist doch schlimm, fast ohne Körperkontakt zu leben."
"Ich lebe ohne jeden Körperkontakt."
"Hä?" fragte Edaín außer sich und faßte mir prüfend an die Stirn. "Hä? Also, wenn du eines Tages mit dem Nonnenschleier ankommst, kriegst du aber was auf den Pöter!"
"Ich bin das gewohnt. Ich habe Rafa vierzehn Jahre lang gesucht und auch nichts anderes gehabt. Und als ich ihn dann gefunden habe und ihn in den Armen gehalten habe, habe ich gedacht, hier bin ich, hier bleibe ich, und hier gehe ich nie mehr weg."
"Aber er will dich doch nicht."
"Rafa lehnt mich ab, das ist richtig."
"Und was willst du machen? Jeder braucht das doch mal ..."
"Ich tue ja, was ich kann. Ich habe Sehnsucht nach Nähe, aber alles ist bezogen auf Rafa. Ich sehne mich nur nach ihm. Und solange ich ihn nicht erreichen kann, achte ich wenigstens darauf, so gut wie möglich für mich zu sorgen und mir alles zu gönnen, was möglich ist."
Ich erzählte, daß ich mir zu helfen versuche, indem ich das, was mir passiert, kreativ verarbeite in Text und Bild.
"Es gibt immer etwas, was einem fehlt", meinte ich. "Ich habe vieles, was wichtig ist, Gesundheit und eine gute Stelle, nur habe ich eben das Wichtigste nicht."
Edaín scheinen die Ratgeber, die sie bisher gelesen hat, wirklich geholfen zu haben. Ratgeberliteratur betrachte ich ansonsten mit einer gewissen Skepsis. Wenn jemand vorgibt, für Probleme Patentlösungen bereitzuhalten, die für alle Menschen gleichermaßen gelten, ist das in meinen Augen kein sachlicher Ansatz und mit Vorsicht zu genießen.
Mir ist ein Ratgeber in die Hände gefallen, der nicht viel anders ist als viele andere Ratgeber und mir ebenso zweifelhaft erscheint. Er hat den tröstlichen Titel "Reg' dich nicht auf" (Carlson, Bailey) und verspricht ein streßfreies Dasein. Besonders problematisch wirkt auf mich die verallgemeinernde Beschreibung der Kindheit:

Als Kinder waren wir voller Lebensfreude, spielten oder tollten den ganzen Tag mit unseren Freunden herum. Wir wandten uns mit nie versiegender Begeisterung ständig neuen Aktivitäten zu. Versteckspiele boten die Gelegenheit zu unbegrenzter Phantasie, Erkundung und Neugier. Uns schien das, was wir gerade taten, nie langweilig zu werden. Die meiste Zeit war unsere Kindheit geprägt von positiven Gefühlen - Freude, Lachen, Neugier, Staunen, Selbstvertrauen und Abenteuerlust. Wir hatten noch nicht gelernt, uns zu sorgen, jemandem böse zu sein oder Vergangenes zu bedauern. Die meisten Kinder sind frei von Streß, voller Verwunderung und Neugier, und leiden selten unter Langeweile. Viele verfügen über ungeheure Energien, lieben bedingungslos und scheinen grenzenloses Vertrauen zu haben sowie eine unschuldige Lebenseinstellung, um die viele Erwachsenen sie beneiden. Diese unverdorbenen Kinder leben aus einer mentalen Verfassung heraus, die wir Vertreter der Verstandespsychologie gerne als geistige Gesundheit bezeichnen. Sie leben ganz natürlich im Hier und Jetzt.

Daß Kinder "voller Lebensfreude" sind, wenn ihre Eltern sich täglich streiten, wie sie "mit Freunden herumtollen" können, wenn sie gar keine haben, wie die "den ganzen Tag" mit ihren Freunden herumtollen können, wenn sie ihre Geschwister hüten und den Haushalt führen müssen, wie sie "Abenteuerlust" entwickeln sollen, wenn der betrunkene Vater jederzeit aufspringen und Gegenstände nach ihnen werfen kann, daß ihre Kindheit von "positiven Gefühlen" geprägt sein soll, wenn sie täglich von ihren Klassenkameraden verprügelt, erpreßt und bestohlen werden oder täglich Angst haben müssen, in der Schule zu versagen, daß sie "bedingungslos lieben" sollen, wenn weder Vater noch Mutter sie beachten - es muß wie eine Verhöhnung klingen für all diejenigen, die als Kinder Leid erfahren. Sie müssen den Eindruck bekommen, die einzigen zu sein, deren Kindheit nicht aus eitel Sonnenschein besteht.
Von den Autoren des Ratgebers wird die Kindheit als heile Enklave in einer ansonsten streßgeplagten Welt dargestellt, sozusagen wachsen die Kinder ohne Berührung mit der Wirklichkeit auf, als lebten sie auf einem anderen Planeten. Daß die Erwachsenen - auch ihre Erziehungsberechtigten - Streß und Sorgen haben, nehmen die Kinder aus Sicht der Autoren nicht wahr, sie werden davon weder berührt noch beeinträchtigt.
Auf traumatisierende Erlebnisse, die Kinder durchleiden, wird nicht eingegangen, gerade, als gebe es sie nicht, oder es handelte sich um unbedeutende Einzelfälle. Schläge von den Eltern, Leistungsdruck, Mobbing in der Schule, Hänseleien, Kränkungen, Beschimpfungen, Entwertungen sind augenscheinlich nach Ansicht der Autoren in der Kindheit entweder gar nicht vorhanden, oder sie kommen in einem Kinderleben so selten vor, daß das Erwähnen sich nicht lohnt. Natürlich ist es auch möglich, daß die Autoren die Schattenseiten ihrer eigenen Kindheit verdrängt haben und diese Zeit unkritisch idealisieren.
Die Verarbeitungsmechanismen, die ein Leben lang das Verhalten bestimmen, werden zum Teil genetisch mitgegeben und in den ersten Lebensjahren weitgehend geprägt und ausgeformt, das gehört inzwischen zu den anerkannten Tatsachen in der psychologischen Wissenschaft. Die Behauptung, Sorgen würden erst im Erwachsenenalter auftreten, steht dazu im Widerspruch. In vereinfachender Weise führen die Autoren Streß und Aufregung im Leben eines Menschen auf dessen Zeiteinteilung zurück. Welche unbewältigten Ängste, Konflikte und Verlusterlebnisse aus früheren Zeiten in den heutigen Streßsituationen eine Rolle spielen, die Selbstanschuldigungen, Angst vor Ablehnung und Liebesentzug, Harmoniebedürfnis, Selbstentwertung und Aggressionen zur Folge haben können, bleibt außen vor. Diese verzerrte, mit der Wirklichkeit nicht im Einklang stehende Sichtweise regt mich auf - analog zum Titel -, zumal die Autoren behaupten, den Streß im Leben eines Menschen nicht nur erklären zu können, sondern ihn auch noch mit pauschalisierenden Patentrezepten beseitigen zu können.
Halbwissenschaftlichen Ratgebern stehe ich ablehnend gegenüber, wenn sie schablonenhafte Lösungen versprechen und über die Einmaligkeit des menschlichen Schicksals hinweggehen. Statt einer Anleitung zur individuellen Lösungsfindung werden in solchen Büchern starre Regeln vorgegeben, etwa "10-Punkte-Programme", durch die jedes Problem lösbar sein soll, ob es sich um Einsamkeit, Unsicherheit oder Übergewicht handelt. Hier wird nicht nach den Hintergründen gefragt, die Probleme werden nur übertüncht, es handelt sich um Scheinlösungen.
Typischerweise kommen solche Ratgeber aus Amerika. Eine ganze Industrie lebt davon. Die Meinungsbildung für das Volk geht in die Richtung des altbekannten "Don't worry, be happy" - und frage nicht weiter nach. Menschen, die es nicht genauer wissen wollen, sind bequem und formbar. Sie fügen sich auch in eine ausbeuterische Gesellschaft ein und glauben, es gehe ihnen dort gut, wenn sie täglich ihre positive Autosuggestion praktizieren. Der Leitsatz "Don't worry, be happy" hat durchaus eine politische Dimension.
Der Weg ist kurz zu der Perfidie, in texanischen Todeszellen Schilder anzubringen, auf denen ein leuchtendgelber Smily rät:
"Don't worry, be happy!"
Constri erzählte von ihren gegensätzlichen Kommilitoninnen Kyra und Giulietta. Beide kennt sie sehr gut und auch schon seit Jahren. Giulietta ist in unserem Freundeskreis bekannt für ihren zerstörerischen, entwertenden Pessimismus. Sie hat die Eigenart, den Dingen, den Menschen, den Beziehungen und auch sich selbst keine Chance zu geben und alles beim leisesten Anflug eines Versagens insgesamt abzuurteilen. Danach kommt das unvermeidliche Klagen über die Grausamkeit des Schicksals, die Schlechtigkeit der Welt an sich, die Unfähigkeit der anderen und ihre eigene Unfähigkeit. Sich selbst mißt sie keinen eigenen Wert bei; sie macht ihren Selbstwert davon abhängig, ob sie über einen Lebensgefährten verfügt:
"Ich habe keinen Mann, also bin ich auch nichts."
Daß das Scheitern all ihrer Liebesbeziehungen mit ihrer eigenen Sichtweise und ihrem eigenen Verhalten zu tun haben könnte, kann sie sich nicht vorstellen und weist diese Möglichkeit entrüstet von sich, wenn man eine solche Vermutung wagt.
Daß sie selbst über besondere Gaben verfügt - ein hübsches Aussehen, Charme und künstlerisches Talent -, bedeutet ihr angeblich nichts; sie weist es sogar zurück, wenn man sie darauf anspricht.
"Mir geht es jedesmal schlecht, wenn ich sie treffe", erzählte Constri. "Es zieht mich 'runter."
"Sie lädt ihren Frust auf dir ab", deutete ich. "Giulietta kann man nicht helfen, weil sie sich nicht helfen lassen will; sie tut alles, um zu verhindern, daß sich an ihrer Lage etwas ändert."
Ich nahm an, daß Giulietta ihr zerstörerisches Verhalten von ihrer Mutter gelernt hat, die die Tochter von Anfang an entwertet und als Abladeplatz für ihr eigenes Gejammer verwendet hat. Und von der Mutter könne Giulietta sich nicht lösen.
"Giulietta telefoniert doch fast jeden Tag mit ihrer Mutter und läßt sich von ihr volljammern", bestätigte Constri. "Und Giulietta erzählt ihrer Mutter alles, jede Einzelheit aus ihrem Privatleben ..."
"Da ist es doch kein Wunder, daß die Männer Reißaus nehmen", meinte ich.
Kyra versucht nach Kräften, das Gute an der Welt und an ihrem Leben zu sehen, dabei leidet sie an einer lebensbedrohlichen Form der Hepatitis. Sogar in ihrer Krankheit sieht sie eine Chance, denn während einer Kur hat sie ihren jetzigen Lebensgefährten kennengelernt, mit dem sie glücklich ist.
Als Constri mit Kyra und Giulietta in der Studentencafeteria saß, fiel ihr das gegensätzliche Verhalten der beiden besonders auf. Kyra hatte eine ermutigende, lebensvolle Ausstrahlung und wollte sich freuen und Spaß haben. Giulietta hatte eine bremsende, lähmende Ausstrahlung und schien alle Freude um sich her ersticken zu wollen. Sie warf Constri und Kyra sogar vor, sie könne es nicht ertragen, wenn die beiden sich freuen und lachen, wo es ihr selber wegen ihres Liebeskummers doch so schlecht gehe.
Giulietta hat es vor allem auf Opernsänger abgesehen. Und ein Baß soll es schon sein. Ich weiß nicht, mit dem wievielten Baß sie inzwischen ihre Schäferstündchen hat; jedenfalls bleibt es meistens auch bei Schäferstündchen.
Clara hat inzwischen den vierten - oder fünften? - Mann in Testung, wieder einmal mit Vermögen, allerdings auch mit einer behinderten Hand.
"Er würde sie auf Händen tragen - wenn er könnte!" lästerte Ray.
Clara hatte schon Heiratspläne, als sie ihn gerade zehn Tage kannte.
"Clara tut genau das, was ihre Mutter schon immer von ihr wollte", meinte ich dazu. "Sie sucht ihren Mann nur nach Einkommen und Renommé aus."
Clara hat vor, zu keiner Veranstaltung mehr zu gehen, wegen ihres neuen Freundes. Wir vermuten, daß sie sich entweder zu fein geworden ist für unsere Parties und Tanzläden oder daß sie sich nicht traut, sich mit dem leicht behinderten Freund in der Öffentlichkeit zu zeigen.
"Das ist ein entwertendes Verhalten", meinte ich. "Sie entwertet ihre jahrelang bestehenden Freundschaften und damit auch ihre Freunde."
Und sie entwertet ihren Freund, wenn sie ihn nicht mitnimmt, nur weil er leicht behindert ist.
Am Telefon hat Saara erzählt, daß sie aus dem Fenster des Handyladens, wo sie arbeitet, Rafa und Berenice hat vorbeiwandern sehen. Sie sollen sich beide schick gemacht haben, Rafa mit blonden Strähnchen. Saara war sich aber nicht ganz sicher, ob es wirklich die beiden gewesen sind.
Mit Merle war ich im "Mute" bei einem Konzert von Saga. Dort begegneten wir Gabrielle, die uns ihren jetzigen Freund vorstellte, einen großen, schlanken Jungen mit Pferdeschwanz. Gabrielle erzählte, daß sie noch immer studiert und sich bisher nicht dazu durchringen konnte, das Lehramt zu wählen, obwohl es in diesem Bereich sehr gute Stellenchancen gibt. Sie bedient in einem feinen Restaurant und bekommt dort mehr Trinkgeld, als ihr regulärer Verdienst beträgt.
Von Xentrix hat sie sich getrennt, weil man sich in den sechs Jahren ihrer Beziehung auseinandergelebt habe.
Im "Lost Sounds" erzählte mir Velroe, wie es zu seiner Trennung von Hytania gekommen sei. Er meinte, als sie ihn habe heiraten wollen, habe er gemerkt, daß es doch nicht das sei, was er wolle. Er sei zu einer anderen Frau gezogen und von dieser inzwischen auch wieder getrennt. Er genieße jetzt das Single-Dasein.
Velroe war es nicht recht, daß ich Hytania von seinem früheren Image im "Exil" erzählt habe. Zuerst wollte er das gar nicht glauben:
"Alle sprechen mich an und erzählen mir, was für einen schlechten Ruf ich im 'Elizium' gehabt habe."
"Nicht im 'Elizium'", korrigierte ich. "Im 'Exil'. Und das habe ich Hytania auch so erzählt."
"Aber das ist doch schon so lange her ..."
"Stimmt. Aber du hattest dort wirklich einen sehr schlechten Ruf, als Frauenheld und Schürzenjäger. Und du hast auch etwas dafür getan. Du hast dir diesen Ruf wirklich verdient."
"Aber daß ich damals so war, heißt doch nicht, daß ich heute auch noch so bin."
"Nein, das heißt es nicht. Aber damals warst du wirklich so."
Nun war Velroe etwas beruhigt. Ihm waren wohl seine damaligen Untaten wieder eingefallen.
Nina war auch im "Lost Sounds" und erzählte, daß Roman sie nicht begleiten könne, weil er in stationärer Behandlung in der Psychiatrie sei. In der Künstlerwerkstatt für psychisch Kranke, wo Roman ein begeistertes Mitglied war, habe es Streit gegeben.
"Der ist da bestimmt aus demselben Grund 'rausgeflogen, aus dem er auch bei allen Kollegien 'rausgeflogen ist", vermutete ich. "Wegen seiner Persönlichkeitsstörung nämlich. Der kommt in keiner Gruppenstruktur zurecht."
"Immerhin, wir sind zusammen."
"Ja, beziehungsfähig ist der, das ist wahr, und er leidet auch erheblich unter seinen Defiziten. Der will etwas ändern."
"Der kann sich doch auch weiterentwickeln."
"Auf jeden Fall."
"Der hat sich auch schon weiterentwickelt."
"Ja, das glaube ich."
In dem kommenden Tagen meldete Rafa sich erneut in seinem Online-Gästebuch zu Wort und warb für seinen Chatroom, der freilich nur mit Password ereichbar ist:

Nach mehr als zweimonatigem Bestehen der W.E-Hausseite im Internetz danken wir allen Hörern für ihre Beteiligung. Weiterhin legen wir Ihnen die Benutzung des "Gespräches am Puls der Zeit" an Ihr Herz. Hier sollen Sie schreiben, denken und kommunizieren, um so die Welt zu verändern. Es ist an der Zeit! Mit freundlichen Grüßen ... W.E

Constri hat Derek beim Abendessen im Restaurant auf seine Eifersucht mir gegenüber angesprochen. Derek bekommt immer wieder zu spüren, wie innig die Beziehung zwischen Constri und mir ist, und er kann sich dadurch an den Rand gedrängt fühlen. Derek meinte jedoch, er sei gar nicht eifersüchtig. Constri fragte ihn, was er denn an mir besonders leiden könne?
"Die redet so klar", antwortete er. "Aber das ist es gleichzeitig auch, was mich nervt."
Ende April war ich bei Danielle und ihrem Freund Mike zu Besuch, auch Saara war dort. Danielle und Mike haben eine größere Wohnung bezogen. Wir haben Danielles selbstgebackenen Zitronenkuchen gegessen und nachher sieben Runden "Elfer raus!" gespielt. Wir haben über seltsame Namen geredet, und ich erzählte, daß ich mir früher lauter seltsame Namen ausgedacht habe - "Tieffried", "Hochfried", "Hoffried", "Vierkantschlüsselfried" und "Hinrich Tung".
Danielle weiß noch nicht, ob ihr Kind ein Junge oder ein Mädchen wird, und sie weiß auch noch nicht, wie sie es nennen will. Manche Namen mag man nur deshalb nicht, weil Leute so heißen, die man nicht mag. Den Namen "Ella" mag ich nicht, weil er mich an eine Nachbarin erinnert, die Constri und mich öfters im Treppenhaus beschimpft hat, als wir vor vierzehn Jahren in einer verrufenen Gegend wohnten. Diese Nachbarin war etwa fünfzig Jahre alt und laut und grobschlächtig. Eines Nachts wurde sie von ihrer schwergewichtigen Freundin die Treppe hinaufgeführt. Beide hatten deutliche Schlagseite und waren "gut abgefüllt". Weil die Nachbarin mit dem Gehen erhebliche Schwierigkeiten hatte, wurde sie von ihrer Freundin immer wieder aufgemuntert:
"Du schaffst es, Ella! Ella, du schaffst es!"
Bei "Stahlwerk" erzählte Sofie, Rega werde zu seiner jetzigen Freundin Casyle nach F. ziehen. Rega versicherte, er habe nie vorgehabt, deswegen "Stahlwerk" aufzugeben; er werde eigens zu diesen Veranstaltungen nach HH. kommen. Zu Cyra sagte ich über Rega:
"Er sorgt dafür, daß wir hier nicht untergehen!"
Cyra mochte Rega gleich, als ich ihn ihr vorstellte:
"Das ist aber ein Netter!"
Rega scheint mit Casyle sein Glück gefunden zu haben. Er wirkt inzwischen gereifter und erwachsener auf mich, hat aber sein jungenhaftes Aussehen behalten. Er trägt meistens waghalsige Gummisachen und durchsichtige schwarze T-Shirts, irgendwo zwischen Techno-Look und "verrucht".
Cyra war kürzlich erst in HH., um Hal zu besuchen. Hal stammt aus Irland, wohnte bisher in London und ist jetzt nach HH. gezogen, weil er hier bessere Bedingungen zum Musizieren und Touren vorfindet. Er hat den Modebegriff "Future Pop" geprägt, den er auch den Bands Apoptygma Berzerk und Covenant zuordnet. In der elektronischen Musikrichtung "Future Pop" verbindet sich Melancholie mit einer positiven Lebenseinstellung.
Hagan war mit Tamina bei "Stahlwerk". Tamina ist seit Kurzem mit Hagan zusammen und hat das Gefühl, den Verlust von Sasch allmählich überwunden zu haben.
"Letztes Mal im 'Lost Sounds' war ich so breit", erinnerte sich Hagen. "Und jetzt bin ich dabei, schon wieder so breit zu werden."
Tarek war das erste Mal bei "Stahlwerk" - und hell begeistert. So etwas Gutes habe er noch gar nie erlebt.
Darien war viel auf der Tanzfläche. Er hat fast keine Bewegungseinschränkungen, allerdings sind sein rechter Arm und sein rechtes Knie weitgehend taub.
"Ich muß jetzt immer zur Krankengymnastik", erzählte er, "und ich kriege jetzt auch noch Massagen. Das ist ganz schön anstrengend, Patient zu sein."
Er staunt, was das alles kostet:
"Ich bin ja privat versichert und kriege immer die ganzen Rechnungen."
Und die Kasse muß alles bezahlen.
Nach der Anschlußheilbehandlung im Winter war Darien noch einmal am Meer, geschäftlich. Obwohl es ziemlich kalt war, entschied Darien gemeinsam mit einem Bekannten:
"Jetzt gehen wir ins Wasser."
Sie zogen ihre Kleider aus und badeten, dann zogen sie sich ohne Abtrocknen wieder an. Darien duscht auch zu Hause fast immer kalt, ganz selten lauwarm.
Auf der Arbeit fühlt Darien sich nicht wohl; er hat den Eindruck, daß er mit seinen Kollegen nicht auf einen Nenner kommt:
"Die wollen alle nicht mit mir zusammenarbeiten."
"Wieso, weshalb sollten die mit dir nicht zusammenarbeiten wollen?"
Darien begründete das zunächst damit, daß er sich mit Linux noch nicht so gut auskenne und sich in das System erst einarbeiten müsse, weil er sonst vorwiegend mit Linux gearbeitet hat. Erst nach genauerem Nachfragen kam das in dem Betrieb herrschende Beziehungsmuster zum Vorschein, ebenso die Suchtstruktur:
"Na, erstmal - ich rauche nicht", erzählte Darien. "Und die treffen sich immer zum Rauchen und Kaffeetrinken, das hält die zusammen. Und dann sind die immer so euphorisch ... das sind Leute, die sagen:
'Oh, geht's mir schlecht, weil ich am Wochenende arbeiten muß!'
Die sind noch nie krank gewesen ..."
"Die sind wohl recht oberflächlich."
"Die können das nicht verstehen, daß ich pünktlich Feierabend mache. Die bleiben dann oft noch bis zum Abend da und trinken Kaffee und labern irgendwelches Zeug. Ich verstehe gar nicht, wie die das schaffen, zwischen den Zeilen noch so viel belanglosen Smalltalk zu produzieren."
"Ganz einfach, die arbeiten nicht effektiv", vermutete ich. "Du arbeitest viel effektiver, weil du keine Zeit damit verschwendest, zwischendurch irgendwelches Zeug zu reden."
"Verglichen mit mir, schaffen die viel weniger in derselben Zeit", gestand Darien sich zu.
"Diese Leute, die abends noch in der Firma herumhängen, tun das erstens, weil sie vor lauter Gelaber ihre Tagesarbeit nicht geschafft haben, und zweitens tun sie es, weil sie mit sich selbst nichts anzufangen wissen. Und du hast wenigstens endlich begriffen, daß es außer dem Arbeitsleben auch noch ein Leben gibt."
"Ich brauche meine Freizeit, um Kraft zu schöpfen und zur Ruhe zu kommen."
"Genau, es geht darum, daß du dich um dich kümmerst. Eigentlich ist diese Krankheit auch eine Chance, irgendwo."
"Auf jeden Fall."
"Du hast doch vorher von deinem Leben fast gar nichts gehabt", meinte ich. "Und jetzt nimmst du dir mehr Zeit für dich und kannst aus deinem Leben auch viel mehr machen."
"Ich habe noch nicht einmal die Hälfte meines Berufslebens hinter mir, und ich will die andere Hälfte auch noch schaffen."
"Ein Wasser für Darien!" rief Heyro von der Bar her.
Darien verzichtet inzwischen völlig auf Alkohol und Zigaretten.
"Wenn du seelischen Streß hast, weil das Betriebsklima nicht stimmt, ist das auch ungünstig für dein Abwehrsystem", meinte ich. "Dann solltest du dir möglichst bald überlegen, wie daran etwas zu ändern ist."
"Einiges geht nicht zu ändern", war Darien sicher. "Man kann aber damit leben, wenn man es als temporäre Sache betrachtet."
"Das heißt im Grunde, du müßtest irgendwo anders hin."
Darien hat den Kontakt zu seiner Familie nicht mehr aufgenommen, und seine Familie hat sich auch nicht mehr bei ihm gemeldet. Sein Telefon nimmt er immer noch nicht ab, läßt aber wenigstens den Anrufbeantworter an.
"Und besteht die Möglichkeit, daß du dann auch zurückrufst?" erkundigte ich mich. "Es hat nämlich auch schon Phasen gegeben, wo das nicht ging."
"Na, wenn ich nach zwölf, vierzehn Stunden von der Arbeit nach Hause komme ..."
"Wieso, ich denke, du gehst jetzt immer pünktlich?"
"Ja, aber ich habe morgens noch zweimal die Woche Krankengymnastik ... und wenn ich dann nach Hause komme, muß ich erstmal Haushalt machen ..."
Freizeit und Kontakte gebe es dennoch:
"Ich bin ja hier."
"Das ist auch gut, daß du hier bist."
"Ja, das ist wichtig. Einmal im Monat - und das reicht dann auch. Man hat eben nicht so viel Zeit, wenn man solche Wehwehchen hat."
Im Alltag lebt er wie ein Einsiedler.
"Das ist nicht gut", mahnte ich. "Freunde sind wichtig."
"Ja, die sind wichtig", bestätigte Darien, "aber ich bin gar nicht ich selber, ich muß erst mal wieder zu mir kommen, und ich denke, solange ich so neben mir stehe, bin ich für Freunde nicht so das Tolle."
"Aber du mußt doch nicht perfekt sein, um deine Freunde zu treffen. Wir sind doch alle nicht perfekt."
"Stimmt, sonst würden wir nicht so schräge Musik hören."
"Eben. Und was die Begriffe 'Perfektion' und 'Vollkommenheit' angeht - mir sind schon mehrere Menschen begegnet, für die 'Perfektion' sehr wichtig ist, und die hatten alle eines gemeinsam: ein Selbstwertproblem."
"Also, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht, und da denkt man dann auch über seine Werte nach."
"Bevor aber diese äußerlichen Werte kommen - 'Was kann ich?', 'Wie gut bin ich?' -, muß noch etwas ganz anderes stehen: daß man sich selbst so annimmt, wie man wirklich ist, nicht wie man sein könnte."
"Das ist aber nicht immer so einfach."
Darien scheint sich selbst als Gegenstand zu betrachten, der nur durch seine Verwendbarkeit an Wert gewinnt oder verliert. Die Wertschätzung seiner selbst nur um seiner selbst willen - das scheint Darien sich nur schwer vorstellen zu können.
In seiner Internet-Domain hat Darien noch kein Gästebuch installiert:
"Auf die Seite kommt ja sowieso keiner."
"Also, ich mache das so, daß ich meine Domain so weit wie möglich verbreite."
"Na, bei mir fehlt noch zuviel an dem Produkt."
"Ich habe auch jahrelange Vorarbeit gebraucht."
"Ja."
"Das sind zwei Romane, und den einen habe ich schon 1977 konzipiert", erzählte ich.
Auf der Heimfahrt gab es Frühstück in einem Autobahnrasthaus. Ich holte mir Hühnersuppe; die esse ich zur Zeit besonders gerne. Wir trödelten gemeinsam vor uns hin, bis die helle Sonne schien und ganze Busladungen von Senioren die Toiletten blockierten. Jetzt endlich war ich wach genug, um sicher nach Hause zu fahren.
In einem Szene-Magazin findet sich, wie Rafa in seiner Domain anmerkt, "wohl eines der hintergründigsten und vorbildlichsten Interviews der letzten 2 Jahre". Der Interviewer schreibt, Anfang der Neunziger Jahre habe man Rafas Versuch, die Neue Deutsche Welle wiederzubeleben, bestenfalls belächelt, heute erreiche W.E trotz der Internet-Tauschbörse "Napster" beachtliche Verkaufszahlen und habe viele hartnäckige Fans. Rafa habe die Fragen im Interview "mit der gewohnten Ernsthaftigkeit" beantwortet.
Rafa erklärt die Namensänderung von "Feindsender" in "W.E" dieses Mal damit, daß das Ziel von "Feindsender" erreicht sei und daß deshalb dieses ursprüngliche Projekt nicht mehr existiere. Den wahren Grund - Ärger mit dem Label - nennt Rafa nicht.
Für ihn sei es dasselbe, vor zehn oder vor mehreren tausend Leuten zu spielen, wenn die "Qualität" des Publikums stimme, und diese sei in L. "sehr hoch anzusiedeln".
Der Titel "1000 Tage" wird vom Interviewer mit "Grand Prix"-Hits verglichen. Rafa meint dazu, mit dem "Grand Prix" habe man nichts zu schaffen, man vertrete deutsche Kultur.
Auf die Frage, ob der Text von "1000 Tage" ernst gemeint sei, entgegnet Rafa:
"In welcher Hinsicht könnte der Text von '1000 Tage' denn nicht ernst gemeint sein? Liebe ist ein ernstes Thema."
Lobend wird vom Interviewer erwähnt, daß es Rafa darum geht, Inhalte zu vermitteln und daß er auf seiner Homepage allerlei gute Ratschläge gibt und sich für den Erhalt der deutschen Sprache einsetzt.
"Die Einhaltung der deutschen Sprache sehen wir auf dieser Basis als eine Selbstverständlichkeit an", meint Rafa dazu in falschem Deutsch und baut mit "Basis" ein Fremdwort ein - statt den deutschen Ausdruck "Grundlage" zu verwenden.
Auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß Rafa ein Blümchen-Konzert besucht hat, meint er:
"Wir sind für jede Art von Kunst und Kultur offen, besonders wenn dies auch noch in der richtigen Sprache vorgetragen wird, und da dieses Konzert leider zu den letzten Blümchen-Auftritten zählte, ist es soweit gekommen."
Auf die Frage, was denn nun aus dem angekündigten Album geworden ist, gibt Rafa eine formelhaft wirkende Antwort:
"Wir arbeiten mit Hochdruck an der neuen Sendung. Wir bitten den Hörer, sich noch etwas zu gedulden. Jede Sekunde wird sich nur in Qualität widerspiegeln."
In seiner Rezension zu Rafas MCD "VW Käfer & 1000 Tage" in der März-Ausgabe des Magazins hat der Interviewer die MDC insgesamt gelobt, den Titel "1000 Tage" jedoch sehr kritisch betrachtet:
"Komplett passen muß ich beim zweiten Titelsong des Werkes, '1000 Tage', einer Mischung aus deutschem Schlager und ultraseichtem Synthi-Pop. Riecht zwar stark nach Vera...ung, macht den Song aber auch nicht erträglicher."
Nun hat der Interviewer die Antwort - Rafa meint den Titel ernst.
Vielleicht ist ihm die Kritik in den Worten des Interviewers nicht bewußt geworden, sonst hätte er das Interview wohl nicht als so "vorbildlich" bezeichnet.
Auf der Domain eines Fans findet sich ein weiteres Interview, dieses Mal mit Dolf.
"Die Texte fallen hauptsächlich in das Aufgabengebiet von Honey", berichtet Dolf. "Eine Verarbeitung persönlicher Substanzen steht auf der Basis eines Radiosenders natürlich absolut im Hintergrund und vermindert jede Objektivität. Da wir den Hörer, neben der Unterhaltung, vordergründig informieren wollen, suchen wir unsere Themen vorwiegend in dafür prädestinierten Quellen."
Dolf spart nicht mit Eigenlob. Auf die Frage, welche CD gerade in seinem CD-Player liegt, antwortet er:
"Sehr schöne Frage ... Moment, muß ich nachschauen ... W.E - 'VW Käfer & 1000 Tage'."
Auch als musikalisches Vorbild nennt er W.E.
Mein Friseur Mauro kommentiert das, was Rafa musikalisch abliefert, mit:
"Nichtssagend."
Anfang Mai meldete sich Cielle über SMS. Ich rief sie vom Nachtdienst aus an, und sie erzählte mir, daß sie wieder einmal eine Krise hat. Ich erfuhr, daß sie als Kind von ihrem Stiefvater mißhandelt wurde und daß man ihr eingeredet habe, daran selbst schuld zu sein. Ihr Störungsbild besteht nun darin, sich in unterschiedlichen Streßsituationen zu schneiden und an Selbstmord zu denken.
"Du bist eben nicht schuld", sagte ich. "Der Täter ist schuld und sonst keiner."
Cielle hatte mit Cyra schon über ihre Krise gesprochen:
"Cyra hat mir zugehört."
"Und das hat dir geholfen?"
"Das war schon ganz gut, ja."
"Wo ist Cyra denn jetzt?"
"Die ist im 'Reentry', auflegen."
Ich riet Cielle, nicht alleine zu bleiben. Sie hatte den Einfall, bei ihrer Schwester zu übernachten, die in der Nähe wohnte.
Ich teilte Cyra per SMS mit, daß Cielle Selbstmordgedanken hat.
Im Dienst war es sehr turbulent und anstrengend. Ein erst am Vortag entlassender Patient meldete sich telefonisch mit lallender Stimme.
"Und, wieder voll?" fragte ich ihn.
"Na klar!" kam es nicht ohne Stolz.
"Ach, und Sie wollen hier wieder entgiften?"
"Na klar!"
"Und da müssen Sie unbedingt heute nacht kommen? Das geht nicht, daß Sie morgen zu guter Zeit kommen?"
"He, ich bringe mich vielleicht gleich um."
"Ach, Sie möchten sich umbringen."
"Ja, ich habe ein Messer in der Hand."
"Ach, Sie haben ein Messer in der Hand. Das ist ja schön ... ja, dann dürfen Sie natürlich kommen."
"Alles klar!"
"Bis dann, tschüß."
"Tschüß."
Die Schwestern, die neben mir am Tisch saßen und das Telefongespräch mithörten, glucksten.
"Der kennt die Eintrittskarte", spielte eine der Nachtschwestern auf die vorgetragenen Selbstmordabsichten an. "Der weiß, wie man hier 'reinkommt."
In der Abteilung für Senioren kam ich an einer demenzkranken Dame vorbei, die im Flur auf ihrem Bett saß und dort herumnestelte.
"Hoppedihopp, im Galopp", rief sie. "Hahahahahaa!"
Die Nachtschwester zeigte mir eine Handvoll Knöpfe, die die verwirrte alte Dame im Mund gehabt hatte.
In der Seniorenabteilung kommt es durchaus vor, daß die Patienten untereinander ihre Zahnprothesen austauschen. Die Schwestern wundern sich dann, warum die Patienten so schlecht kauen können.
Kürzlich erzählte eine Schwester ein Märlein aus dem Nachtdienst:
Ein im Hause bekannter Patient rief an und erzählte, er habe sich in einem Schnellrestaurant eine Krone gekauft, und er stehe jetzt mit der Krone in BS. auf dem Bahnhof. Er sei der König der Könige und wolle wissen, ob er denn jetzt nach Kingston fahren solle.
"Das mit dem König werden wir ihm wohl nie austreiben", seufzte die Schwester. "Der bleibt immer König."
Mein Kollege Arnaud aus H., den ich vom Studium kenne, schickte mir eine Patientin, die er nirgendwo anders unterbringen konnte. Sie fühlte sich von einer Königsfamilie aus WOB. verfolgt.
"Paßt ja zu unserem König der Könige", meinten die Pflegekräfte im Hause.
Inzwischen geht es der Patientin mit Haldol deutlich besser.
Die berufliche Selbständigkeit war für Arnaud eine harte Erfahrung, er scheint jedoch inzwischen damit zurechtzukommen. Für Fachärzte wird es immer schwerer, sich ihre Arbeit bezahlen zu lassen; vor allem in der Grundversorgung chronisch Kranker arbeiten sie oft umsonst und haben dennoch ihre Kosten. Patrick Ninyat geht es ebenso, und das, obwohl er eine langjährig eingeführte Praxis hat.
"Es ist schon wieder etwas besser geworden", erzählte Arnaud, "aber man kann eine Praxis nicht steuern wie einen Rennwagen."
Er meinte, wenn man ayurvedische Fernhypnose anbietet oder Edelstein-Akupunktur, was die Patienten selbst bezahlen müssen, dann könne man aus einer Praxis eine Goldgrube machen.
"Aber ich betreibe keine Scharlatanerie, sondern Medizin."
In MD. gab es im "XXL" eine Elektro-Veranstaltung in drei Sälen, einer für Old School EBM, einer für Industrial und der Hauptsaal für gemäßigtere Elektronik, einschließlich Future Pop. Ich fuhr mit Ray und Cyra dorthin. Als Ray und ich Cyra in WOB. abholten, saß Cielle auf Cyras Sofa und erzählte, sie komme nicht mit ins "XXL" wegen Leuten aus BS., die dort hinfahren würden und die sie nicht treffen wolle.
Wir aßen beim Amerikaner Abendbrot, und dorthin kamen noch mehrere Leute, mit denen Cyra sich verabredet hatte. Einer wußte, woher die Mädchen stammen, die sich in dem Video zu der "Push!"-Coverversion, die Kappa gemeinsam mit DJ Ravelab aufgenommen hat, rechts und links von Kappa auf dem Fußboden aalen und auffordernde Bewegungen machen:
"Das geht auf Revil-O zurück, der sich hinter 'Ravelab' verbirgt. Revil-O vermietet Gogo-Girls!"
"Ach, dann wird mir auch klar, warum diese Mädchen auf mich wie Prostituierte gewirkt haben", meinte ich.
Kappa und DJ Ravelab sollen kürzlich mit dem Stück "Push!" in der Techno-Discothek "Fractal" aufgetreten sein. Die Gogo-Girls sollen auch auf der Bühne gewesen sein. Staunend sollen die technogewöhnten Gäste Kappa betrachtet haben:
"Wie sieht der denn aus?"
Sie dürften von ihren Techno-Helden schon einige ausgefallene Kostüme gewohnt sein, aber das ist in deren Augen wohl noch nichts gegen das, was es in der Düster-Szene zu sehen gibt.
Im "XXL" kam ich vor allem im Industrial-Saal auf meine Kosten. Die DJ's spielten dort viele Titel, die ich noch nicht kannte und die mich faszinierten.
Mit Cyra sprach ich über mein Telefonat mit Cielle im Nachtdienst.
"Zum Glück weilt Cielle noch unter uns", sagte ich zu Cyra. "Die hat bestimmt nicht zum ersten Mal an Selbstmord gedacht. Da ist es immer schwierig, das Richtige zu tun - nicht zu viel und nicht zu wenig. In dem jetzigen Fall hat Cielle selbst einen sinnvollen Vorschlag gemacht, nämlich den, bei ihrer Schwester zu übernachten. Sie hat sich als handlungsfähig erwiesen und konnte ihre Selbstheilungskräfte wecken."
Als wir wieder in WOB. waren und Cyra für uns Kakao machte, fand ich auf dem Couchtisch einen Notizblock, wo Cielle sich während ihres Telefongesprächs mit mir die Begriffe "posttraumatisch" und "Borderline" aufgeschrieben hatte. Sie scheint sich über Störungen informieren zu wollen, die durch Kindheitstraumata ausgelöst werden können.
Cyra erzählte, die erste Woche ohne Denny sei schlimm gewesen, aber inzwischen komme sie ohne ihn gut zurecht. Als ich wissen wollte, welche Begründung Denny für seine Trennung von ihr angegeben hatte, erzählte Cyra:
"Der hat gesagt, es sei besser für mich, wenn Schluß sei. Es gehe eben nicht mehr."
"Der macht sich das aber einfach."
"In der letzten Zeit ist sein Egoismus auch voll durchgekommen. Der wollte sich kaum noch mit mir treffen."
"Ich frage mich, woran so etwas liegt", überlegte ich. "Er ist völlig normal, so wie Denny sind viele Hunderttausende. Wie kann jemand etwas so Wertvolles wie eine verläßliche Beziehung ablehnen?"
"Ich glaube, der will einfach ungebunden sein. Der war noch nie ohne Freundin, und er ist ja nun nicht der Älteste."
Ted erzählte mir am Telefon, daß er immer noch keinen Computer hat. Er ist kürzlich von einer geschäftlichen Anruferin gefragt worden, wer in seiner Firma denn für die EDV-Anlagen verantwortlich sei.
"Dafür ist keiner verantwortlich", erwiderte Ted, "wir haben nämlich kein EDV."
"Waas?" staunte die Anruferin. "Sie machen es noch mit der Hand?"
"Ja, manchmal mache ich es auch mit der Hand", gab Ted Auskunft. "Sie stellen aber Fragen. Was wollen Sie denn sonst noch alles wissen?"
Es gab ein Heidengelächter.
Cyan soll übrigens schon mit einer Bekannten, die lesbisch ist, in einen "Gay and Lesbian"-Tanzladen gegangen sein. Er soll die Lesbe gewissenmaßen als Alibi verwendet haben und dann gesagt haben, er sei dort der einzige Hetero gewesen.
"Als ich das gehört habe, da habe ich nur gemeint, wenn Cyan allen Ernstes sagt, er sei Hetero, dann braucht der zwei Therapiestunden bei Hetty", erzählte Ted.
Er kennt noch einen, der Schwierigkeiten hat mit seinem Coming out, der soll Ted sogar umarmt und geküßt haben und dann immer noch behauptet haben, Hetero zu sein.
Unter der Hand hat Ted gehört, daß zwischen Marvin und seiner Freundin Schluß sein soll.
"Schon?" dachte Ted, als ihm dieses zugetragen wurde.
Ted geht viel aus und freut sich über die lebendige Elektro-Szene im Ruhrgebiet. Daß - wie Les kürzlich meinte - "VW Käfer" von Rafa ein Hit im Ruhrgebiet sei, kann Ted nicht bestätigen:
"'Hellraiser' von Suicide Commando, das hattest du mir vor meinem Geburtstag schon empfohlen, das ist ein Tanzflächenhit, oder 'Zauberschloß' von In strict confidence oder 'Velocity' von Neuroticfish, das sind Hits, das läuft, aber nicht W.E!"
Ted findet, die Musik von Rafa sei "Micky Maus"-Musik, man könne das nicht ernstnehmen. Ich erzählte Ted, mit welchen Ausreden Rafa das verspätete Erscheinen seines seit mehr als einem Jahr mit "demnächst" angekündigten neuen Albums erklärt: daß jede Verspätung letztlich nur der Qualität zugute komme.
"Gelaber", urteilte Ted. "Also, wenn jemand eine Neuerscheinung aus markttechnischen Gründen zurückhält - aber von diesem Level ist Rafa weit entfernt, außerdem kommt das eher in anderen Branchen vor als in der Musikbranche", nahm Ted Bezug auf seine eigene Branche, den Stahlhandel. "Und sonst würden noch finanzielle Gründe in Betracht kommen - daß etwa das Label die Platte so nicht veröffentlichen will."
"Auf das Album wird gewartet", erzählte ich. "Rafa wird in Interviews dauernd danach gefragt."
"Also, dann liegt's an ihm selber! Dann kommt er selbst nicht zurande!"
"Eben, genau das glaube ich auch. Ich frage mich, was der den ganzen Tag macht. So viel tourt der ja nun auch nicht. Und arbeiten geht er wahrscheinlich nicht; im Interview hat er zuletzt auf diese Frage geantwortet, er sei achtundzwanzig Stunden am Tag und tausend Tage im Jahr nur für W.E da."
"Da müßte er aber mehr CD's schaffen in der Zeit."
"Eben. Man kriegt in seinen Interviews nur solche Ausreden zu hören, keine wirkliche Information."
"Wahrscheinlich hätte man mehr Information, wenn er gar nichts sagen würde."
"So ist es. Rafa ist sehr gut darin, viel zu erzählen, ohne damit irgendetwas zu sagen. Was ich mich frage, ist, ob er insgeheim seinen Musikstil ändern will und sich nicht traut, weil er Angst hat, dann seine Fans zu verlieren."
"Also, wenn Rafa seinen Musikstil ändert, kann sich das in jedem Fall nur zum Besseren auswirken!"
Es kommt mir seltsam vor, daß Rafa so wenig zustandebringt, obwohl er nicht berufstätig ist. Da stellt sich mir doch die Frage:
"Was macht er den ganzen Tag?"
Stillstand in der Entwicklung verbindet meine Mutter mit einem Zustand innerer Lähmung, und das finde ich nicht abwegig. Es scheint mir, als wenn Rafa durch irgendetwas gelähmt und am Vorwärtskommen gehindert wird. Was aber ist das?
Ted, der Unternehmer, kommt manchmal zu schnell vorwärts. Auf einer seiner rasanten Fahrten mit dem geliebten Honda Prelude ist er in eine Radarfalle getappt.
"Das können die doch nicht machen, mir einen Monat meinen Führerschein wegnehmen", stöhnte er. "Meine Existenz ist gefährdet!"
"Erstens kennen die bereits alle möglichen Ausreden", meinte ich, "und zweitens mußt du dann halt mal für einen Monat Urlaub nehmen."
"Urlaub gibt's nicht!"
"Doch, auch für Unternehmer gibt's mal Urlaub."
"Aber nicht für mich."
Ted würde unweigerlich seinen Computer mit beurlauben, wenn er sich in den Urlaub verabschieden würde, denn sein Computer ist sein Kopf; dort hat er alles Wesentliche analog gespeichert und abrufbereit.
"Eine sechsspurig ausgebaute Straße", erzählte Ted, "und dann kam das Ortsschild und dahinter 70, und dahinter standen die nachts um zwei mit großem Aufgebot. Und ich bin nur 102 gefahren."
"Nein, du bist 105 gefahren, die haben die Toleranz schon abgezogen. Sonst nämlich würden sie dir nicht den Führerschein wegnehmen wollen."
"Das war aber eine sechsspurige Straße."
"Und innerorts."
"Sonst fahre ich innerorts nie so schnell."
"Du heizt mit 90 Sachen durch Ht. ..."
"Da weiß ich aber, wo geblitzt wird. Und in DO. war ich ortsfremd."
"Du fährst regelmäßig innerorts so schnell, daß du eigentlich schon mehrfach den Führerschein hättest verlieren müssen", wußte ich. "Ich habe mich schon gefragt, warum du ihn nicht längst verloren hast, bei deiner Fahrweise."
Ted mußte kichern.
"Ich habe das kürzlich auch schon erlebt", erzählte ich, "als ich stundenlang über Landstraßen fahren mußte, weil sich auf der Autobahn alles gestaut hat, und dann kam ich in eine Ortschaft und habe nach dem Weg geguckt und den Tacho aus dem Blickfeld verloren. Ich kann es noch gar nicht fassen, daß ich nur 73 gefahren bin, und ich hatte mich schon so verjagt. Es waren in Wirklichkeit 76, aber ich fahre sonst nie schneller als 70, wenn im Ort 50 ist. Und jetzt verliere ich den Führerschein doch nicht. Und wenn ich ihn für einen Monat verloren hätte, hätte ich mir auf jeden Fall für diese Zeit Urlaub nehmen müssen."
"Urlaub ohne Auto? Nein, das kommt nicht in Frage!"
"Meine Kollegin Convy ist über rote Ampeln gefahren und ist irgendwann auch erwischt worden. Die hat dann den Führerschein, den Fahrzeugschein und das Auto von ihrer Freundin genommen, und die Freundin ist mit Convys Auto, Convys Fahrzeugschein und mit ihrem eigenen Perso gefahren. Die beiden sind nicht kontrolliert worden. Wenn das aber aufgeflogen wäre, wäre Convy vorbestraft gewesen, und die will noch ein bißchen länger beim Öffentlichen Dienst arbeiten, und wenn man vorbestraft ist, kann man nicht beim Öffentlichen Dienst arbeiten."
"Nein, sowas mache ich auf keinen Fall. Aber - das sind echte Wegelagerer, die sich da gleich hinterm Orteingang auf einer sechsspurigen Straße ..."
"Die wissen halt, wie sie an Geld kommen."



Mitte Mai war ich mit Sarolyn und Victor in der "Neuen Sachlichkeit". Ich hatte das durchsichtige silbergraue Organza-Kleid an, das mit hellen Blütenranken bestickt ist. Dazu trug ich silbrige Ärmlinge und ein silbernes Halsband mit einem glitzernden Stein daran. Unter dem Kleid trug ich hellgraues Dessous. Ich war stark erkältet, und daß konnte man mir auch ansehen, wenngleich Sarolyn meinte, in dem Kunstlicht der "Neuen Sachlichkeit" fiele das nicht auf.
Kappa freute sich, daß die Veranstaltung ausreichend gut angenommen wurde. Über seinen Auftritt mit DJ Ravelab erzählte Kappa, es sei ungewohnt für ihn gewesen, vor so vielen Leuten im "Fractal" aufzutreten.
"Aber ich habe mir zum Ziel gesetzt, die Musik der Szene so weit wie möglich zu verbreiten", sagte er, "und dann stehe ich eines Tages ganz oben und kann sagen, ihr Chart-Leute könnt mich mal."
"Aber dann bist du doch selber in der Charts."
"Stimmt. Aber ich habe mich dann mühsam hochgearbeitet."
Als ich Kappa auf die nuttenhaft wirkenden Mädchen in dem Video zu "Push!" ansprach, erzählte er, daß die Aufnahmen für das Video in M. gemacht worden seien, und die Casting-Agentur habe wohl nichts anderes herbeischaffen können.
"Wenigstens haben wir den dunklen Stil durchsetzen können", freute er sich. "Die vom Label wollten mich eigentlich in einen Skianzug stecken."
"Das ist ja furchtbar. Das paßt doch überhaupt nicht. 'Push!' ist doch ein klassisches Szene-Stück."
"Das wußten die aber nicht, und das war ganz schön anstrengend, denen das klarzumachen."
"Na, immerhin das habt ihr geschafft."
Berit lernte für ihre Abschlußprüfung als Floristin und war deshalb nicht in der "Neuen Sachlichkeit". Andras war mit Beatrice da und erzählte, daß er sein Kind zur Zeit nur alle zwei Wochen sehen kann, weil Aimée häufigere Treffen ablehnt. Beatrice rät Andras, mehr Besuchsrecht einzuklagen.
Rafa kam erst gegen halb zwei in die "Neue Sachlichkeit". Ich stand gerade vor der Flügeltür zum Eingangsbereich, da kamen mir drei Jungen entgegen, einer davon Rafa. Rafa lächelte mir zu, als wenn er sich freute, mich wiederzusehen. Ich packte ihn am Ärmel, ließ ihn aber gleich wieder los und ging weiter.
Rafa trug seine Spiegelbrille nicht. Er setzte sie später immer wieder auf und ab, steckte sie sich auch ins Haar. Er war gekleidet mit weißem Hemd und Sakko, der eintönigen Garderobe, die er auch bei Konzerten bevorzugt.
Kappa spielte kurz nach Rafas Erscheinen "Stukas im Visier" von Feindflug, etwas für mich, und ich konnte feststellen, daß Industrial in der "Neuen Sachlichkeit" auch gut ankommt. Nach "Stukas im Visier" folgte "Bewußtseinsstörung" von Tumor, ein weiterer Industrial-Clubhit.
Rafa stand neben dem DJ-Pult am Geländer der Empore. Schließlich ging er ans DJ-Pult und übernahm es für lange Zeit. Kappa kam ab und zu und legte den Arm um Rafa. Ich war meistens auch dort oben bei Sarolyn und konnte Rafa ungestört beobachten, denn Berenice bediente unten. Rafa spielte "Hang him higher" von :wumpscut: und "New gold dream" von New Order, da mußte ich dann auch nach unten zum Tanzen.
Während ich dort unten war, ging Berenice hoch zu Rafa, ohne aber lange mit ihm zu reden; stattdessen räumte sie ab, auch mein fast volles Glas Orangensaft. Ich konnte mir vorstellen, daß sie mir damit eins auswischen wollte, denn es war ihr gut möglich, mich von ihrer Theke aus mit dem Getränk nach oben marschieren zu sehen.
Ich ging zu der anderen Theke, wo ich den Orangensaft geholt hatte, und erzählte der Barfrau dort von dem Vorfall:
"Eine Tussi vom Thekenpersonal hat da oben mein fast volles Glas abgeräumt."
"Also, ich war da nicht in der Zeit, ich war nur hier."
"Nein, du warst es auch nicht!"
Sie gab mir neuen Orangensaft.
"Ist dieses Mal sogar Eis drin", sagte sie.
"Den werde ich jetzt gleich austrinken", sagte ich dankbar zu ihr, "dann kann ihn keiner abräumen."
"Stell ihn doch da vorne hin", schlug sie vor, "da passe ich auf."
"Ach, ich trinke ihn wohl gleich. Jedenfalls - vielen herzlichen Dank."
Während dieses Gesprächs kam Berenice mehrfach nahe an die Theke heran, wie durch Zufall. Sie konnte sehen, wie ich das Glas austrank. Dann wurde sie von ihrer Kollegin hergewunken.
"Das gibt vielleicht eine Predigt?" dachte ich.
Ich lief hoch zu Sarolyn und sagte:
"Damit hat Berenice wohl nicht gerechnet. Die hat wohl gedacht, ich nehme das einfach so hin und ärgere mich ..."
"... weil sie selber das auch einfach so hinnehmen und sich ärgern würde", vermutete Sarolyn.
Rafa trank viel Bier und machte am DJ-Pult eine Art Show; er riß die Arme auseinander, hüpfte im Takt und sang Texte mit. Durchs Mikrophon sang und redete er jedoch nicht.
Als Rafa gegen Morgen nach unten ging, holte er sich an der Theke bei Berenice noch mehr Bier, redete allerdings nur flüchtig mit ihr. Er stand ein Weilchen da, von der Theke abgewandt, und warf sich mehrmals hintereinander die Ponysträhnen aus dem Gesicht, eine überflüssige Geste, weil die Strähnen ihm gleich wieder in die Stirn fielen. Er ging dann zu einem Tisch zu zwei Jungen und redete mit denen. Berenice kam wenig später hinzu.
Rafa ging allein mit einem Handy nach draußen, verschwand im Dunkel des Vorplatzes und erschien bald danach oben vor dem DJ-Pult, wo er mit den DJ's redete. Ich stand in der Nähe an der Brüstung der Empore, allein, und beobachtete ihn. Er hatte seine Brille gerade nicht auf. Er ging schließlich zur Treppe, hielt kurz inne, schaute mich an und hob grüßend die Hand. Ich hob meine Hand ebenfalls. Er ging dann gleich weiter nach unten. Dort habe ich ihn noch herumlaufen sehen, bis er hinter der Bühne verschwand.
Sarolyn, Victor, Ferry und ich machten uns auf den Heimweg. Ich gehe davon aus, daß Rafa mit Berenice weggefahren ist.
In einem Traum erlebte ich Folgendes:

Durch die "Neue Sachlichkeit" führte eine Brücke, auf der Höhe der Empore. Die Brückenwächter brauchten wichtige Hinweise, damit die Brücke nicht einstürzte. Vor einer dreitägigen Sonderveranstaltung in der "Neuen Sachlichkeit" versprach ich den Brückenwächtern, mich um diese Angelegenheit zu kümmern.
Während der Veranstaltung kam es immer wieder zu kurzen Begegnungen von Rafa und mir, ohne daß wir jedoch wirkliche Nähe erreichten. Berenice war viel bei Rafa und zeigte, daß er nach wie vor ihr gehörte. Einmal ging sie dicht an mir vorbei und sagte hinter mir:
"Huhu!"
Sie behängte sich mit Seidentüchern und zog Bauchtanz-Kostüme an. In der "Neuen Sachlichkeit" wurde sie zur "Orientalischen Schönheit Nr. 1" gewählt, ohne daß sie aus dem Orient stammt. Sie stellte sich auf einem Balkon zur Schau, von dem aus alle sie sehen konnten.
Am Ende der Veranstaltung fielen mir die Brückenwächter wieder ein. Ich wollte ihnen helfen.

Auf seiner Gästeseite und in den Nachrichten auf seiner Homepage hat Rafa bekanntgegeben, daß er einen Gedenktag begeht:

Todestag von Karl Koch
Guten Tag, meine Damen und Herren! Am 23.5.2001 jährt sich der Todestag von Karl Koch zum 12. Mal. Karl Koch, der Hacker, der sich mit einem Commodore 64 während des kalten Krieges unter anderem in westliche Rüstungsfirmen "reingehackt" hat. Karl Koch, der, benutzt vom sowjetischen Spionagedienst, vielleicht nur immer eine Vision vor Augen hatte: das Gleichgewicht der Kräfte mit der gerechten Verteilung aller Information. Karl Koch, das Sinnbild und vielleicht ein Symbol einer ganzen Generation, einer neuen Generation ... W.E gedenkt dieses Hackers, über den Hans-Christian Schmid 1998 den Film "23" drehte, und wird vor dem Auftritt am 23.5.2001 in BS. im "Restricted Area" am Grab von Karl Koch in H. in stillem Gedenken stehen. Karl Koch starb am 23.5.1989 im Alter von 23 Jahren.

An wen Rafa in Wirklichkeit denkt - um welchen Helden er wirklich trauert - für wen Tote wie Jesus Christus, Jochen von Hassel und Karl Koch stellvertretend verehrt werden -, ist Rafa vielleicht gar nicht bewußt. Ich bin mir nicht sicher, ob Rafa glaubt, den Tod seines Vaters ausreichend verarbeitet zu haben. Ich frage mich, wie oft Rafa am Grab seines Vaters in SHG. steht.
In seinem Online-Gästebuch kündigte Rafa unter "INFORMATION" sein Konzert im Rahmen des diesjährigen Pfingstfestivals in L. an. Seine Band werde Headliner sein in einem Veranstaltungszentrum, wo "auch fast alle anderen elektronischen Bands spielen".
Daß Rafa sich als "Headliner" von "fast allen anderen elektronischen Bands" bezeichnet, kann ein ähnlicher Fake sein wie damals, als Rafa, der 1999 beim großen Open Air in HI. als Headliner von lauter Newcomern auftrat, auf einem Flyer später als Headliner des gesamten Festivals dargestellt wurde, was er keineswegs war.
Mega-Acts wie Front 242, die dieses Jahr auch in L. auftreten, dürften kaum einen Festival-Abend bestreiten, ohne daß vorher eine Anzahl weiterer hochkarätiger Elektro-Bands auf der Bühne steht.
Zwei Wochen vor Pfingsten war ich im "Lost Sounds". Reesli hatte eine Hose zu einem kurzen Rock mit zwei Schlitzen umgearbeitet, ein Schlitz vorne, einer hinten. Darunter trug er eine schwarze 40den-Strumpfhose.
"Das sieht scharf aus", lobte ich ihn.
Er klagte, daß er schon wieder kein Mädchen zum "Abschleppen" gefunden habe. Er wollte bei Dale übernachten, die ihn aber nicht erhört.
"Du bist so nett, aber eben kein Verführer", meinte ich. "Daran liegt es wohl."
Lukas war mit allen drei Geschwistern und mehreren Freunden im "Lost Sounds". Sein Zwillingsbruder und er sind zwanzig Jahre alt, der jüngere Bruder ist siebzehn, und die Schwester Doro ist mit vierundzwanzig Jahren die Älteste; sie ist als Einzige schon ausgezogen in eine eigene Wohnung. Die Familie lebt seit sechsundzwanzig Jahren in dem Bunker, wo Lukas mir im letzten Winter frühmorgens Tee serviert hat.
Lukas kann Cyra gut leiden, mit der er sich am vergangenen Samstag im "Radiostern" längere Zeit unterhalten hat:
"Die hat viel Charisma."
Ein Junge aus Berits Clique fragte, ob ich mit Ivo Fechtner nach L. fahre. Ich erklärte ihm, weshalb ich mit Ivo Fechtner nichts zu tun haben will und daß das nicht an seinen ideologischen Vorstellungen liegt.
"Der Fechtner ist falsch", meinte ich.
"Kiere hat mir auch gesagt, der Fechtner ist falsch", erzählte der Junge. "Und wenn sogar so einer wie Kiere das sagt, der selber mal Skinhead gewesen ist, dann nehme ich das doppelt ernst."
Ich erzählte, daß ich in L. vor allem die Industrial-Veranstaltungen besuchen will und Rafas Auftritt wahrscheinlich nicht mitbekommen werde:
"Das Konzert von Rafa wird eh ein Alptraum."
"Die Musik, die der macht, ist nicht mein Ding", sagte der Junge.
Im Nachtdienst erzählte mir ein Pfleger am Kaffeetisch:
"Früher habe ich Akkordeon gespielt; ich weiß, wie das ist, auf der Bühne zu stehen. Man fühlt sich dann schnell wie ein Idol."
"Das will Rafa auch sein", meinte ich. "Deshalb hat er doch den Weg auf die Bühne gewählt. Er will über den Dingen und über den Menschen stehen. Er will die totale Kontrolle."
"Die hat man aber nicht", war der Pfleger sicher. "Solange man spielt, vielleicht, da lauschen sie einem, jubeln einem zu. Aber wenn das Konzert vorbei ist, kümmert sich jeder wieder um seinen eigenen Kram."
"Richtig, es ist nur die Illusion der totalen Kontrolle. Vielleicht ist das wie ein Rausch, nach dem Konzert ist alles vorbei. Und Rafa will sich diesem Gefühl immer wieder von Neuem hingeben. Vielleicht ist das ein Grund dafür, weshalb Rafa so viele Konzerte gibt, mehr als die meisten anderen Bands."
"Das klingt wie eine Flucht aus der Realität."
"Genau das ist es auch, davon redet Rafa immer wieder in seinen Lyrics - daß er vor der Wirklichkeit fliehen will. Er macht genau das Gegenteil von dem, was ich mache. Er läuft vor der Wirklichkeit davon, und ich will zur Wirklichkeit hinfinden. Er will ins All schweben, und ich will den Dingen auf den Grund gehen."
"Gegensätze ziehen sich an."
"Eben, das ist es. Ich bewege mich in die entgegengesetzte Richtung. Je süßlicher seine Musik ist, desto kompromißloser ist die Musik, die ich bevorzuge. Ich gehe zu Industrial-Parties, und er muß in seinem Neue-Welle-Reich bleiben. Vielleicht wünscht er sich insgeheim, auch zu Industrial-Parties zu gehen, aber dann würde er sich outen. Er hat ein gleichgeschaltetes Universum, das ihn nicht inspirieren kann. Er will vor der Wirklichkeit fliehen, aber ich glaube, in Wahrheit will er vor sich selber fliehen."
Zur Zeit läuft wieder einmal die Zeichentrickserie "Heidi" von Isao Takahata im Fernsehen. Wenn ich die Figuren des zugrundeliegenden Romans von Johanna Spyri einzeln betrachte, ist niemand dabei, der nicht mit schweren Verlusten oder Entbehrungen leben muß. Der Alm-Öhi hat Besitz und Familie verloren, Ehefrau und Sohn sind gestorben. Peters Mutter Brigitta, Peters Großmutter, Herr Sesemann, seine Mutter und der Doktor sind allesamt ebenfalls verwitwet; dem Doktor stirbt darüber hinaus die einzige Tochter. Dete, Fräulein Rottenmeier, Sebastian, Tinette und der Kutscher Johann sind alleinstehend. Heidi ist früh verwaist. Peters Vater und Klaras Mutter sind ebenfalls früh gestorben. Keiner hat eine "ganze" Familie, keiner hat einen Lebensgefährten. Am Ende der Geschichte ist zwar niemand mehr wirklich einsam und verlassen, aber nach wie vor hat keiner der Erwachsenen einen Lebensgefährten.
Daß die Geschichte so viel mit Tod und Trauer zu tun hat, fällt nicht unbedingt auf den ersten Blick ins Auge. Vielleicht ist es aber ein Grund dafür, warum sie mich immer schon beschäftigt hat. Allein zu sein und keine Kinder zu haben, das ist für mich so ähnlich wie der Tod selbst. Aber es ist mir immer noch lieber, als mit einem Mann zu leben, den ich nicht will.



Als ich mit Bertine am 23.05. ins "Restricted Area" kam, stand Rafa mit seinem Trupp auf der Bühne und sagte gerade:
"Jetzt von dem perfekten Computer Commodore 64 zu dem perfekten Auto - dem VW Käfer."
Unter den Klängen von "VW Käfer" wurden aufblasbare Weltkugeln ins Publikum geworfen. Das war mir alles zu "perfekt", und ich verließ den Saal wieder.
Cyra hatte gut kalkuliert. Das "Restricted Area" war brechend voll, und das gibt für Cyra reichlich Einnahmen. In der Damentoilette trafen Bertine und ich Carole, die erzählte, daß sie im März Ivco geheiratet hat. Sie wohnen in SHG. Mit Kindern wollen sie noch warten; das ist ihnen zu anstrengend. Ivco macht weiterhin Unternehmensberatung und hält sich deshalb viel in Zürich auf. Wenn er am Donnerstag über H. nach Hause fährt, macht er unterwegs im "Verlies" Station und bleibt dort bis zum letzten Zug nach SHG. kurz nach Mitternacht.
Carole findet die Musik von Rafa lustig und nett. Sie trug - wie auch Ivco, den wir nachher im Saal trafen - ein Badge mit dem Logo von W.E.
"Die meisten finden die Musik ganz nett", meinte ich. "Ich finde die Musik sehr aggressiv. Aber das erlebe nur ich so. Ich kenne Rafa auch auf eine andere Art, als du ihn kennst."
"Ich kenne Rafa als Freund."
"Eben, und das ist bei mir anders."
Als wir in den Saal zurückkamen, war das Konzert schon vorbei. Auf der Bühne sah man eine Leinwand mit Computerschrift, die wahrscheinlich etwas mit dem C64 zu tun hatte.
Ivco erzählte, daß Berenice und Kitty live gesungen hätten; das habe sich gar nicht so schlecht angehört.
"Mir wird davon aber schlecht", erzählte ich, "und deshalb bin ich froh, daß ich das nicht mitgekriegt habe. Ich neige zu Gastritis, und da muß das nicht sein. Wenn Rafa seine Tussi auf die Bühne stellt, wird mir halt schlecht. Die Tussi hat ja auch Aggressionen gegen mich. Einmal hat sie mir im 'Exil' sogar Schläge angedroht."
"Ja, ja, die Eifersucht unter Frauen."
"Ich habe aber nichts dazu gesagt. Die interessiert mich auch nicht. Anfang des Jahres war mir besonders schlecht, das war, als Rafa dreißig geworden ist. Da war ich in HF., und um Mitternacht stand ich vor einem Blumenkübel und dachte, kotze ich jetzt oder nicht? Dann habe ich aber doch nicht gekotzt, und im 'Zone' habe ich nette Leute getroffen und mich wieder etwas abgekühlt. Seitdem hatte ich aber mit Gastritis zu tun. Mir war deshalb so schlecht, weil ich Rafa nicht zu seinem dreißigsten Geburtstag gratulieren konnte. Ich konnte ihn nicht erreichen und ihm auch nichts schenken."
"Ach, dir ging es nur deshalb schlecht, weil Rafa dreißig geworden ist?"
"Nein, weil ich ihm nicht gratulieren konnte. Ich rufe nie bei ihm an, wenn er eine Freundin hat, und wenn er keine hat, rufe ich ihn auch nur an, wenn er mich darum gebeten hat. Ich laufe ihm nicht hinterher, das verstößt gegen meine Prinzipien."
"Aber der dreißigste ... was ist daran anders als beim neunundzwanzigsten oder achtundzwanzigsten?"
"Für mich ist jeder Geburtstag von Rafa eine Katastrophe. Nur der fünfundzwanzigste war es nicht, weil ich ihm da gratulieren konnte. Er hat Saara angerufen und sie gebeten, zu kommen, und sie hat gesagt, sie nimmt mich mit, und da hatte er nichts dagegen."
"Aber das geht doch nicht, daß es dir jedesmal schlecht geht, wenn Rafa Geburtstag hat."
"Doch, das geht."
"Und wie willst du das ändern?"
"Zu einer Beziehung gehören zwei, und von Rafa muß auch etwas kommen."
"Dann wird es aber noch viele Geburtstage von Rafa geben, wo es dir schlecht geht. Ich kenne Rafa schon länger, und das mit Berenice nimmt der ernst."
"Das ist schön für ihn, daß er das ernst nimmt."
"Und dir soll das jetzt immer schlecht gehen, wenn Rafa Geburtstag hat."
"Ja, solange von ihm nichts kommt; es liegt an ihm."
"Nein, das liegt bei dir, ob es dir schlecht geht."
"Ich bin ja auch ins 'Zone' gefahren, um mich abzulenken."
"Das hat aber auch nichts gebracht."
"Doch, ein bißchen hat es gebracht; es war immer noch besser, als zu Hause zu sitzen."
"Dann mußt du dich halt nächstes Mal wieder so ablenken."
"Ja, das mache ich auch."
Rafa war nach seinem Auftritt sogleich verschwunden und tauchte kein einziges Mal mehr auf. Dolf, Berenice, Kitty und andere Hilfskräfte bauten die Bühne ab und schleppten die Kisten durch einen Seiteneingang nach draußen. Berenice hatte wieder ihre gewohnte Kleidung an, ein im Rücken geschnürtes Top und Leggins. Sie und Dolf redeten zwischendurch kurz mit verschiedenen Leuten, Dolf redete auch mit Cyra. Rafa half in keiner Weise beim Abbauen mit.
"Der hat Rückenprobleme ", erklärte Carole dieses Verhalten. "Das ist wohl Morbus Scheuermann oder so etwas; der darf nichts heben."
"Aber da ist noch nicht nur etwas zu heben, sondern auch etwas abzubauen."
"Dolf läßt keinen an seine Elektronik 'ran, der scheucht da jeden weg."
"Die Mädchen scheucht er aber nicht weg."
"Die läßt er wohl nur da 'ran, wo kein Strom drauf ist."
"Hat Rafa jetzt eigentlich wieder Arbeit?"
"Nichts Regelmäßiges", erzählte Carole. "Der macht etwas mit Videospielen und für eine Computerfirma."
"Und wovon lebt der?"
"Ja, von diesen unregelmäßigen Sachen."
"Ach ... und das ist dann gerade so viel, daß er nicht aufs Amt muß ...?"
"So ungefähr."
"Und wie will er sich damit eine Zukunft aufbauen?"
"Das weiß ich auch nicht. Eine Ausbildung hat er ja."
"Ja, aber mir hat er mal erzählt, daß er in dem Beruf nicht mehr arbeiten kann, wegen seines Rückens."
"Na, jedenfalls hat er unsere Küche gestrichen."
"Und das 'Nachtlicht' hat er auch gestrichen."
"Und ein Bistro in SHG."
"Und das 'Hunger & Durst'", erinnerte ich mich. "Ich frage mich, ob er sich schon um seine Rente gekümmert hat ..."
Cielle erzählte, sie habe für den nächsten Donnerstag einen Termin beim Neurologen.
"Der kann dir bestimmt hilfreiche Tips geben", meinte ich. "Es gibt so viele, die das haben, was du hast. Posttraumatische Störungen sind so häufig; allein in meinem Bekanntenkreis kenne ich mehrere."
"Stimmt, das haben viele."
"Das liegt daran, daß es so viel Gewalt in den Familien gibt."
"Ja."
"Und die Wohnzimmergardinen werden immer zugezogen, damit die Nachbarn nichts mitkriegen. Das ist es, was mich so aufregt - die Verlogenheit und die Fassade."
Tags darauf war ich wieder im "Restricted Area", dieses Mal auf einer Electro-Industrial-Veranstaltung, wo auch Cyra auflegte. Es war weniger voll, und es gab weitaus mehr Musik zum Tanzen für mich, unter anderem "Nullity v 2.3" von ORPHX und "Standing" von VNV Nation.
Mit Cyra verabredete ich, demnächst das südliche Ende eines Autobahnkreuzes in der Nähe von WOB. zu erkunden, das nie weitergebaut wurde. Wenn man mit dem Auto dort an der Absperrung vorbeikommt, sieht man die seit etwa zehn Jahren brachliegende Straße, mit Grün überwuchert. Wir wollen diese Piste über Feldwege von Süden her erwandern.
"Ich habe ein schweres Rätsel zu lösen", erzählte ich. "Ich muß herausfinden, wie man Rafas Fassade sprengt. Um das zu schaffen, muß ich die Augen in alle Richtungen offen halten und viele ungewöhnliche Eindrücke sammeln. Irgendwann ist dann durch Zufall ein Hinweis dabei, wie ich Rafas Fassade sprengen kann."
Am Mittwoch war ich im "Zone". Unter anderem lief dort "Velocity" von Neuroticfish, die auf Werbeanzeigen ihre aktuelle CD wie ein Arzneimittel beschreiben:

Velocity N1
Electrospasmolytikum
20,36 mg Suspension

- mit Barcode-Kennzeichung.
Außerdem lief "Für immer" von Second Decay. Der Refrain lautet:

Was immer auch "für immer" heißt,
was immer auch ein Wort beweist,
wann immer auch für immer ist ...
Versprechen, die man schnell vergißt.

Das erinnert mich daran, daß Rafa mir nicht glaubt, daß meine Liebe zu ihm für immer besteht.
Les erzählte über W.E:
"Das kommt überhaupt nicht an im Ruhrgebiet. Die wollten auftreten in BO., aber die durften nicht."
Am Freitag vor Pfingsten fuhr ich nach L. Als ich abends im Hotel ankam, fragte ich Sarolyn über Handy, wo sie jetzt steckte. Sie steckte mit Victor auf einem Autohof fest, etwa siebzig Kilometer von L. entfernt. Victors Auto war liegengeblieben. Weil die Straßen inzwischen frei waren, schaffte ich es in nur vierzig Minuten, zu dem Autohof zu fahren.
"Ich war noch nie so froh, dich zu sehen!" rief Sarolyn. "Ah - Entschuldigung ... aber ich war wirklich völlig verzweifelt."
Den Rest unserer Fahrten machten wir gemeinsam in dem 190er. Victor und Sarolyn wollen nach einem anderen Auto Ausschau halten, weil das bisherige sehr reparaturanfällig ist. Sie ließen ihr Auto vorerst auf dem Autohof stehen.
Das Hotel, wo Victor, Sarolyn und ich wohnten, war schick, warm und gemütlich. Die Ärmsten, die auf dem Zeltplatz übernachteten, begegneten uns als durchgefrorene Schattengestalten. Es regnete fast ununterbrochen.
In der Messehalle, wo das Markttreiben herrschte, flanierten die Gäste in ausgefallenen, oft selbstgemachten Kostümen; viele von ihnen sind Designer oder Schneider. In die Zöpfe hatten sie einen Wasserfall aus Video-Magnetbändern geknotet oder Plastikschläuche oder Trauerflor mit aufgesticktem "Ruhe sanft!" oder meterlanges Kunsthaar in verschiedenen Farben, und die Zöpfe waren gehalten von kleinen Zöpfchen oder seltsamen Spangen. Eine zierliche Designerin aus Barcelona trug rosafarbene Zöpfe, die von Spangen mit Schmetterlingen aus rosa Federn zusammengehalten wurden. Ihre Modelle waren zum Teil garniert mit lila-schwarzer Paillettenborte und schmal geschnitten. Da gab es eine trägerlose Lackcorsage mit angesetztem Organza-Tutu in zwei Volants. Und da gab es ein Empire-Kleid aus Lack mit Puffärmeln aus Lack und einem eingesetzten Vorderteil, in das ein Muster gewebt war.
An einem Stand für Mode aus Metall sah ich einen Reifrock, das war ein Metallgestell. Und es gab verschiedene Kettenhemden und Dessous aus Metall. Ein hochgewachsener Mensch, der aussah wie "vom anderen Ufer", ging ganz in Silber, mit Silberspray in der Stachelfrisur, einem silbernen Hundehalsband, einem langen silbernen Mantel und silbernen Plateaustiefeln. Die Augen waren silbern geschminkt, die Augenbrauen sorgsam gemalt und mit Straßsteinen verziert. Zwei füllige Damen trugen Rokokokleider aus verschiedenen Stoffen, mit Rüschen und Volants, und waren von oben bis unten aufwendig geschmückt. Toro hatte seine Freundin dabei, mit der er im Partnerlook ging. Sie hatte für ihn und für sich Kleider im Stil des ausgehenden 18. Jahrhunderts gemacht, in dunkelgrünem Samt, mit weißem Spitzenbesatz und weißen Stickereiornamenten. Sie trug ein Kleid mit Kastenausschnitt, Ärmelvolants und einem Rock mit Raffung, unter dem ein weißer Jacquardrock hervorsah, Toro trug einen Gehrock mit großen Ärmelaufschlägen, einen weißen Jabot, eine Weste aus weißem Jacquard, Kniehosen und weiße Strümpfe. Sie hatte ihr Haar vorne zu Locken geringelt und hinten zusammengeknotet. In den Knoten hatte sie einen Kranz aus weißen Seidenrosen gesteckt. Er hatte sich die Haare steil hochgestellt.
Toro möchte nach BT. ziehen und vorerst bei Bruno Kramm in dessen Schloß wohnen. Sein Underground-Modegeschäft in H. möchte er abgeben und in BT. wieder eines eröffnen, außerdem möchte er mit Bruno eine Discothek eröffnen.
Eines der teuersten Gewänder suchte ich mir aus, ein zweiteiliges Kleid. Der Rock ist lang, längsgestreift in Brombeer und Schwarz, mit bauschigem, weich fallendem Rock, unten gerafft und mit einem weiteren Rock darunter. Die Raffungen sind mit Stoffrosen und Satinbändern garniert. Ein Unterrock gehört dazu, aus sehr feinem schwarzem Tüll.
Außer Kleidern gab es noch viel mehr Seltsamkeiten zu sehen, darunter ein Zimmerspringbrunnen; das war ein kleines Toilettenbecken, in dem ein Totenkopf saß, der sich selbst den Schädel auseinanderriß. Ein rosa Wasserstrahl lief über die herausgestreckte Zunge, die aufgrunddessen vor- und zurückschaukelte. Dann gab es noch ein winziges Skelett mit langen Haaren, das saß vor einem Computer, und auf dem Bildschirm stand zu lesen:
"Surfed too long!"
Das Skelett erinnerte mich an den Schlüsselanhänger, den Elaine kürzlich aus einer Wundertüte gezogen hat, ein Skelettchen mit langen rosa Haaren.
"Ist das aber schön!" staunte ich, im Gedenken an meine Kindertage, als ich bereits von allem Makabren fasziniert war.
Victor hat als Kind seine Legomännchen geköpft.
"Als Junge kriegt man doch immer solche Bausätze", erzählte er, "für Schiffe und Flugzeuge und so weiter. Aber damit kann man auch was anderes bauen."
Er baute eine Guillotine. Er hatte sogar eine kleine Kurbel, mit der er das Fallbeil hochziehen konnte. Und dann schob er das zur Hinrichtung bestimmte Legomännchen durch einen Schlitz und ließ die Kurbel los, und - rattattattat - sauste das Fallbeil hinunter und trennte im Nu den Kopf ab, der in ein eigens dafür bereitgestelltes Auffangkörbchen fiel.



Abends zog ich mein Kostümchen aus dem durchsichtigen silbergrauen Crushmaterial an; darunter kamen ein silbriger kurzärmeliger Body und eine Strumpfhose mit Naht, aus feinem grauem Netzgewebe. Es gab verschiedene Konzerte, und als wir im Messepark L'âme immortelle hörten, meinte Sarolyn, daß sie eigentlich auch Rafa gerne sehen würde.
Rafa hatte in seiner Domain angekündigt, in der Location, wo er Headliner sei, würden auch fast alle anderen Elektro-Bands spielen. Dem war nicht so; er war Headliner einer Reihe von weniger bekannten Bands; am bekanntesten war noch Beborn Beton. Die bekannteren Elektro-Acts traten in der großen Halle auf, wo auch L'âme immortelle spielten.
Nach Beborn Beton ging schon ein großer Teil des Publikums wieder weg. Dennoch war Rafas Konzert ausreichend besucht; immerhin ist der Osten seine Hochburg. Ich sah Rafa auf der Bühne herumräumen, in einer grauen Jacke mit Schnörkelmuster. Grau steht ihm wirklich gut, finde ich, ebenso gut wie mir. Ich ging nach vorne, auf die Seite, wo Rafa hinter Trennwänden mit der Vorbereitung seines Auftritts beschäftigt war. Zwischen den Trennwänden konnte ich Rafa beobachten, ohne daß er mich bemerkte. Er trug keine Brille und bewegte sich recht natürlich, wirkte aber sehr nervös und aufgedreht.
Berenice und Kitty trugen die gleichen roséfarbenen Kleider im Stil der Fünfziger, Pumps und hochgesteckte Haare. Später setzten sie sich noch Schmetterlings-Sonnenbrillen auf. Berenice half beim Aufbauen und stelzte auf die Bühne, dabei wippte sie in den Knien und hob die Arme; das wirkte auf mich ebenso unbeholfen wie überheblich.
"Die andere bewegt sich viel natürlicher", sagte Sarolyn über Kitty.
Rafa zog sich für das Konzert die hübsche Jacke aus, und darunter kam das zu erwartende schwarze Sakko zum Vorschein, das ich so langweilig finde. Dann versteckte auch er seine Augen hinter einer Sonnenbrille.
Als das Intro schon lief, zündete Rafa sich eine Zigarette an und marschierte rauchend auf und ab. Schließlich warf er die Zigarette achtlos beiseite und ging ans Mikrophon, als wenn das ein Galgen wäre. Seine Haltung wirkte nun steif und verklemmt.
"Der hat voll den Rundrücken", meinte Sarolyn. "Kaum betritt er die Bühne, fällt er in sich zusammen."
Ich bat Sarolyn, zu berichten, wie ihr Eindruck von Rafa sei und was wohl in ihm vorginge.
"Der hat Angst", meinte sie, "weil ihm nichts Neues mehr einfällt."
Rafa brachte nur bekanntes Material. Von dem seit über einem Jahr angekündigten Album "Die Wunderwelt der Technik" war nicht ein einziges Stück dabei.
"Dann hat er wohl auch noch keins", vermutete Sarolyn.
Die dritte Strophe der "Moorsoldaten" vergaß Rafa und wiederholte dafür die erste. Dabei soll gerade die dritte Strophe Hoffnung und Veränderung bringen:

Doch für uns gibt es kein Klagen,
ewig kann's nicht Winter sein.
Einmal werden froh wir sagen:
"Heimat, du bist wieder mein."

Das Stück "Deine Augen" widmete Rafa dieses Mal nicht Berenice, er forderte aber alle anwesenden Herren auf, ihre Freundinnen zu umarmen und zu küssen. Er ging mit gutem Beispiel voran und gab Berenice über das Schlagzeug hinweg ein Küßchen auf den Mund.
Ein Mädchen, das in unserer Nähe stand, verlangte von ihrem Freund, sie nun auch zu küssen, weil Rafa das so angeordnet hatte. Der Freund gehorchte und knutschte sie ab. Als ihm gleich darauf ein Mißgeschick passierte und seine Freundin einen leeren Becher gegen die Füße bekam, wurde sie sehr wütend und zeigte ihm den Mittelfinger.
Berenice und Kitty durften auf der Bühne kaum singen. Sie bekamen Holzstöckchen in die Hände und klopften den Takt. Mal standen sie auch unter Drehgestellen mit Dreiecken aus Leuchtröhren und tanzten angedeutet zu "Tanzpalast 2000". Als "Arbeit adelt!" kam, stellten sie sich rechts und links von der Bühne auf und hoben und senkten die Arme.
"Tanzen konnte man das eigentlich nicht nennen", meinte Sarolyn.
Rafa schlug wieder mit einem selbstgewickelten Prügel auf ein Ölfaß ein; freilich blieb der Prügel dieses Mal heile.
Zwischendurch meinte Rafa, man habe eine technische Panne, und er sei erkältet. Die technische Panne ließ sich dann schnell beheben.
Ich klatschte nie Beifall. Eine Einlage brachte Sarolyn und mich allerdings wirklich zum Lachen. Rafa erzählte in trockenem Tonfall von dem Programm in einer Fernsehzeitung und listete eine Reihe von Talkshows mit den dazugehörigen Sendern, Uhrzeiten und Themen auf.
"Hilfe! Ich kann nicht aufhören zu essen!" war ein Thema, dann kamen "Silvester hab' ich dich verlassen. Heute sage ich dir, warum." - "Papa, ich liebe einen Moslem." - "Mutter, ich habe ein Intimpiercing. Heute zeige ich's dir." - "Machos, zieht euch warm an. Heute kriegt ihr euer Fett weg."
"Das sind die Themen, mit denen sich diese Welt beschäftigt", sagte Rafa abschließend.
Ich vermute, daß sich die Welt für Rafa unter anderem deshalb so trostlos darstellt, weil er etwas zuviel fernsieht.
Auch bei diesem Auftritt wurden gegen Ende aufgeblasene Bälle ins Publikum geworfen, dieses Mal durchsichtig, mit den Bandemblem. Hinter den Trennwänden spielten fünf Saaldiener mit einem dieser Bälle Fußball, Volleyball und ein Gemisch von allem anderen. Es waren kräftige Jungs, die sich in Szene setzten; einer packte einen anderen von hinten, sie hüpften herum und jagten dem Ball nach. Einmal fiel er ihnen über die Trennwände, und ich warf ihn wieder zurück und schaute den Jungs zu, über die vorderste, niedrige Wand gebeugt. Rafa näherte sich da gerade mit Berenice; ich weiß aber nicht, ob er mich bemerkt hat.
Die Fans waren von dem Konzert durchaus angetan und riefen ihr "W ... E ... W ... E ...", so daß Rafa zwei Zugaben brachte.
Am Schluß des Konzerts verabschiedete sich Rafa vom Publikum mit den Worten:
"Kommt gut nach Hause, fahrt vorsichtig, trinkt nicht so viel."
Dann lief er eilig hinter die Trennwände zu den Bierkisten, holte sich eine Dose, machte sie auf und setzte sich in der äußersten Ecke an eine Trennwand, neben der weit geöffneten Außentür für die Roadies. Ich sah Rafas schwarz behandschuhte Linke mit der Bierdose.
"Ich kann nicht mehr!" rief er wütend und erschöpft.
Berenice stöckelte einen Schritt entfernt vor ihm herum. Sonst war niemand in der Ecke. Ich kam von meiner Seite aus dicht an die Trennwand heran, griff durch den Spalt zwischen Trennwand und Außenmauer und fuhr Rafa mit den Fingern längs über den Rücken. Er stand gleich danach auf und lehnte sich an die Mauer gegenüber von den Trennwänden. Berenice ging ins Backstage. Rafa schaute in meine Richtung, und ich beobachtete ihn durch den Spalt zwischen den Trennwänden gegenüber von ihm. Ich weiß aber nicht, ob er mich sehen konnte, zumal er die Brille immer noch aufhatte. Schließlich ging Rafa ebenfalls ins Backstage.
"Der kommt in eine Umbruchphase", vermutete Sarolyn. "So kann er nicht mehr weitermachen. Er hat sich festgefahren, aber er hat nicht die Kraft, etwas Neues anzufangen. Seine Fans finden das noch gut, was er macht. Aber ich hatte den Eindruck, daß ihn das schon selber ankotzt, immer das Gleiche zu machen. Und der weiß, daß das nicht besonders war, was er geboten hat."
"Woran hast du gemerkt, daß der Angst hat?"
"Weil der so gequält wirkte."
Rafa verschwand gleich nach dem Konzert und ward in L. nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich ist er überhaupt nur zu dem Konzert gekommen, hat dann in einem Hotel übernachtet und ist nach Hause gefahren, mit seiner Gefolgschaft.
"Im Grunde hat er dann von dem Festival gar nichts gehabt", überlegte ich.
Sarolyn glaubt, daß es Berenice auch deshalb bei Rafa hält, weil sie ihn nicht an mich abgeben will. Das käme für sie einer Niederlage gleich.
Am Sonntag gab es Industrial-Konzerte in zwei ehemaligen Fabrikhallen, deren Eingänge über Eck nebeneinander liegen. Der Kopf der Band Hybryds, ein netter Vierziger, spielte neue, sehr tanzbare Stücke, die noch gar nicht veröffentlicht sind und großen Anklang fanden. Ich fragte ihn, wann er sie herausbringt, und er meinte, das hänge von Daft Records ab, seinem Label. Seit zwanzig Jahren geht er auf die Bühne und hat wohl an die fünfzehn Alben gemacht.
Der Auftritt von Monolith bestand aus elektronischen Rhythmen, die mich gnadenlos in die letzte freie Ecke zogen, wo ich mich beim Tanzen ausbreiten konnte. In meiner Nähe tanzte ein Junge ebenfalls sehr wild, den ich nach dem Konzert fragte, ob das denn nun wirklich Monolith gewesen sei? Er wußte es nicht und wirkte sehr betrunken. Andere Leute wußte es aber. Der betrunkene Junge heißt Tris und folgte mir sogleich ergeben in die Nachbarhalle zu dem Konzert von Stin Scatzor, wo wir weitertanzten. Zwischendurch fragte Tris mich so allerlei und wirkte sehr anhänglich. Weil ich später Dive sehen wollte und nicht Trial, sondern Front 242, bettelte Tris mehrfach, ich solle doch zu dem Konzert von Trial kommen; er fiel sogar auf die Knie, betete und wälzte sich auf dem Boden. Ich zog ihn wieder hoch und sagte ihm, er solle jetzt doch artig sein und weitertanzen. Tris holte für mich Cola und für sich noch ein weiteres Bier und verschüttete es, weil er kaum noch gerade gehen konnte. Ich rügte ihn und nahm ihm schließlich das Bier weg und stellte es in eine Ecke, wo es irgendwann umfiel und im Estrich versickerte.
Norman verdrehte die Augen, als ich ihm den schwankenden Tris zeigte. Tris' Freunde sind von ihm Zustände wie diesen gewohnt:
"Der ist immer so."
Sie wirkten viel nüchterner. Einer wollte wissen, was ich denn nun sei - Ballerina oder so etwas?
Sarolyn weiß, daß die Leute öfter diese Frage stellen.
Tris fragte irgendwann, was denn nun wäre, wenn er mich abschleppte?
"Das geht nicht", antwortete ich, "abschleppen kann man nur Autos, und ich bin kein Auto."
Nachts fing er an, mir SMS-Nachrichten zu schicken, und das setzte sich in den kommenden drei Tagen fort. Zuerst wollte er wissen, ob ich auf dem Zeltplatz wohnte. Das wurde verneint. Dann wollte er sich mit mir am Montag in einer historischen Bastei treffen. Damit war ich einverstanden, aber er stellte sein Handy aus, deshalb konnten wir uns nicht verabreden, und ich trank mit Sarolyn, Victor und Cindia in der Bastei meinen Nachmittagskakao. Anschließend ging es heimwärts. Tris bedauerte das sehr. Er fragte, ob es noch eine Möglichkeit gebe, mich wiederzusehen? Ich antwortete, wenn in MD. im "XXL" eine Electro-Industrial-Nacht sei, könne er mir bescheidsagen. Tris wohnt in DE., und das ist von MD. nicht weit weg.
Tris erzählte über sich, daß er sechsundzwanzig Jahre alt ist und aus einer sechsjährigen Beziehung schon einen fast achtjährigen Sohn hat.
"Und, siehst du ihn oft?" erkundigte ich mich.
"Leider nicht mehr, aber das ist auch eine lange Geschichte."
Tris wollte wissen, ob es jemanden gebe, der zu mir gehöre. Ich erzählte ihm von Rafa und daß ich mit ihm nicht zusammen bin, aber auch mit keinen anderen zusammensein will.
Cyra erzählte mir im "Radiostern" von ihrem neuen Freund, den sie im "Fractal" kennengelernt hat. Er soll Techno-DJ sein. Cyra ist es wichtig, beim Auflegen zwischen den Stücken saubere Übergänge hinzubekommen. Auf diese Kunst wird vor allem im Techno-Bereich großer Wert gelegt. Cyra findet, es sei ganz schön schwer, Techno-DJ zu sein.
Mitte Juni war ich mit Merle und Elaine wie schon im vergangenen Jahr beim Tag der offenen Tür auf dem Fernmeldeturm, und ich machte auch wieder Fotos von dessen kühlem, nüchternem Innenleben. Dort oben gibt es grauweiße Betonwände, Metallgitter, Kabel und Verstrebungen zu sehen, die an abstrakte Kunst erinnern.
Als Derek, Constri und ich einen Spaziergang machten, ärgerten Derek und ich uns wieder einmal gegenseitig. Als ihm einmal nicht sofort ein frecher Spruch einfiel, bemerkte Constri:
"Es arbeitet in seinem Kopf. Man kann richtig sehen, wie es arbeitet. Er kriegt dann so ein schelmisches Lächeln."
Als Derek immer noch nichts Rechtes einliel, bewarf er mich mit einem Kaugummipapier.
Als Constri ihr nächstes Damenkränzchen gab, malte Elaine den Gästen mit einem Kugelschreiber "Tattoos" auf die Hände. Sie schrieb ihren Namen, spiegelverkehrt und richtigherum, und malte Prinzessinnen.
Derek warf einen Blick in Constris Zimmer, wo wir zehn Damen klatschten und tratschten.
"Oh Gott!" rief er und ging weiter.
Ihm muß das Gekicher und Geplapper vorgekommen sein wie das Gackern in einem Hühnerstall.
"Für uns ist das auch seltsam, wenn Männer sich unterhalten", meinte ich. "Die sitzen dann vor der Stereoanlage oder vorm Fernseher, rauchen und haben ihre Bierdosen neben sich, und es geht nur um irgendwelche technischen Daten und Länderspiele."
Das Wetter war schön, und wir gingen in den Grünanlagen spazieren. Elaine fand einen Spielplatz. Auf der Schaukel hatte sie es schwer, genügend Schwung zu holen.
"Du bist nur eine halbe Portion", meinte ich. "Deshalb schaffst du das noch nicht."
Sie ließ sich Schwung geben.
"Ich bin eine halbe Portion", sagte sie. "Ich bin sechs, sehe aber aus wie fünf."
In der Stadt gingen Constri und ich mit Merle und Elaine in eine Kakaostube. Neben unserem Tisch gab es einen Spiegel, und Elaine dreht sich davor hin und her, um die Ohrringe zu bestaunen, die sie eben bekommen hatte. Es waren genau solche, wie sie sich gewünscht hatte - goldene Herzchen.
Am 13.06. simste mir Saara, daß Danielle ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht hatte. Tris hingegen hat einen Schicksalsschlag erlitten. Sein Vater mußte ins Krankenhaus wegen eines Hirninfarkts.
Im "Zone" traf ich Ted und Lev. Ted freut sich, weil nun wirklich Schluß ist zwischen Marvin und seiner Freundin. Ted hatte damit gar nicht so schnell gerechnet. Marvin soll Dritten gegenüber sogar gemeint haben, es sei nicht richtig, wie er sich seinem alten Freund Ted gegenüber verhalten habe.
Einen Computer hat Ted immer noch nicht.
"Irgendwann kaufe ich mir mal einen", erzählte er. "Aber jetzt habe ich mir erstmal neue Maschinen gekauft! Die sehen toll aus. Die sind echt was zum Filmen."
Lev ist seit mehreren Jahren mit seiner jetzigen Freundin zusammen. Er lebt nicht mir ihr in derselben Wohnung, aber sie ist kürzlich in seine Nachbarschaft gezogen. Sie möchte Kinder, er nicht.
"Ich wüßte nicht, wozu", meint er. "Ich wüßte auch nicht, weshalb ich heiraten sollte. Heiraten ist für mich wie Gefangensein. Daß ich endgültig meine Freiheit aufgebe."
Vor sieben Jahren habe ich Lev gefragt, weshalb man Kinder wollen könnte. Ich wußte damals selber nicht, weshalb, und ich wußte auch nicht, wozu die Ehe gut sein sollte.
"Was im BGB über die Ehe steht, lehne ich ab", erzählte ich. "Heiraten bedeutete ursprünglich nur, daß ein Mann eine Frau kaufte, um Nachwuchs zu zeugen. Heute haben sich die Zeiten geändert, aber die traditionellen Vorstellungen sind immer noch in der Gesellschaft verankert. Für mich geht es nur darum, meine eigene Definition der Ehe zu finden. Heiraten heißt für mich, daß man sich zueinander bekennt. Rafa hat sich nie zu mir bekannt. Ich will nur Rafa heiraten, und es geht mir darum, daß er ja zu mir sagt."
"Ich will nicht heiraten, weil ich meinen Freiraum brauche."
"Ich denke nicht, daß man unbedingt zusammenziehen muß, wenn man heiratet."
"Und wozu heiratet man dann?"
"Um sich zueinander zu bekennen."
"Auf einem Stück Papier ... und was sagt das aus?"
"Für mich hat es eine wichtige Bedeutung, weil Rafa sich nie zu mir bekannt hat, und die Heirat wäre ein Schritt auf dem Weg, daß er sich zu mir bekennt."
Ich erzählte Lev auch, daß ich erst weiß, daß ich Kinder will, seit Rafa mit dem Thema angefangen hat.
Als ich mit Elaine in die Stadt ging, weil ich ihr als Geschenk zur Einschulung Kleider kaufen wollte, war sie sehr zuverlässig und brav, und ich mußte nie befürchten, daß sie mir verlorengehen könnte. Zum Himmel blickend, schwärmte sie:
"Das wäre schön, wenn die Wolken aus Zuckerwatte wären und ich die essen könnte."
Auf Constris Geburtstagsparty tobten sich kreative Geister im Gästebuch aus. Constri erfand die

Formularbehörde
Öffnungszeiten:
Dienstags
10.00 - 11.00
11.15 - 11.30
11.45 - 12.00

In der "Formularbehörde" konnte man ein Zuteilungsformular für Lebensmittel ausfüllen, handgezeichnet und geschrieben von Rufus, den wir deshalb "Formular-Rufus" nannten. In dem Formular waren tabellarisch Lebensmittel und Getränke aufgelistet, hierzu gehörten auch "Schlopi Halido" (Schloß Pilsener Halber Liter in Dosen), "Schloex Halido" (Schloß Pilsener Export Halber Liter in Dosen), "Löbrä Halido" (Löwenbräu Halber Liter in Dosen), "Löweibi Halido" (Löwenbräu Weißbier Halber Liter in Dosen) und "Tipbi Drilido" (TIP-Bier Drittel Liter in Dosen).
Giulietta stellte Constri in einem Comic als Schnecke dar, die sich beim Nähen versucht und sich im Garn verheddert. Constri wurde auch bei der Pause in der Studentencafeteria abgebildet, wie sie im Sommer mit einem Berg von Pullovern dasitzt vor lauter Bechern, in denen jeweils mehrere Teebeutel mit Früchtetee hängen. Constri friert leicht und schleppt deshalb auch bei warmem Wetter erstaunliche Mengen von Sachen mit sich, die nicht so recht zu den Temperaturen passen wollen.
Spätabends war ich auf Ferrys Geburtstagsfeier. Sie fand im Partykeller statt, der das gesamte Untergeschoß des Wohnhauses einnimmt. Die Musik im großen Saal war meistens sehr laut, so daß ich mich lieber in der Küche aufhielt, die wie eine Bar gestaltet ist. Ein Junge sagte über mich:
"Echt, wenn die tanzt, das sieht gar nicht so aus wie bei den anderen. Die tanzt so durch den ganzen Raum, wie eine Märchenfee."
Am Montagmorgen kurz nach Mitternacht simste Tris:
"War bis jetzt im Krankenhaus, da Vati in der nächsten Zeit einschlafen wird!"
"Ist ja grauenerregend", simste ich. "Kürzlich noch gesund, und jetzt das. Ist er denn ansprechbar?"
"Nein."
"Ich denke, irgendwie versteht er dich schon noch."
Am Nachmittag besuchten Saara und ich Danielle und ihre kleine Tochter Gwyneth im Krankenhaus. Saaras und Danielles ältere Schwester Mariana war auch da. Danielle und Gwyneth ging es gut. Das Kind schläft in einem durchsichtigen Bettchen, das über dem Fußende von Danielles Bett montiert ist. So kann Danielle es immer sehen und sich auch nachts leicht um das Kind kümmern. Wir machten draußen einen Spaziergang mit Gwyneth. Währenddessen simste Tris:
"Vati ist heute früh 6.20 ohne Schmerzen eingeschlafen."
"Wenigstens ohne Schmerzen", simste ich. "Ist er nach dem Infarkt überhaupt nochmal wach gewesen?"
"Er hatte vom Sa. zum So. einen 2. stärkeren HI. bekommen! Am Mi., Do. und Fr. ganz gut drauf, hat viel selber gemacht."
"Hat sich vielleicht übernommen."
Tris berichtete mir, daß die Hirninfarkte Lähmungen der linken Körperhälfte zur Folge hatten und eine Hirndrucksymptomatik:
"Es hat sich ein Druck gebildet, und es waren schon zu viele Zellen abgestorben, sonst hätten sie den Schädel aufgemacht."
"War jemand bei ihm, als er eingeschlafen ist?"
"Von uns leider keiner. Ich war am So. leider nur von 21.00 bis 24.00 da."
"Meine Oma ist damals gestorben, als meine Mutter gerade mal kurz aus dem Zimmer gegangen ist, um einen Kaffee zu trinken, gerade als hätte sie darauf gewartet."
"Meine Mutti ist auch schon über zehn Jahre tot."
"Woran ist die denn so früh gestorben? Hast du wenigstens noch Geschwister?"
"An einer Erbkrankheit, die auch 3 Geschwister haben. Frage mich nicht nach dem Namen, es hat was mit den Nerven zu tun, die nach und nach absterben."
"Hast du auch Geschwister, die nicht krank sind?"
"Ja."
"Wieviele? Verstehst du dich gut mit denen?"
"Mit allen ganz gut."
"Dann bist du ja wenigstens nicht alleine."
"Aber einsam ...", simste Tris am nächsten Tag. "Haste nicht Lust, bei mir einzuziehen?"
"Du weißt doch, ich liebe Rafa", antwortete ich, "auch wenn ich nicht mit ihm zusammenkomme und ihn fast nie sehe. Man kann auch Geborgenheit finden, wenn man keinen Partner hat. Eine Lebensaufgabe ist wichtig und die Fragen: Was will ich wirklich? Was habe ich zu geben?"
Bei "Stahlwerk" berichtete Darien, daß er sein Diplom an der Kunsthochschule als Jahrgangsbester bestanden hat. Als ich ihn beglückwünschte, entwertete er seinen Erfolg:
"Das ist doch nichts Besonderes."
Der Verlag, bei dem er zur Zeit arbeitet, sei dabei, sich herunterzuwirtschaften, deshalb habe er sich anderweitig gekümmert und einen unbefristeten Vetrag bei der Post erhalten. Ich beglückwünschte ihn auch hierzu, und wieder entwertete er seinen Erfolg:
"Da verdiene ich glatt ein Drittel weniger!"
Ich wies ihn darauf hin, daß er als Schwerbehinderter so gut wie unkündbar ist und sich bis zu seiner Rente keine Sorgen mehr zu machen braucht.
Er zieht der Arbeit wegen nach HST. an der Ostsee, das ist etwa zweihundertfünfzig Kilometer von HH. entfernt. Zu den "Stahlwerk"-Parties möchte er weiterhin nach HH. kommen und dann wahrscheinlich bei Heyro und Samantha übernachten. Er meinte, an der Ostsee sei es sehr schön. Ihm gefiel mein Vorschlag, daß wir ihn dort besuchen könnten.
Rega spielte unter anderem ein sehr wildes Stück von Converter von der "Blast Furnace"-Box - "Denogginizer" - und "Kein Weg zurück" von Missratener Sohn alias Derek.
Chantal war mit einigen Bekannten bei "Stahlwerk". Sie hatte sich sehr schick gemacht. Ihr schwarzer Kunstlederminirock hatte eine unten angebaute Tasche, was ihn militärisch aussehen ließ. Die Ärmel ihres engen schwarzrot glänzenden Oberteils bedeckten zum Teil auch die Hände und ließen nur die Finger frei. In die Haare hatte sie sich viele lange Zöpfchen geflochten, und vorne rechts und links waren diese wiederum zu Zöpfen gefaßt. Die Strümpfe hatten seitliche Schnallen, und die Stiefel hatten Plateausohlen und High Heels.
Chantal kann Seraf nicht vergessen.
"Natürlich nicht", meinte ich. "Er kann dich auch nicht vergessen."
Seraf soll wohl eine Freundin haben; genau weiß man das nicht.
Ray kann Clara auch nicht vergessen; er nimmt das aber mit humorvoller Gelassenheit:
"Ist ihr Pech."
Clara möchte ihre Verlobungsfeier aufteilen - vormittags das "Fußvolk", nachmittags die "feine Gesellschaft". Zu dem "Fußvolk" gehören alle, die entweder arm oder alleinstehend sind. Also fallen ebenso Constri und Derek wie auch ich darunter - und natürlich Ray.
Constri und ich werden aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Nordseeinsel sein, wenn die Feier stattfindet. Constri meint, auch sonst hätte sie wohl verzichtet.
Was man so hört, ist, daß Claras neuer Freund recht angeberisch auftreten soll. Er soll allerdings auch schon den Wunsch geäußert haben, mich kennenzulernen.
Ansonsten sehen und hören wir von Clara nichts mehr. Sie zeigt sich nirgends und kommt zu keiner Feier, und das, obwohl sie noch im April gemeint hatte, es tue ihr so gut, im "Radiostern" zu tanzen.
Ende Juni erwanderten Cyra und ich das Südende des Autobahnkreuzes zwischen WOB. und Kingston. Weil das Südende dieses Autobahnkreuzes seit etwa zehn Jahren nicht weitergebaut wurde und brachliegt, hat es sich in eine seltsame, "verwunschene" Welt verwandelt. Kein Mensch geht dort, kein Auto fährt dort. Und diese Welt wollte ich erkunden. Cyra hatte auf diese Weise Gelegenheit, ein Stück unbekannte Heimat kennenzulernen.
Mit Hilfe meiner Landkarte entdeckten wir den Feldweg, der zum Südende führt. Erst war er asphaltiert, dann wurde er zu einem Sandweg, und schließlich lief er aus in einer Wendeplatte aus Ziegelschutt. Wir waren zweihundert Schritte vom Autobahnkreuz entfernt, wo nur noch der Bauer zur Heuernte kommt, der Förster seinen Hochstand hat und sich Fuchs und Has Gute Nacht sagen. Auf gerader Linie, wo der Weg am Waldrand hätte weitergehen können, trieben giftige Herkulesstauden ihr häßliches Unwesen. Cyra wollte munter durch die Herkulesstauden gehen, und ich erklärte ihr, was es mit diesem gefährlichen Unkraut auf sich hat. Sie war wie ich früher viel in Wald und Feld unterwegs und wollte auf jeden Baum klettern, aber erst später machten die scheußlichen Bärenklau-Gewächse unsere Landschaft unsicher. Deshalb wußte sie nichts davon.
"Die darf man gar nicht erst anfassen", erzählte ich. "Die verbrennen die Haut. Die kommen aus Übersee und vertreiben alle anderen Pflanzen. In der Zeitung war schon mal ein Bericht über eine Schülerinitiative zur Ausrottung der Hekulesstaude in BC."
Wir gingen über einen Acker durch hohes Gras. Es hatte tagelang nicht geregnet, und der Boden war ausreichend fest und trocken.
"Wenn ich das erzähle, glaubt mir das keiner", kicherte Cyra.
Ich hatte einen weiten schwarzen Rock an, was sich als praktisch erwies, weil wir am Ende des Ackers über einen Drahtzaun klettern mußten. Dahinter stand eine Reihe Bäume, und dahinter schimmerte das Asphaltband. Cyra sah es als Erste:
"Hee ...!"
Man konnte die Streckenführung gut erkennen, es waren auch Grünstreifen angelegt und mit Gossenwürfeln eingerahmt. Es gab aber keine Fahrbahnmarkierung, und es waren keine Leitplanken angebracht. Am Fahrbahnrand lag ein Stapel unverbauter Leitplanken.
Nach Süden hin riß die Fahrstecke einfach ab und endete in Schotterbergen, Sandhaufen und Schutt. Dahinter gab es noch eine Schneise, die in den Wald geschlagen war. Die Baumstämme waren zu einer dichten Wand aufgestapelt.
"Da haben die einfach all ihren Schutt hingekippt", stellte Cyra fest, "alles, womit die nichts mehr anfangen konnten."
Cyra war begeistert von einer erstarrten Teerlache, die glänzte, als sei sie naß. Cyra mußte den Teer anfassen, um festzustellen, daß er wirklich nicht naß war.
Wir kletterten zwischen Asphaltbrocken herum und fotografierten uns gegenseitig. Es gab auch Asphaltbrocken mit Markierungsstreifen. Überall wuchsen Mohnblumen, Heckenrosen und anderes Grün.
"Daß die das hier einfach nicht weitergebaut haben", sagte Cyra kopfschüttelnd. "VW hat doch ein deutliches Interesse gezeigt an einer Direktverbindung nach BS. Aber die wollen das halt nicht alleine bezahlen."
Westlich vom Südende stand ein hoher Gittermast mit einem Gebäude daneben und einem Zaun um das Grundstück. In nördlicher Richtung sah man die befahrenen Schleifen des Autobahnkreuzes. Cyra riet, nicht zu nahe dort heranzugehen, damit uns keiner beobachtete oder meldete.
"Wann werden wir wohl mal erwachsen?" fragte Cyra.
"Hoffentlich nie", meinte ich. "Das wäre eine Katastrophe."
Einige Tage später war ich nach der Arbeit zum Abendessen bei Deon. Er möchte gerne eine Ausbildung machen und möglichst im Grünen arbeiten. Seine ABM-Stelle im botanischen Garten ist schon vorbei.
Ich tauschte mich mit Deon über makabre Modegags aus. Deon hatte den Einfall, daß nach Tattooing, Piercing, Branding, Amputating und Beheading noch etwas anderes bald "hip" sein könnte:
"Waffeling."
"Was ist das denn?"
"Na - so mit dem Waffeleisen ..."
Er mimte jemanden, der sich mit einem Waffeleisen Muster auf die Haut brannte.
Dem könnte man noch "Ironing" hinzufügen - mit Bügeleisen - oder das Branding mit eigenen Musterschablonen ... oder das Musterschneiden mit Rasierklingen oder das Musterbrennen mit Zigaretten ...
Ein persönlichkeitsgestörter Patient, der in Kingston behandelt wurde, hatte tatsächlich eine ästhetische Form der Selbstverletzung gewählt - Schnörkel stechen.
Ich erzählte Deon die Witze, die ich in der Akutpsychiatrie gehört habe:

Zwei Folterknechte unterhalten sich:
"Wieviele hast du denn auf Zelle?"
"Fünfunddreißig und ein paar Zerquetschte."

Was sucht ein Einarmiger beim Stadtbummel? Einen Second-Hand-Shop.

Ein Blinder kommt mit seinem Blindenhund in eine Kneipe. Er reißt den Hund herum und dann gleich wieder zurück.
"Was machst du denn mit deinem Hund?"
"Na, man wird sich doch nochmal umschauen dürfen?"

Es gab auch wieder unfreiwillige Komik. In einem Aufnahmebefund hatte ich diktiert:
"Sein Chef könne nicht aufhören zu nörgeln."
Die Sekretärin hatte geschrieben:
"Sein Chef könne nicht aufhören zu nageln."
Im "Read Only Memory" traf ich Edaín.
"Wahrscheinlich wird es ein Mädchen", erzählte sie.
"Dann ist es also Maya", folgerte ich.
"Sie ist immer ruhig, wenn viel Lärm ist. Dann schläft sie. Erst wenn alles ruhig ist, fängt sie an zu strampeln."
"Dann geht sie nach dir."
"Ich hoffe, daß sie aussieht wie Kappa!" sagte Edaín. "Daß sie so große Augen hat! Das muß süß aussehen!"
Lucas und einer seiner Brüder haben in diesem Sommer das Abitur bestanden. Lucas möchte vielleicht Sozialpädagogik studieren. Doro, die Schwester von Lucas, macht eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin.
Eine Bekannte von Lucas erzählte mir, daß sie vor längerer Zeit mit Sasch zusammen war. Es sei aber nur eine Bettgeschichte gewesen, nichts Ernstes.
"Sasch wird sich nie ändern", meinte sie, "aber er ist süß! Und wenn man mal kurz was für zwischendurch will ..."
Das Stück "Arbeit adelt!" von Rafa findet sie ganz gut. Daß Rafa seit sieben Jahren nicht mehr arbeitet, hatte sie noch nicht gewußt.
Anfang Juli war ich mit Cyra im "Fractal". Mittwochs ist es dort nicht so voll, nicht so teuer und musikalisch härter, es gibt Hard Trance und Dark Trance, melancholische, redundante, sehr rhythmusbetonte Musik. Dieser monotone Techno übt einen Sog auf mich aus; ich kam in den nächsten zwei Stunden fast nicht mehr von der Tanzfläche.
"Man kann nicht aufhören", beschreibt Cyra das Phänomen. "Geht nicht. Man muß immer weitertanzen, ob man will oder nicht."
Sie verhielt sich ähnlich wie in den Discotheken, wo sie auflegt: sie war nicht auf der Tanzfläche, sondern davor an einer Wand und tanzte auf sehr engem Raum. Ich hingegen konnte mich mit der Tanzfläche, die vorhanden war, fast nicht begnügen.
Die meisten Gäste waren sehr jung, wesentlich jünger als in den dunklen Szene-Discos. Sie trugen eine uniformartige Bekleidung - Schlaghosen, immer nach der neuesten Mode, immer mit dem gleichen Schnitt, immer in hellen, bunten Farben. Alles mußte trendy sein, Ausnahmen waren eine Rarität. Am schrillsten fand ich ein junges Mädchen, das mit einem gemusterten Schnuller im Mund herumlief, den es an einer Kette um den Hals trug. Das erinnerte mich an das Lätzchen aus schwarzem Satin mit schwarzer Bommelborte, das ich 1986 für meine Szenegarderobe genäht habe. Mit Glitzerkleber habe ich ein Motiv daraufgemalt, das auf einem Dia der Virgin Prunes vorkommt, das sie damals während eines Auftritts gezeigt haben: ein Haus mit einem Baum daneben, zu der rauhen, atonalen Maxi-Version von "Sweet home under white clouds".
Am Freitag war ich mit Ray und Rega in BI. im "Jugendheim". Ich hatte Cyra schon davon erzählt, als sie kürzlich mit mir ins "Jugendheim" fahren wollte, weil dort eine Industrial-Techno-Party stattfand:
"Das ist die ekligste Location der Welt. Da gibt es keine Klos, sondern nur Löcher im Boden, und da laufen zugekiffte Zecken herum, von denen man nicht weiß, was sie alles klauen."
Cyra hatte denn auch keine Lust, heute mitzukommen:
"Ih, nee, muß nicht sein."
Dabei traten Converter und Morgenstern auf, Industrie-Acts der ersten Ordnung vom Label Ant-Zen. Ich muß die Verhältnisse im "Jugendheim" so lebendig geschildert haben, daß sich Cyra schon bei dem bloßen Gedanken innerlich alles umdrehte.
Das mit der Toilette konnten wir vorher an der Tankstelle erledigen. Wir kamen zu guter Zeit - rechtzeitig, aber nicht zu früh. Claire und Cal waren da und erzählten, daß Philipps Freundin Rixa ein Kind erwartet und daß Philipp deshalb mit ihr nach H. ziehen will, also zwischen PE. und BI. Rixa will ihre Stelle in PE. behalten, wo sie bisher wohnte. Philipp will sich im Umkreis von H. etwas Neues suchen.
Es gab Ant-Zen-Merchandizing in dem raffinierten Design von Label-Kopf Salt. Viele Gäste trugen Ant-Zen-T-Shirts mit Salt-Motiven. Ich finde, daß Salt endlich einmal die Anerkennung als eigenständiges Design-Label und eigenständiger Künstler bekommen müßte, wie Piet Mondrian mit den Mondrian-Mustern. Ich nahm einen Haufen kostenloser, hochwertiger Aufkleber im Ant-Zen-Dekor mit und kaufte die aktuelle CD des Musikers Asche. Rega kaufte gleich fünf CD's.
Auf der Bühne konnte Morgenstern, die Freundin von Asche, mich und den Rest im Saal begeistern. Alles war in Bewegung. So rhythmisch ging es auch weiter bei Converter. Die Veranstaltung war gut besucht mit echten Fans, die der Musik wegen gekommen waren. Die staubigen "Zecken" aus dem Stammpublikum waren kaum zu sehen.
Auf dem Rückweg hielten wir auf der Raststätte HF. zu einer Art Nachtmahl. Ich bestellte mir Hühnersuppe, wie immer. Rega und Ray verstehen sich so gut, daß man sie sich selbst überlassen kann, wenn man im Bad mit der "Fassadenrenovierung" beschäftigt ist.
Rega übernachtete bei mir im Gästezimmer. Mittags, als wir aufwachten, holte er Brötchen zum Frühstück. Ich nahm einige Stücke von seinen neu gekauften CD's auf. Nachmittags fuhr er mit dem ICE weiter zu seiner Freundin Casyle nach F. Dort gab es eine Geburtstagsfeier in Casyles Verwandtschaft.
Abends war ich bei Merle, die ihren Geburtstag feierte. Sie hatte gute Laune und viele Gäste. Onno hatte seine Feier mit ihrer zusammengelegt.
Giulietta erzählte von dem Dauerärger mit ihrem Bass, einer Eroberung aus der Oper von HB. Er hatte ihr mitgeteilt, daß er nicht mehr als eine Bettgeschichte will.
"Und dann bin ich nachts alleine durch den Park gegangen und habe darauf gewartet, daß ein Mörder kommt", berichtete sie. "Aber da kam keiner! Ich habe mich extra noch auf eine Bank gesetzt, eineinhalb Stunden lang, und kein Mörder war zu sehen. Ja, wenn man schon mal nachts durch den Park geht, um einen Mörder zu finden, findet man garantiert keinen! Dabei hätte es mir wirklich nichts ausgemacht, ermordet zu werden!"
Einige Tage später war Saara bei mir zum Kaffee. Sie rief bei Rafa an, um in Erfahrung zu bringen, ob er das Minipiano inzwischen wiedergefunden hatte. Seine Mutter nahm ab. Saara nannte ihren Namen und fragte, ob Rafa da sei.
"Weiß ich nicht", war die unfreundliche Antwort.
Die Mutter deutete nicht einmal an, daß sie nachschauen wollte, ob er da war.
"Könnten Sie ihm einen Zettel schreiben?" fragte Saara.
"Ja, das kann ich machen."
Saara meinte, sie solle schreiben, daß Saara um Rückruf bitte. Ihre Nummer nannte sie nicht noch einmal; sie sagte zu der Mutter, daß Rafa die wohl noch haben würde.
"Ohh - die war aber giftig!" stöhnte Saara nach dem sehr kurzen Gespräch. "Sonst war die doch immer höflich!"
Wir wälzten Vermutungen und überlegten, ob die Mutter, die inzwischen siebenundsechzig Jahre alt ist, vielleicht unlängst in Rente gegangen ist. Es kann sein, daß in der Zeit, die sie nun zu Hause verbringt, andauernd Anrufe für Rafa kommen, und der Mutter geht das ewige Läuten des Telefons auf die Nerven.
In Rafas Online-Gästebuch überschlugen sich die Fans wie gewohnt in Lobpreisungen, nur selten durch vorsichtige Anfragen unterbrochen, wann denn das nächste Album erscheint. Saara schrieb unter dem Namen "Fröschlein":

Guten Abend Rafa, mich interessiert es doch sehr, ob Du Dich bereits informiert hast. Informiert? Ich sage nur Elfer raus. Und, macht es klick?

Am selben Abend noch schrieb ein Mädchen namens "Gigi":

Ich kenn Elfer raus! stolz ;-)

Als ich das am nächsten Tag las, schrieb ich unter "n.n.":

Echt, jemand kennt "Elfer raus!" Das begeistert mich. Kürzlich haben wir das sieben Runden lang gespielt.

Rafa fand das tags darauf und meldete sich unter dem Namen "Seitenpolizei":

Entschuldigung, meine Damen ... aber wollen Sie das Gespräch über "Elfer raus" nicht lieber in der Themenbörse weiterführen? Dieses Gästebuch soll nicht so enden wie alle anderen : ).

Er konnte wohl nicht ertragen, daß sich andere Leute in seinem Gästebuch amüsieren, ohne daß er im Mittelpunkt steht. Vielleicht erinnert er sich noch mit Schrecken daran, wie ich auf seiner Geburtstagsfeier die Leute mit schrägen Witzen unterhalten habe. Er hatte mich damals darauf aufmerksam gemacht:
"Du bist doch hier der Entertainer."
Vorher war mir gar nicht bewußt gewesen, daß ich die Aufmerksamkeit der Leute fesseln kann.
Bemerkenswert finde ich, mit welcher Sicherheit Rafa die Pseudonyme "Fröschlein" und "n.n." weiblichen Personen zuordnet.
Auf der Fahrt ins "Zone" erzählte mir Roman, weshalb er aus dem therapeutischen Kunstprojekt herausgeflogen ist, in dem er letztes Jahr mitgearbeitet hat. Er hatte eine Beziehung mit einer Mitpatientin begonnen, wie er es häufig tut. Sie hat eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, die in der Mehrzahl der Fälle durch Kindesmißbrauch entsteht, und sie konnte deswegen ihre persönliche Sphäre nicht ausreichend abgrenzen und ihren Willen weder eindeutig erkennen noch eindeutig zeigen. Roman, dem es aufgrund seiner eigenen Persönlichkeitsstörung sehr schwer fällt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, nahm diesen Umstand nicht wahr und glaubte ihr, als sie sich mit den von ihm bevorzugten sadomasochistischen Praktiken einverstanden zeigte.
"Ich merke die Grenzen nicht", erklärte Roman, "das ist mein Problem."
"Deine schizoide Persönlichkeitsstörung hast du auch irgendwoher", meinte ich, "immerhin bist du als Kind mißhandelt worden."
Roman schätzt an der Sadomaso-Welt, daß es dort einfach ist, Grenzen festzulegen und wahrzunehmen - vorausgesetzt, die Betreffenden sind seelisch ausreichend stabil. Die meisten von ihnen sind das durchaus; in der Regel sind sie sozial angepaßt und voll berufstätig. Mit "Mayday" und "Stop" weisen sie ihre Folterknechte auf ihre Grenzen hin, die dann in aller Regel akzeptiert werden. Roman paßt freilich auch in diese Welt nicht so recht hinein; er ist Frührentner, aufgrund seiner Persönlichkeitsstörung. Und er hat mit den von ihm so geschätzten Grenzen erhebliche Schwierigkeiten.
Mit seiner Freundin Nina mußte Roman mehrere Absprachen treffen, um die Beziehung nicht zu gefährden. Sie ist selber als Kind mißbraucht worden, hat aber keine emotional instabile Persönlichkeitsstörung entwickelt. Stattdessen macht sie einen Teil der Praktiken mit, die Roman bevorzugt.
Im "Zone" liefen unter anderem "Celluloïd Mata vs. Oil 10" von Celluloïd Mata, "Angst" von Xotox und das makabre "Spieluhr" von Rammstein, wo ein Kind singt:
"Hoppe hoppe Reiter, mein Herz schlägt nicht mehr weiter."
Am Samstag war ich mit Deon, Ray und Zoë im "Radiostern". Curtis hatte sich feingemacht; er trug einen langen weißen Rock mit aufgenähten schwarzen Bändern.
Im Morgengrauen saß Cyra vorm "Radiostern" in ihrem Jetta und seufzte, daß sie endlich ein anderes Auto haben will.
"Aber der tut's doch noch", meinte ich.
"Ja, schon", entgegnete sie, "aber der hat so wenig PS."
Sie erzählte Curtis, daß sie im Jahr 50.000 Kilometer fährt.
"So wenig nur?" fragte Curtis.
"Wenig?" fragte Cyra zurück.
"Ich fahre auch 50.000 Kilometer im Jahr", erzählte ich. "Das sind über hundertsiebzig am Tag."
"Wo fährst du da denn immer 'rum?" fragte Curtis. "Arbeitest du nicht in H.?"
"Nein, ich arbeite in Kingston. Und dahin fahre ich von H. aus jeden Tag."
"In Kingston? Da wollte ich mal hin. Da habe ich ernsthaft überlegt, ob ich mich da einweisen lasse."
"Und warum wolltest du da hin?"
"Weil ich gedacht habe, ich komme nicht mehr klar."
"Ach, sowas haben wir öfter - ganz normale Leute mit Problemen. Die kommen dann im Nachtdienst und sagen, also, ich habe da voll die Probleme ... und dann frage ich:
'Was kann ich denn für Sie tun? Womit kann ich dienen?'
Und dann kommt:
'Also, eigentlich weiß ich noch gar nicht richtig, ob ich überhaupt hierbleiben will.'
'Also, das sollten Sie eigentlich doch schon wissen ...'"
"Sag' mal, etwas, das frage ich mich immer noch - wie ist das eigentlich mit der Schizophrenie - ist das so, wie wenn man einen Schalter umlegt, und dann ist man gleich ein ganz anderer Mensch?"
Ich erklärte, daß Schizophrenie nicht bedeutet, daß man eine gespaltene Persönlichkeit hat. Gespaltene Persönlichkeiten gehören zu den sogenannten Dissoziativen Störungen und gelten als Reaktionen auf schlimme Erfahrungen in der frühen Kindheit, wie etwa sexueller Mißbrauch:
"Das Opfer von Mißbrauch spaltet Teile von sich ab, weil es sich vor dem Täter nicht anders schützen kann. Es flieht vorübergehend in einen Wesenszustand, in dem das Opfer nicht mehr in sich selbst ist. Die Dissoziativen Störungen gehören zu den Posttraumatischen Störungen, wie auch die Borderline-Störung oder Emotional-instabile Störung. Die Menschen, die so etwas haben, sind meistens sexuell mißbraucht worden, und der Rest ist schwer mißhandelt oder vernachlässigt worden. Wir kriegen dann die Opfer in die Psychiatrie. Denn das Trauma kommt immer wieder hoch, die Erinnerung verselbständigt sich, und die unternehmen oft Selbstmordversuche, oder sie schneiden sich, um zu sich selbst zurückzufinden."
"Schneiden? Das kommt daher?" staunte Curtis. "Ich hatte nämlich mal eine Freundin, mit der war ich sechs Jahre lang zusammen, und am Ende ging das einfach nicht mehr. Die hat immer wieder Wutausbrüche gehabt, und dann hat die sich irgendwohin gesetzt und sich geschnitten. Dabei hatte die dann einen Blick ... die hat einen gar nicht mehr gesehen, die hat durch einen durchgeguckt."
"Das ist der dissoziative Tunnelblick. Die ist wahrscheinlich als Kind sexuell mißbraucht worden. Es würde zur Symptomatik passen."
"Ach ...! Dann muß ich mit der mal reden! Unbedingt muß ich mit der reden!"
Ich bin gespannt darauf, was Curtis herausbekommt. Schließlich gibt es auch Mißbrauchsopfer, die an die Tat keine Erinnerung mehr haben oder nicht darüber sprechen möchten.
Mitte Juli war ich mit Onno, Revil und Ray in GS. bei einem Konzert von Corvus Corax. Auf der Fahrt kamen wir an einem Bahnsteig vorbei, hinter dem sich Industrieanlagen befanden. Wir fotografierten uns gegenseitig im Sonnenschein auf dem Bahnsteig mit den Industrieanlagen als Kulisse.
Corvus Corax traten open air auf, was mir nicht gefiel, das Konzert jedoch gefiel mir. Und an einem Markstand im mittelalterlichen Stil gab es etwas besonders Leckeres: Krustenbraten in sehr frischem, krossem Weißbrot. Manchmal sind die einfachsten Dinge die besten, finde ich.
Im Auto erzählte Onno von seiner Arbeit in der telefonischen Kundenbetreuung einer Firma, die Artikel für Arbeitssicherheit vertreibt. Die Telefonlisten enthalten Nachnamen, von denen man kaum glauben möchte, daß wirklich jemand so heißt. Es scheint aber doch so zu sein, denn die Kunden melden sich tatsächlich mit diesen Namen. Onno hat manchmal zu kämpfen, daß er nicht laut loslacht.
Als Onno, Revil, Constri und ich einige Tage später in der Kakaostube saßen und Fotos austauschten, diktierte Onno mir eine Sammlung der merkwürdigsten Nachnamen:
Tuntenbrummer, Scharfstöhn, Tiefstoß, Pullerbacke, Strulli, Schniedelzwerg, Wanzenfuß, Warzenschuß, Schnarchsieger, Stangenprügel, Knochenputzer, Pleitensammler, Pockenschädel, Penner-Vierschuß, Strohkopf, Weichei, Mösenstreichler, Pillenstrolch, Puffgott, Naßeichel, Müffelschoß, Sorgenkäfer, Gipskopf, Grapscher, Blondschoß, Mösenstöpsel, Dummer, Sonnenstich, Duftdackel und Nonnenbläser.



Am Samstag fuhren Constri, Gesa und ich nach Ht., um dort zu filmen. Zuerst gab es Frühstück bei Ted, mit frischen Brötchen. Auch Blanca war da. Sie ist mit ihrem Freund zusammengezogen, den sie seit einem guten Jahr hat. Er ist Motorradfan und war gerade als Zuschauer bei einem Rennen.
Ted glaubt immer noch nicht, daß Cyan wirklich in dem schwulen "Fummelkino" war, wo Carl ihn gesehen hat. Er glaubt allerdings auch nicht, daß Cyan "ein hundertprozentiger Hetero" ist, was dieser vorgibt.
"Erst treibt er es mehrmals mit mir", erzählte Ted, "und dann will er hetero sein?"
"Aaach ... er hat es mit dir sogar getrieben?" staunten Constri und ich.
"Weiß seine Frau überhaupt davon?" fragte ich nach.
"Natürlich nicht!" kam es von Ted.
"Ah ... sooo einer ist das ...!"
Constri meinte:
"Klar, das sind genau die Leute, die in schwule Fummelkinos gehen!"
In Teds Fabrikhalle filmten wir mit drei Kameras noch einmal die Szene, wo die Stahlwaage mit dem Requiem-Text beschrieben wird. Es gab elf Einstellungen, wesentlich mehr als beim letzten Mal. Die Waage wurde zweimal beschrieben und zwischendurch abgewischt. Dadurch war sie sauber, und ich konnte mich zuletzt auf die Kreidebuchstaben legen. Constri will das Material in einem Film verarbeiten, mit dem sie eine Fachprüfung machen will, Typografie. Mit dem Programm "After Effects" sollen die Kreidebuchstaben ausgeschnitten und über die Filmaufnahmen gelegt werden.
In der Pause, als die Stahlwaage trocknete, holten Blanca und ich von "McGlutamat" Essen für alle, und es wurde zwischen Gabelstapler und aufgetürmten Stahlblechen ein zünftiges "Glutamat-und-Formfleisch-und-Fritten"-Mahl angerichtet.
Abends gab es Cola, Tee und Fruchtgummis bei Ted. Es wurde über Politiker geredet und die Frage, was die so verdienen, ob die das eigentlich verdienen, ob Politiker ein wünschenswerter Beruf ist und welches Sozialprestige dieser Beruf hat.
"Eine so intelligente Frau wie Hannelore Kohl, immer hat sie für ihren Mann ihr Licht unter den Scheffel gestellt und ist schließlich so von ihm hinters Licht geführt worden", war unser Fazit über das traurige Ende eines Schattendaseins in der Dunkelkammer.
Erst gegen drei Uhr nachts kam ich ins "Exil". Ich hatte das silberne Organza-Kleid an und nur ein leichtes Jäckchen darüber. Vom Eingang her dröhnte mir schon Rafas Mikrophonstimme entgegen. Er sagte unten mehrere Bingo-Zahlen durch. Edaín stand am Kassiertisch und gab mir meinen Bingo-Zettel.
Unten war wenig los; das lag wahrscheinlich nicht nur an der Parallelveranstaltung im "Lost Sounds", sondern auch an der vorgerückten Stunde. Rafa stand in der vorderen Area am Pult, in der grauen Jacke mit dem Schnörkelmuster, die er auch beim Aufbauen der Bühne in L. anhatte. Berenice lief in seiner Nähe herum. Sie trug ein langes schmales Trägerkleid mit glitzernden Schrägstreifen in verschiedenen Brauntönen, wie es zur Zeit Mode ist. Die Haare hingen glatt herunter und waren noch länger geworden.
Die Musik war weder in der vorderen noch in der hinteren Area für mich zum Tanzen geeignet; es liefen Synthi-Pop und NDW. Außer Kappa, Edaín und Rafa waren keine Bekannten im "Exil". Weil Kappa beschäftigt und Rafa vergeben war, konnte ich mich nur mit Edaín unterhalten und dann über sie noch andere Leute kennenlernen. Ich stellte mich in der vorderen Area gut acht Meter vom DJ-Pult entfernt hinter eine Säule und überlegte mir eine geeignete Vorgehensweise.
"Wenn ich hier keinen kenne, mache ich die Leute eben zu meinen Bekannten", dachte ich.
Links neben der Säule sah ich Berenice hervorkommen, und als ich nach rechts auswich, kam sie nun von rechts.
"Hallo Hetty!" rief sie laut, mit einer spitzen, höhnischen Stimme, wie ich sie von meinen früheren Klassenkameradinnen kenne.
Ich drehte mich weg, ohne etwas zu entgegnen. Berenice packte mich von hinten an der Schulter und riß mich am Ausschnitt, so daß ich schon um mein Kleid fürchtete. Es half nichts, hier mußte ich mich verteidigen. Ich griff nach ihren dünnen Armen, um sie abzuwehren. Als ich eben ausholen wollte, um ihr eine Ohrfeige zu verpassen, schob sie mir einen kleinen, flachen Gegenstand aus Plastik zwischen die Finger. Ich wollte sie schon damit schlagen, da rief sie noch lauter und ebenso höhnisch:
"Hetty, das ist deins! Das ist deins!"
Und sie lachte schrill. Ich erkannte das Minipiano und ging weg, um es einzupacken. Dann stieg ich die Treppe hinauf zum Eingang und sagte zu dem gewichtigen Security-Mann, der bei Edaín am Kassiertisch stand:
"Da unten ist jemand, der braucht eine Predigt."
Er kam sogleich mit.
"Es ist eine Tussi", erzählte ich. "Sie ist einfach so auf mich zugelaufen, ohne einen Grund, und hat mich am Ausschnitt gepackt und mir fast das Kleid zerrissen."
Berenice stand bei Rafa neben dem DJ-Pult. Ich ging mit dem Security-Mann in ihre Richtung und zeigte quer durch den Saal auf sie, so daß es von allen Seiten gut zu sehen war. Dann zog ich mich zurück und ließ den Security-Mann seines Amtes walten. Der war nach wenigen Augenblicken fertig und ging hinter mir wieder nach oben.
"So hat sie das gar nicht gemeint, hat sie gesagt", erzählte er.
"Also läßt sie mich jetzt in Ruhe?" fragte ich.
Er nickte.
"Dann ist ja gut", seufzte ich und fuhr zu Edaín gewandt fort:
"Das war die Schlampe von Rafa. Die ist eben auf mich losgestürmt und hat mich am Ausschnitt gerissen, so daß ich mich schon innerlich von meinem Kleid verabschiedet habe."
"Das kann ich mir gar nicht vorstellen", staunte Edaín.
"Die ist einfach so auf mich losgegangen", erzählte ich weiter. "Ich habe gar nichts gemacht, ich war einfach nur vorhanden. Das war echt eine Begegnung der dritten Art. Also, ich vergreife mich nicht an der, das habe ich nicht nötig."
"Das kann ich mir von der gar nicht vorstellen."
"Es gibt unten mehrere Leute, die haben das auch gesehen. Aber du wirst mir schon glauben. Jedenfalls - auf den Schreck ... wenn ich rauchen würde, würde ich sagen, auf den Schreck brauche ich erstmal eine Zigarette. Aber ich rauche ja nicht."
Edaín rauchte. Ganz hat sie es noch nicht aufgeben können.
"Kappa ist jetzt erst von den Malediven zurück", erzählte sie. "Ich habe ihn zusammen mit einem Musikproduzenten auf Urlaub geschickt. Er macht doch die Erziehungszeit, wenn ich wieder voll arbeite. Und da hat der vorher nochmal Urlaub gebraucht."
"Ach, er kümmert sich dann um die Kleine? Das ist ja schön."
Im "Exil" war schon fast nichts mehr los. Mehrere Leute kamen vorbei, die sich verabschiedeten; einige blieben zum Schwätzchen stehen. Einer half Edaín dabei, alle Bingo-Zettel, die noch nicht ausgegeben waren, zu sichten. Edaín hatte alle Zahlen notiert, die Rafa schon durchgesagt hatte, und sie bat mich, auch meinen Zettel zu holen. Ich tat das, und Edaín führte mir vor, daß mir nur noch eine von den neun Zahlen fehlte, dann hätte ich gewonnen. Es war die "22".
"Und mir fehlt die '31'", sagte der Mensch, der mit Edaín die Zettel durchsuchte und sich schon einen vielversprechenden genommen hatte.
Ein Junge schwärmte von den frühen Tagen der NDW. Ich erzählte, daß ich im Februar ein Konzert von Joachim Witt gesehen habe:
"Der hatte eine Jugendphase, und jetzt hat er die reife Phase. Der hat sich wirklich weiterentwickelt."
"Das ist schön, wenn jemand in der Lage ist, sich weiterzuentwickeln", meinte der Junge.
"Leute, die sich nicht weiterentwickeln, kennen wir genug", sagte ich mit dem Gedanken an Rafa. "Joachim Witt hat gezeigt, daß er sich weiterentwickeln kann. Er wirkt auf der Bühne sehr lebendig und charmant."
Rafa machte wieder eine Durchsage; gut verständlich schallte seine Stimme bis hinauf zum Kassiertisch. Er erzählte, daß sein Assistent wieder neue Zahlen ziehen werde, und gezogen seien schon -
Rafa nannte in einem hektischen Stakkato mehrere der bereits gezogenen Zahlen und unterbrach sich mit den Worten:
"Ist ja sch...egal ... steht sowieso unten am DJ-Pult ..."
Als Nächstes zog der Assistent die "22".
"Du hast gewonnen!" freute sich Edaín. "Dann geh' mal 'runter!"
Ich ging langsam geradewegs auf das DJ-Pult zu. Rafa stand vorn, und ein Stück weit hinter ihm wachte Berenice. Ich hielt meinen Zettel in die Höhe, so daß Rafa ihn sehen konnte. Er nahm ihn und ließ ihn erst einmal auf das DJ-Pult fallen, fand ihn aber sogleich wieder, verglich die Zahlen und sagte zu mir, über das Pult gebeugt:
"Das machen wir nach dem Stück."
Es lief "Verschwende deine Jugend" von DAF.
"He, '31' hätte er sagen sollen", sagte der Mensch zu mir, der mit Edaín die Zettel durchgesehen hatte. "Aber bei mir wäre es ja eh geschummelt."
"Verschwende deine Jugend" gefällt mir sehr, und ich tanzte dazu, nach einigem Zögern, trotz der Aufregung. Danach berichtete Rafa durchs Mikrophon, es gebe schon zwei Gewinner; einmal einen Herrn. Der Gewinner kam hinters Pult.
"Fünfundzwanzig Mark", sagte Rafa durchs Mikrophon. "Viel Spaß im Kino."
Dann fuhr er fort:
"Jetzt kommen wir zum zweiten Gewinner, das ist eine Frau. Einmal 'Reproduction' von Human League und einmal 'Träume mit mir' von Grauzone. Das sind die Original-Ausgaben in Vinyl."
Er reichte mir die beiden Platten über das Pult. Das Cover von "Reproduction" handelt vom Kinderkriegen; man sieht Frauen, gekleidet im Stil der Fünziger, und viele Babies. Auf dem Cover von "Träume mit mir" ist eine Ballerina zu sehen, in Grautönen, vor einem kühlen, fast industriellen Hintergrund, ähnlich wie in Constris Filmaufnahmen. Es kam mir so vor, als wenn Rafa seine Auswahl nicht zufällig getroffen hatte.
"Also, ich würde mich über den Gewinn freuen", sagte er abschließend und wirkte dabei etwas schüchtern.
Ich sah ihn freundlich an und nickte. Dann ging ich mit den Platten weg, packte sie ein und verließ das "Exil". Edaín war schon nicht mehr am Kassiertisch.
Im Auto hörte ich einen elektronischen Rhythmus, obwohl die Anlage nicht lief. Ich schaute in meiner Tasche nach und stellte fest, daß das Minipiano sich eingeschaltet hatte. Ich hatte schon ganz vergessen, daß das Piano Rhythmustasten hat, mit verstellbarer Geschwindigkeit. Jede Taste funktioniert noch. Rafa muß das Piano erst kürzlich mit frischen Knopfzellen bestückt haben.
Zu Hause rief ich die Online-Gästeseite von Rafa auf und schrieb unter dem Namen "11":

Sogar an frische Knopfzellen hast du gedacht ... thanx. Auch das Vinyl ... schön.

Er kann hierdurch erfahren, daß alles heil übergeben worden ist und dankbar angenommen wurde.
Wer auf die Idee kam, daß ausgerechnet Berenice mir das Minipiano geben sollte, bleibt ungewiß. Es kann sein, daß Rafa es mir selbst geben wollte und daß Berenice das nicht recht war. Es kann aber auch sein, daß er Berenice damit beauftragt hat:
"Gib der das mal, ich kann hier gerade nicht weg."
Jedenfalls war Berenice nicht gezwungen, mir das Piano zu geben. Sie hätte es ablehnen können. Sie muß es also aus irgendeinem Grund gewollt haben, vielleicht als Aufhänger, um mich anzugreifen.
Saara glaubt, daß Berenice Angst vor mir hat, weil sie denkt, daß ich ihr Rafa wegnehmen könnte. Immerhin hat Berenice viel Aggressivität gezeigt und viel Energie investiert.
"Wenn man sich in einer Beziehung geborgen und sicher fühlt, würde man viel gelassener bleiben", meint Saara. "Man würde gar nicht das Bedürfnis haben, auf seine Rivalen einzuschlagen."

.
.