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Der Längsgestreifte

"Der Tod ist unumkehrbar, und jede Justiz ist fehlbar."
(Feindflug - "Sterbehilfe")
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Juli 2000. Katharins Suche geht weiter. Sie hat einen Hinweis: Längsstreifen ...

Katharin sah vom Bett aus nur den blaßgrauen Himmel, durchbrochen von stählernen Balken, die eine gläserne Überdachung trugen. Der Balkon war weitgestreckt und mit Stahlgeländern unterteilt, so daß jede Wohnung im Dachgeschoß einen Abschnitt besaß. Auf dem Boden lagen silbrig-weiße Steinplatten. Draußen war es neblig und verhangen, und die Dunkelheit fiel schnell. Eine Lichterkette verwandelte Katharins Zimmerdecke in einen Sternenhimmel, der sich in der hohen Fensterwand spiegelte. Die Balkontür stand offen. Katharin fühlte keine Kälte. Sie lag in einem grauen Fleecekleid auf ihrem leinenen Bettüberwurf und wartete darauf, daß das Fieber sank, damit sie wieder arbeiten gehen konnte.
Das Jahr schien sich schon neigen zu wollen, dabei war es erst zur Hälfte herum.
Die Abendglocken klangen durch die regenschwere Luft und mischten sich in ein dahinfließendes Stück von Feindflug, "Roter Schnee".
"Ich fühle mich lebendiger als je zuvor", dachte Katharin, "dabei habe ich mich damals, mit achtzehn, schon beinahe für tot gehalten."








Jemand ging auf den Balkon der Nachbarwohnung hinaus und schaute mit neugierigen Blicken umher.
"Daß ich dich hier treffe, ausgerechnet hier", staunte er. "Darf ich?"
Sie nickte, und er kletterte über das Geländer.
"Ich habe dich im 'Fractal' gesehen", erzählte der Fremde. "Beim Tanzen."
"Im 'Fractal' ist es schön."
"Du bist immer am Tanzen, da kommt man gar nicht zum Reden."
"Das erscheint dir vielleicht nur so. Ich unterhalte mich viel."
"Weißt du, woran ich gemerkt habe, daß du hier sein mußt?"
"Woran?"
"Das, was hier läuft, ist die 'Sterbehilfe'-EP von Feindflug."
"Richtig."
"Du hast das nur leise an, aber es war zu erkennen."
"Diese EP ist so ruhig und unaufdringlich und gleichzeitig melancholisch und weltabgewandt", beschrieb Katharin. "Das ist das, was ich brauche."
"Und was verbrennst du da vorne?"
"Nagchampa Agarbathi", las Katharin von der Schachtel ab. "Den Namen kann ich mir nicht merken. Sonst verdampfe ich meistens schwarzgoldenen Weihrauch. - Mit mir ist gerade nichts los, ich muß abwarten, bis die Grippe weg ist. Das macht mich ungeduldig. Die anderen müssen all die Arbeit für mich machen, deshalb mache ich mir Vorwürfe."
"Würdest du nicht auch die Arbeit für die anderen machen, wenn sie krank wären?"
"Doch, sicher, von dieser Seite aus betrachtet ist das für mich ganz einfach. Aber ich will nicht, daß ich diejenige bin, die ausfällt."
"Dann mißt du mit zweierlei Maß."
"Richtig."
"In deinen Augen haben die anderen mehr Rechte als du."
"Richtig."
"Ich hoffe, daß du es schaffst, dich von dieser Denkweise zu verabschieden."
"Das hoffe ich auch."
Katharin wünschte sich, diese abgeklärte Unterhaltung noch auf unbestimmte Zeit weiterzuführen. Seit der Fremde in ihrem Zimmer stand, war es, als wenn er schon immer hierher gehört hätte.
"Wohnst du nebenan?" erkundigte sich Katharin.
Er schüttelte den Kopf.
"Angelegenheiten", sagte er bündig. "Was zu klären."
"Und da wartet keiner auf dich jetzt drüben?"
"Die sind alle schon weg, ich habe nur eine CD zuendegebrannt, und dann gehe ich sowieso."
"Sind das Leute, die ich kenne?"
"Aus dem 'Fractal'? Vielleicht vom Sehen ..."
Der fremde Besucher war mittelgroß und von kräftiger Statur. Das dunkle Haar war über den Ohren rasiert und hinten mit einem schwarzen Satinstreifen zusammengeknotet. Der Fremde trug ein graues Hemd mit Stehkragen, das aus einem metallähnlichen Gewebe hergestellt war. Anstelle einer Hose hatte er einen langen, seitlich hoch geschlitzten schwarzen Rock an und darunter Leggins. Die Schuhe liefen vorne spitz zu.
"Und der ist mir im 'Fractal' nie aufgefallen?" wunderte sich Katharin.
Der Fremde blickte sie aus frechen grauen Augen an. Seine Haut war hell, dennoch hatten seine Züge etwas Orientalisches. Das wurde unterstützt durch lang ausgezogene Kajalstriche und schwere silberne Creolen.
"Harem", dachte Katharin. "Der ist routiniert. So einer weiß, was er den Mädchen erzählen muß. Seltsam nur, daß sein Verhalten mir gegenüber so gar nicht berechnend wirkt, sondern ehrlich und ungekünstelt. Vielleicht kann er sich denken, daß er bei mir nicht weit kommt, wenn er irgendeine Masche abzieht. Er muß sich schon etwas einfallen lassen."
Der Fremde betrachtete Katharins Einrichtung und stellte fest:
"Holz, Stahl, Beton - und alles grau."
"Fast alles."
"Weshalb grau?"
"Das ist für mich Weite und Grenzenlosigkeit", erklärte Katharin. "Und es ist Design 'ton sur ton'. Ich habe diese Neubauwohnung so ähnlich eingerichtet, wie es früher schon aussah, als ich in dem Gewerbegebiet am Kanal gewohnt habe. Dieses Haus ist wie für mich gebaut worden; gerade war es fertig, als ich hierher ziehen wollte."
"Arbeitest du in der Nähe?"
"Nein, aber ich wohne in der Nähe der Autobahn und komme schnell hin."
"Was machst du denn?"
"Erst Forschung, jetzt Psychiatrie in Rhohausen und auch noch Gerichtsgutachten als Schwerpunkt zum Abgreifen von Nebeneinnahmen. Es stimmt, so wie es ist, äußerlich. Innerlich herrscht aber immer die Sorge. Ich wittere immer Böses, auch wenn es dafür keinen sichtbaren Anhalt gibt."
"Das heißt, du kannst nie einfach etwas haben und es schön finden. Du denkst immer, es wird dir gleich wieder weggenommen."
"Richtig."
"Und wie willst du das ändern?"
"Ich glaube, das kann nur die Erfahrung ändern", vermutete Katharin. "Es ist ein Programm, das kann man ändern, wenn immer wieder gegenteilige Erfahrungen gemacht werden."
"Dann mach' diese Erfahrungen endlich."
"Wie heißt du - falls ich dich sehe oder nach dir frage?"
"Tain. Tain Hett. Ich lege dir meine Karte auf den Schreibtisch."
"Ich bin Katharin. Du kannst dir meine Karte auch mitnehmen, sie liegen in der Schachtel neben dem Rechner."
Der Schreibtisch stand vorm Fenster. Gegen das Dunkel des Himmels blinkten rote und lichtblaue Kontrolleuchten an Rechner, Peripherie und Anlage.
"Das hat etwas gekostet" vermutete Tain.
"Ich habe lange gebraucht", erzählte Katharin, "weil ich mir immer Stoffe und Kleider gekauft habe."
"Geht es dir nur ums Äußere?"
"Das sind die Ideen. Ich habe andauernd Ideen und will die umsetzen."
"Ich muß auch nicht nachdenken, damit mir etwas einfällt. Das ist einfach da."
"Eben, genau so", nickte Katharin. "Das kommt und will, daß ich es umsetze. Vor lauter Arbeiten schaffe ich das kaum. Wo arbeitest du denn eigentlich?"
"In Lanwer. Informatik."
"Lanwer? Ist das dieses umzäunte Gelände mit der Betonplattform, die wie eine Landebahn aussieht, aber keine ist?"
"Keine ist?"
"Was sollte da auch landen?"
"Was, wenn nicht irgendwelche unsichtbaren Raumschiffe."
"Das geht gar nicht", war Katharin überzeugt. "Die werden bemerkt von den Bodenstationen hier und noch eher von den Satelliten. Hier kann keiner herkommen, der nicht bemerkt wird."
"Das ist beruhigend."
"Wenn du Lanwer kennst, kennst du dann auch Daro Staale?"
"Staale. Den kenne ich."
"Für den habe ich lange gearbeitet, und ab und zu tue ich das auch jetzt noch. Er hat mir Datenträger gegeben, und ich habe das am Rechner weiter bearbeitet, weil ich das eben so konnte, wie das gebraucht wurde."
"Und es gab Geld."
"Und noch mehr. Es ist ein Verstehen fast ohne Worte, und ich konnte ihm auch etwas erzählen."
"Eine Bezugsperson."
"Eine Bezugsperson", konnte Katharin beipflichten.
"Hattest du sonst keine?" erkundigte sich Tain.
"Eigentlich hatte ich welche", überlegte Katharin, "und ich habe auch noch welche, aber wir sprechen nicht in jeder Hinsicht dieselbe Sprache."
"Und Staale hat die Sprache verstanden, die die anderen nicht verstanden haben."
"Der hat das verstanden", bestätigte Katharin. "Er hat gesagt, gehe hinaus, und die Türen werden sich vor dir öffnen, und das, was du ersehnst, wird vor dir ausgebreitet liegen."
"Was ist es, das du ersehnst?"
"Das kann ich dir erzählen, das ist ein Traum, den ich vor zehn Jahren hatte. Wenn ich mich daran erinnere, ist das so ein warmes Gefühl, von dem einem übel wird, wie von verschlucktem Blut.
An einem dunklen Tag lief ich um einen begrünten Platz und überlegte, wie ich nach Hause kommen sollte. Irgendetwas lag in der Luft. Eine Weile wartete ich an einer Bushaltestelle. Dann kamen uniformierte Leute, die alle, die an der Haltestelle warteten, auf den begrünten Platz trieben. Inzwischen kam der Bus. Er hielt nicht, sondern fuhr um den Platz herum. Der Fahrer schoß aus dem Fenster. Einer der Uniformierten, der 'Spielleiter', ließ uns einen Kreis bilden. In den Ringelreihen sollten wir eine gläserne Litfaßsäule einbinden. In der Litfaßsäule kauerte ein Mann, reglos, kaum daß er zitterte. Er war kahlgeschoren und trug weithin sichtbare Spuren der Folter. Man hatte ihn vom Scheitel bis zur Sohle längsgestreift, das heißt, mit längs geführten Schnitten versehen, als wollte man die Haut streifchenweise abziehen. Die Schnittränder waren geschwollen, unregelmäßig wie ein Stoffmuster, und seltsam burgunderrot. Ich dachte zuerst, daß der Mann nicht mehr am Leben sei, bis mir das Zittern auffiel.
Wir sollten uns abwechselnd einen Ball zuwerfen, nur dem Mann in der Litfaßsäule nicht.
'Der wird nachher mit einer Kreissäge von vorne bis hinten durchgesägt', kündigte der Spielleiter an. 'Dem braucht ihr den Ball nicht zuwerfen.'
Ich empfand eine Traurigkeit, die ich nicht beschreiben kann.
Als der Bus weiterfuhr, hatte der Fahrer niemanden mit seinem Revolver getroffen. Der Spielleiter ließ uns nach einer Anzahl von Regeln spielen, und jeder bemühte sich, keine Fehler zu machen, um dem Spielleiter nicht aufzufallen. Unterdessen zog sich der Spielleiter zurück, und wir waren mit dem Aufpassen so beschäftigt, daß wir nicht mitbekamen, wie er sich entfernte. Als der Ball in ein Gebüsch rollte, sahen wir uns um und fanden uns mit dem Längsgestreiften allein auf der Wiese. Ich schaute fragend zu einem Mädchen hinüber, das Mädchen sah mich ebenfalls an und sagte:
'Ach - ich gehe.'
'Ich gehe auch', sagte ich schulterzuckend.
Vielleicht würde ich mich selbst retten können; ich konnte mir aber nicht vorstellen, den Längsgestreiften zu retten.
Heute ist es anders; ich traue mir mehr zu und denke mehr an den Längsgestreiften als an mich. Ich will den Längsgestreiften finden und ihn aus der Litfaßsäule holen, wenn er auch todgeweiht ist. Es geht um eine innere Weltordnung, die sonst nicht wiederhergestellt werden kann. Etwas bleibt sonst immer im Ungleichgewicht."
Tain hatte sich auf den Schreibtischstuhl gesetzt.
"Dann such' mal", riet er.
Katharin betrachtete ihren Funkwecker.
"Auf dem Display ist eine Glocke zu sehen", sagte sie nachdenklich. "Die Glocke wartet darauf, angeschlagen zu werden:
'Hört mich, ich will euch dienen.'
Die Glocke ist in meinen Augen ein Ornament, wie ein Muster auf einem Tuch.
'A bell ist a cup until it is struck', steht auf einem Cover der Band Wire.
Wenn man die Glocke nicht anschlägt, wird man nie hören, daß es eine Glocke ist; man wird nie hören, wie sie klingen kann."
"Und was hat das mit dem Längsgestreiften zu tun?"
"Es löst dasselbe Gefühl in mir aus, dieselbe uferlose Trauer."
"Und was sagt dir das?"
"Ich will gehen und meine Aufgabe finden und mich selbst geben dafür, daß sie gelöst wird. Ich sehe den Längsgestreiften dicht vor mir, unerreichbar hinter dem Glas der Litfaßsäule. Ich will etwas schaffen, das eigentlich keiner schaffen kann."
"Wenn du den Längsgestreiften befreien kannst, indem du dich umbringen läßt, würdest du das tun?"
"Wenn ich tot bin, kann ich dem Längsgestreiften nicht mehr helfen."
"Siehst du, das wollte ich wissen", folgerte Tain. "Du denkst eben doch mehr an dich als an andere."
"Wie du das einordnest, ist für mich nicht entscheidend", meinte Katharin. "Für mich ist nur entscheidend, daß ich den Längsgestreiften finden will."
"Und dann, dann stehst du vor der Litfaßsäule ... und wie geht es weiter?"
"Dann muß ich sehen, wie der Längsgestreifte in die Litfaßsäule hineingekommen ist und ob man ihn so ähnlich wieder herausholen kann. Vielleicht kann man die Säule anheben und ihn darunter hervorziehen."
"Und das willst du alleine schaffen."
"Nein, dafür muß ich mir Leute suchen, die mir helfen."
"Und wenn du ihn herausgeholt hast, was machst du dann?"
"Dann nehme ich ihn mit."
"Und wenn der Spielleiter wiederkommt und sagt, entweder erschieße ich ihn oder dich?"
"Dann sage ich zu ihm, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß er bereit ist, einen von uns beiden zu verschonen. Ich würde ihm vorschlagen, daß wir noch ein wenig mit dem Ball spielen."
"Du denkst dir da einen Unsinn aus ..."
"Ich tue, was ich kann, um dieses 'innere Gleichgewicht' wiederherzustellen."
"Und deshalb kaufst du dir teure Kleider und gehst ins 'Fractal'."
"Ja, auch deshalb gehe ich ins 'Fractal'."
"Das 'Fractal' ist eine Discothek, weiter nichts."
"Für mich ist es viel mehr. Ich nenne es 'Tempel zur Anbetung des Rhythmusgottes'."
"Wenn die anderen genauso verdreht wären wie du ... ich weiß nicht ..."
"Sag' mir nicht, du wärst nicht verdreht."
"Ich bin nicht verdreht", betonte Tain. "Du bist verdreht, aber ich nicht."
"Das sagst du mit diesem Funkeln in den Augen", bemerkte Katharin, "einem ganz besonderen Funkeln. Bleib' noch so sitzen, laß' mich das anschauen."
Tain drehte sich zum Fenster, warf einen Blick auf die Peripherie und fragte:
"Hast du auch einen Brenner?"
"Seit Kurzem, ja."
"Dann kann ich bei dir ja auch etwas brennen."
"Ja, sicher. Hast du noch keinen Brenner?"
"Doch, aber wenn ich mir von deinen CD's etwas brennen will, ist es doch besser, wenn ich das hier gleich kann."
"Die Sammlung ist überall in der Wohnung verteilt", wies Katharin auf ihre Regale.
"Stahl ... Beton ... Acryl", stellte Tain fest. "Hauptsache - kalt."
"Sicher", nickte Katharin.

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Es war fünf Uhr morgens, und hinter den hohen Fenstern des "Fractal" wurde es langsam hell. Der Tanzraum war ein Saal aus schwarzem Stein. Die Fenster hatten Vorhänge aus tiefrotem Samt, der in der Dunkelheit aber noch schwarz aussah.
Katharin trug eine brombeerfarbene Corsage und einen weiten schwarzen Rock aus zweierlei Stoff, durchsichtiger und undurchsichtiger Seide. Sie hatte mehrere Ketten angelegt aus Seidengarn und Onyx und ein Halsband aus Satin, bestickt mit Onyx. Ihre schwarzen Handschuhe waren sehr eng und reichten fast bis unter die Achseln. Sie trug dünne schwarze Kajalstriche, brombeer- und roséfarbenen Lidschatten und silbernen Lippenstift. Das Gesicht war mit reinem Talcum gepudert, weil ein gefärbter Puder zu dunkel gewesen wäre.
"Ich sage ja, du denkst immer nur an dein Aussehen", bemerkte Tain, als er durch die Türöffnung dabei zusah, wie Katharin in der Damentoilette ihre Kajalstriche nachzog.
"Das ist wichtig", bestätigte Katharin. "Das ist ganz, ganz wichtig."
"Du willst immer nur - absolut vollkommen sein", deutete er. "Du gestehst dir keinerlei Unvollkommenheit zu."
"Da ist viel Wahres dran. Es hat aber nicht nur Nachteile."
"Und was ist, wenn du auf einmal behindert bist und nicht mehr tanzen kannst?"
"Dann schaffe ich es vielleicht nicht, den Längsgestreiften aus der Litfaßsäule zu holen."
"Immer nur der Längsgestreifte und dein Aussehen ... um etwas anderes geht es dir wohl gar nicht?"
"Doch, um dich geht es mir."
"Das wollen wir doch mal sehen. - Wolltest du mir nicht noch deinen Drehort zeigen?"
"Ja, die Schlüssel habe ich sogar dabei."
"Wie bist du denn hier?"
"Mit dem Wagen."
"Dann gehen wir doch gleich."
"Laß' mal hören, ob jetzt noch ein gutes Lied kommt", bremste Katharin. "Wenn nicht, müssen wir schnell weg, sonst muß ich hierbleiben und weitertanzen."
"Du bist ganz schön abhängig", fand Tain. "Du kannst gar nicht einfach so machen, was du willst. Du mußt immer erst gucken, ob da etwas ist, das dich daran hindert."
"Es hat nicht nur Nachteile, wenn man sich bindet."
"Binde dich nicht zu fest, auch nicht an mich."
"Warum sollte ich das nicht?"
"Je mehr man sich bindet, desto mehr gerät man in Zwänge, und desto mehr kann man enttäuscht werden."
"Das kann ich in Kauf nehmen."
"Sag' das nicht so leicht daher."
"Die Bindung ist mir wichtiger als die Gefahr, enttäuscht zu werden."
"Hast du keine Angst davor, enttäuscht zu werden?" forschte Tain.
"Das steht für mich nicht im Vordergrund", erwiderte Katharin. "Die Bindung steht für mich im Vordergrund."
"Dieses Theoretische ... dieses Theoretisieren ... ist tödlich."
"Wollen wir noch ein Lied abwarten, und wenn das nichts zum Tanzen ist, gehen wir?"

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Das Loft, in dem Katharin mit ihrer Schwester Constri experimentelle Videos drehte, war ein himmelhoher Raum, licht und weit, mit einer Wand aus Glas, von Streben durchzogen. Die Mauern waren mit Kalkfarbe gestrichen. Auf dem Boden lagen schwarze Holzdielen. Durch das Glas kam nebliges rotviolettes Morgenlicht. Unterhalb des Fensters erstreckte sich ein dunkler Abhang. In der Ferne schimmerte ein blaßblauer Hügelsaum.
"Hier dreht ihr?" fragte Tain. "Ist das eine ehemalige Fabrik?"
"Ja, das ist ein ehemaliges Industriegelände", erzählte Katharin. "Es ist aber von einem Bekannten von mir renoviert worden, dem es auch gehört. Es ist wie eine Wohnung ... das Bad im Grau, mit Wasserfalldusche ... hinreißend."
"Und was dreht ihr?"
"Das neueste Projekt ist ein Musikvideo. Ich würde auch gerne dich einbauen, wenn ich es irgend könnte ... ein Pas de deux mit dir ..."
"Bist du sicher, daß ich das kann?"
"Das kannst du", war Katharin überzeugt. "Du bist aber so scheu. Ich sehe dich nur selten."
In der Mitte des Raumes stand eine graue Polsterbank, dem Fenster zugekehrt.
"Wollen wir uns nicht setzen?" fragte Tain.
Er setzte sich zuerst. Katharin setzte sich auf ihn, hatte sich das aber nicht vorher überlegt. Sie beobachtete, daß sie sogleich ihre Arme um Tain schloß und ihren Kopf auf seine Schulter legte.
"Guck' mal nach draußen, guck dir den Himmel an", forderte Tain sie auf.
"Nein", entgegnete Katharin, "das hier ist wichtiger."
"Erst ist dir dein Aussehen wichtiger, dann ist dir das nächste Lied wichtiger ... was ist dir denn eigentlich wichtig?"
"Du."
Tain zog an ihr herum, bis sie auf seinen Knien lag. Katharin ließ den Kopf zurückfallen und schaute zu der weiß gekalkten Decke hinauf.
"Ich verstehe das nicht", sagte Tain in Gedanken. "Du hast überhaupt keine Angst vor mir."
"Ich habe nie Angst vor dir, weil ich weiß, daß du mir nie etwas tun würdest."
"Ich bin viel stärker als du."
"Du würdest mir nie etwas tun."
"Das kannst du doch gar nicht wissen."
"Du würdest mir nie etwas tun."
"Woher nimmst du das?" wunderte sich Tain. "Woher nimmst du dieses Vertrauen?"
"Das gibst du mir."
"Das kann ich nicht; ich habe keines."
"Das glaube ich nicht. Vielleicht weißt du nur nicht, wo du es versteckt hast."
"Was du immer alles über mich weißt ..."
Katharin hatte eine Hand auf Tains Arm gelegt und rührte sich nicht.
"He - genieße nicht immer den Augenblick", verlangte er. "Du sollst nicht immer den Augenblick genießen."
"Ich genieße aber den Augenblick, weil mir den nachher keiner mehr wegnehmen kann."
"Ich bin nicht der Richtige für dich."
"Doch, das bist du. Eben das bist du."
"Du hast keine Ahnung. Du weißt gar nicht, was ich bin."
"Du bist du."
"Du sollst mich nicht so verehren."
"Ich verehre dich nicht, ich liebe dich", erklärte Katharin. "Das ist etwas anderes."
"Ich bin nicht der, den du meinst", wehrte Tain ab. "Du hast dir den Falschen ausgesucht."
"Ich habe dich nicht ausgesucht, ich habe dich gefunden. Das ist etwas anderes."
"Du weißt nicht, was ich getan habe. Du kennst die Hintergründe nicht."
"Erzähl' mir von den Hintergründen."
"Ich betrüge alle."
"Das ist bekannt", bestätigte Katharin. "Deswegen kommt es auch nur so selten vor, daß du nichts laufen hast und wir uns treffen können. Am besten war doch die Geschichte mit der Stempelfarbe."
"Welche Stempelfarbe?"
"Tu' nicht so, als wenn du das vergessen hättest. Du hattest gerade zwei Freundinnen ..."
"Woher du das alles weißt!"
"Ich habe genug Leute, die mir das stecken."
"Und denen glaubst du alles."
"Wenn mir mehrere Leute unabhängig voneinander dasselbe erzählen, ist schon recht wahrscheinlich, daß es stimmt."
"Ich hatte nur mit der einen gerade Schluß gemacht, und die andere hat sich schon Hoffnungen auf mich gemacht, aber das waren nicht zwei gleichzeitig."
"Wie dem auch sei - die Mädchen im 'Fractal' wollten nicht, daß die beiden Noch- oder Schon-wieder-Freundinnen mitbekamen, daß du alle Mädchen mit einem Kuß auf die Wange begrüßt. Deshalb mußte sich das in dunklen Ecken abspielen, und deine Ponysträhnen mußten wie eine Gardine vorgezogen werden. Du hattest aber Stempelfarbe in deinen schwarzen Lippenstift gemischt."
"Woher du das alles weißt!"
"Und Granya, die deinem Küßchen noch rechtzeitig entgangen ist, hat in der Damentoilette dabei zugesehen, wie die Mädchen versucht haben, sich die schwarzen Spuren zu entfernen, was nicht ging."
"Und was folgerst du daraus?"
"Daß deine Beziehungen keine Beziehungen sind, sondern Inszenierungen."
"Das kannst du doch überhaupt nicht wissen."
"Letztendlich geht es mir um das, was sich hinter der Bühne abspielt."
"Das wirst du nie herausbekommen."
"Immer muß ich an den Längsgestreiften denken", seufzte Katharin. "Es ist, als wenn es ihn wirklich geben würde. Ich habe das Gefühl, ihn zu kennen. Er hofft nicht auf mich; er hofft auf niemanden; er hat aufgegeben, er wehrt sich nicht. Warum bin gerade ich es, die ihm unbedingt helfen will und glaubt, ihm helfen zu müssen? Warum sehe ich in einer Traumgestalt meine Aufgabe? Wer ist der Längsgestreifte, und wo finde ich ihn?"
"Immer denkst du daran, für einen anderen etwas zu tun; was tust du denn eigentlich für dich?"
"Suchen nach dem anderen; das tue ich doch für mich."
"Eben nicht", widersprach Tain. "Du kannst doch nicht etwas für dich tun, indem du etwas für einen anderen tust."
"Doch, aber das klingt sehr abgehoben, wenn ich dir das erkläre."
"Wieder dieses Theoretische."
"Dann erkläre ich es dir so untheoretisch wie möglich. Also. Ich kann mich allein nie ganz erfassen. Ich kann mich nur wirklich finden in einem anderen."
"Und das ist der Längsgestreifte."
"Das weiß ich nicht; den muß ich dazu erst kennen - oder erkennen. Ich muß herausfinden, wer er ist, und vielleicht ist er der Schlüssel."
"Also willst du ihm nur helfen aus eigenem Interesse."
"Nein, ich kann doch auch für ihn der Schlüssel sein zu sich selbst."
"Ist das schön", seufzte Tain. "Und wieder nur theoretisch. Du hast wirklich keine Ahnung. Und bestimmt noch nie eine richtige Beziehung gehabt."
"Ich denke nicht, daß die Anzahl der Verflossenen ein Maß ist für die innere Reife."
"Das war wieder so ein Spruch. Diese Sprüche sind tödlich."
"Ich mache mir Gedanken über dich."
"Erkenntnisse werden nicht durch Nachdenken erreicht", behauptete Tain. "Nachdenken ist tödlich."
"Vielleicht war da etwas, das nicht will, daß du darüber nachdenkst."
"Du sollst nicht nachdenken", verlangte Tain. "Hör auf, nachzudenken."
An Katharins Corsage gab es vorn eine Hakenleiste. Tain beschäftigte sich damit, die Corsage abwechselnd auf- und zuzuhaken.
"Ich habe Angst", sagte er unvermittelt.
"Wovor hast du Angst?"
"Daß, wenn du mich richtig kennst, daß dann Schluß ist."
"Es wird nie Schluß sein."
"Und da bist du dir sicher?"
"Absolut sicher", betonte Katharin. "Da wird nie Schluß sein. Und bevor ich dich kannte, wäre ich auch nie darauf gekommen, so etwas zu irgendwem zu sagen. Und zu dir sage ich das so selbstverständlich, und ich weiß es so, wie ich weiß, daß wir uns beide in diesem Raum befinden."
"Im Bad sind doch Handtücher?"
"Alles", wußte Katharin. "Handtücher, Duschgel, Heizung - alles."
"Dann laß' uns 'rübergehen. Das Bad ist nur für uns. Das hat dein Bekannter nur für uns hier eingebaut."



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