"Furcht läßt die Wirklichkeit oft bizarr und verfremdet erscheinen."





Sel Veey - Gestalten der Furcht


Irgendwer muß die Schuld tragen, selbst wenn es keinen Schuldigen gibt oder wenn er unbekannt ist.


Sel Veey dient als Inventar in einer Transporteinheit des Raumflughafens Stellwerk. Sel kann sprechen und laufen und ist fast ein Mensch, aber eben doch nicht ganz. Ob Sel einen eigenen Willen hat, ist nicht geklärt; bislang wurde vermutet, daß er nur so programmiert wurde, als hätte er einen.
Es gab keinen Grund, sich vor Sel zu fürchten; dessen war Tain gewiß. Er duldete das Kunstwesen an Bord; manchmal unterhielt er sich sogar mit ihm.
Sel war mit einer durchaus menschlich wirkenden Arroganz ausgestattet worden. Als Tain ihn bat, ihm eine Tüte Schaumzuckertierchen zu holen, deute Sel mit seiner Klaue zum Automaten.
"He", protestierte Tain, "du bist doch dazu da, uns zu dienen, jetzt sei auch zu etwas nütze!"
"Die Schaumzuckertierchen kannst du dir genausogut selber holen", erwiderte Sel, "dazu brauchst du mich nicht. Ich bin da, wenn du mich wirklich brauchst."
"Sag' mal ... eine Frage ... wer hat dich eigentlich programmiert?"
"Das werde ich dir auch bestimmt verraten."
"Wozu bist du überhaupt gebaut worden?" erkundigte sich Tain. "Zu was solltest du nütze sein?"
"Ich soll noch funktionieren, wenn die Lebewesen ausfallen. Ich brauche zum Beispiel nicht zu atmen und komme ohne Sauerstoff aus. Hitze und Kälte können mir nichts anhaben, und ich brauche keine Nahrung wie die eure; ein wenig Strom genügt."
"Hat man dir eigentlich auch Gefühle einprogrammiert?"
"Es kommt darauf an, was man unter Gefühlen versteht."
Tain fand, daß Sel ein spannendes Produkt war. Er sah so menschenähnlich aus und konnte sich so menschenähnlich verhalten, fast als hätte er all jene Erfahrungen hinter sich, die ein Menschenleben prägen. Und doch, wußte Tain, war alles nur am Computer entstanden.
Vor elf Tagen waren sie in Stellwerk aufgebrochen. Seit drei Tagen bemerkte Tain eine seltsame Veränderung. Es war Grippe, aber er hatte kein gewöhnliches Kopfweh. Wenn es kam, mußte er alles stehen und liegen lassen und in sein Zimmer gehen. Er übergab sich meistens und lag ein Weilchen auf dem Fußboden. Wenn er wieder etwas sehen konnte, ging er zurück an den Rechner und hoffte, daß seine Abwesenheit nicht zu sehr aufgefallen war.
Inzwischen hatte Tain die Tabletten aufgebraucht, die im Schränkchen in der Kaffeeküche lagen. Er wandte sich an seine Kollegin Siddra, eine zarte Blondine mit einer grauen Schleife im Pferdeschwanz.
"Tain, ich kann dir nicht noch mehr geben", bedauerte Siddra. "Wenn du mehr willst oder etwas anderes, müßtest du nach unten gehen und dir in Raum beta/b ein Rezept besorgen."
In Raum beta/b saßen Rega und Leen bei einer Tasse Kaffee. Die beiden Herren waren in Tains Alter, Ende Zwanzig, und Tain verstand sich gut mit ihnen.
"Wer von euch gibt mir ein Rezept?" fragte Tain. "Ich möchte nur etwas gegen Kopfschmerzen und Übelkeit; ich habe mich wohl erkältet."
Rega und Leen bewarfen sich mit Papierkügelchen.
"Du stehst auf", sagten sie abwechselnd zueinander.
Leen erhob sich schließlich und schaute am Rechner einige Datenreihen durch.
"Die letzten fünf Packungen gingen alle an dich", sagte er zu Tain. "Reicht dir das denn gar nicht?"
"Nein."
"Hast du Fieber?"
"Das weiß ich nicht."
"Komm' am besten in einer halben Stunde nochmal ... wir sehen dann ..."
"Kriege ich jetzt kein Rezept?"
"Nein."
Leen setzte sich wieder hin.
Tain gab sich Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Im Aufzug wurde ihm bewußt, daß er ohne mehr und andere Tabletten nicht auskommen würde, nicht einmal eine halbe Stunde lang. Er überlegte, wie er Siddra überlisten konnte. Sie verwaltete die Apotheke, und sie besaß eine Codekarte dafür. Tain versuchte, über den Rechner den Code zu ändern und auf seine eigene Karte abzustimmen. Er gelangte auf diese Weise in den Raum, in dem Medikamente gelagert wurden.
"Nicht aufregen", sagte Sel, als er dabei zusah, wie Tain mit den erbeuteten Tabletten in der Hand den Raum verließ.
Siddra konnte man überlisten, ein Kunstmensch jedoch war nicht so einfach "auszuschalten".
"Warum hast du nicht gewartet und bist dann wieder in Raum beta/b gekommen?" erkundigte sich Sel.
"Ich konnte nicht warten."
"Nimmst du öfter so viele Tabletten?"
"Denkst du, ich bin süchtig?"
Sel telefonierte kurz und gab Tain die Auskunft:
"Leen sagt, du kannst jetzt gleich in Raum beta/b kommen, und es ist in Ordnung."
Tain verstand nicht, was in ihm vorging. Er wollte Leens Angebot annehmen; das war das Naheliegendste und Sinnvollste. Zugleich führte er sich vor Augen, daß das auch von ihm erwartet, ja gefordert wurde.
"Kann ich ablehnen?" fragte er sich. "Herrscht hier nicht der Zwang, sich helfen zu lassen? Ist mir nicht untersagt worden, mir selbst zu helfen?"
"Gib mir die Tabletten", sagte Sel.
"Was will eine Maschine mit Tabletten?"
Sel hielt unbeeindruckt die Hand auf.
"Kann man diese Laufpuppe nicht abstellen?" seufzte Tain. "Du bist eine Maschine und hast keinerlei Rechte. Du darfst keine Verträge abschließen, keine Verhandlungen führen und nicht über andere bestimmen. Im Gegenteil - du mußt das tun, was wir dir auftragen."
"Ich bin in eurem Dienst, das ist wahr. Staale hat mich beauftragt, in diesem Fall für Ordnung zu sorgen."
"Das glaube ich dir nicht, daß Staale dir befohlen hat, über mich zu bestimmen."
"Du kannst Staale anrufen", sagte Sel und gab Tain sein Handy.
Tain kam nicht sofort bis zur Brücke durch. Erst nach mehreren Versuchen hatte er Staale am Apparat.
"Was ist hier los, Staale?" fragte Tain. "Dein Roboter kommt einfach an und will entscheiden, was ich zu tun habe."
"Das ist recht", antwortete Staale, "ich habe ihm diesen Auftrag gegeben. Sel vertritt mich. Wir haben eine Störung auf der Brücke, und ich bin nicht abkömmlich."
Tain begriff, daß er seinen Willen ohne Staales Hilfe durchsetzen mußte. Er gab Sel das Handy zurück und bat ihn, sich zu entfernen.
"Willst du mir die Tabletten freiwillig geben?" fragte Sel.
Tain gab sie ihm. Sel nickte und ging.
"Läßt er mich jetzt wenigstens in Ruhe?" dachte Tain.
Er ging in sein Zimmer und stellte sich ans Fenster. Draußen war nur lichtgrauer Nebel zu sehen. Tain griff nach seinem schnurlosen Terminal und schaute nach, wo sich die Transporteinheit gerade befand. Man gelangte schon bald zu einer Außenstation, wo es für Tain viel zu tun geben würde.
Leider bekam Tain schon bald wieder Gesellschaft, allerdings nicht von Sel, sondern von den Kopfschmerzen. Diese wirkten auf Tain viel aufdringlicher als ein ungebetener Gast, weil man sie nicht einfach hinauswerfen konnte. Und Tain war ihnen ausgeliefert, denn er hatte keine Tabletten mehr.
Im Flur tastete er sich an der Wand entlang, machte Schritt um Schritt, sich vergewissernd, daß er immer noch aufrecht stand. Die Luft um ihn herum durchzog ein flimmerndes Muster, und in den Abbildern der wirklichen Welt tauchten ganz andere Bilder auf, von fremden Räumen. Tain mußte achtgeben, daß er nicht über eine Treppe fiel, die es nicht gab.
"Tagelang bin ich mit dem Kopfweh zurechtgekommen", dachte er, "da werde ich es doch auch jetzt in Schach halten."
Sel folgte ihm, doch er machte keine Anstalten, Tain an seinem Vorhaben zu hindern. Der Humanoid schien auf irgendetwas zu warten, zu lauern.
"Es ist ein Monster", dachte Tain. "Ich werde Staale das erklären."
Das Licht in der Kommandozentrale schien eine zähe Konsistenz zu haben. Tain wagte kaum, hineinzutreten, weil er erwartete, in eine rauchige Masse zu geraten und darin hängenzubleiben. Wenigstens konnte er wieder besser gehen, auch ohne den Halt an der Wand.







Siddra stand vor einem hohen papierweißen Kunststoffbrett, auf dem sich dünne Linien bewegten; es war Tains Monitor.
"Ihr irrt euch", sagte Tain, "ich kann sehr wohl arbeiten."
Mit einem Stift ohne Mine strichelte Siddra auf dem Monitor herum.
"Tain, du sollst dich schonen", riet Staale.
"Es wäre eine Schande, jetzt auszufallen", dachte Tain.
Sel griff vorsichtig nach Tains Arm und meinte:
"Es ist in Ordnung. Wir können ruhig nach unten gehen."
Tain wehrte Sel ab, umso heftiger, als er fühlte, daß ihm der Kunstmensch einen wohltuenden Halt gab, den er vermißt hatte.
"Ich gehe in mein Zimmer", sagte Tain.
"Das wollen wir nicht", erwiderte Leen, der unbemerkt eingetreten war.
"Wieso wollt ihr das nicht?"
"Das ist uns zu unsicher."
"Staale", wandte Tain sich an den Kommandanten, "was sagst du dazu?"
"Gar nichts. Das ist nicht meine Aufgabe."
"Wessen Aufgabe ist das sonst?"
"Das fällt in Leens Aufgabenbereich."
"Du willst mich ihm ausliefern, ihm und diesem Kunstmenschen."
"Es bleibt mir nichts anderes übrig."
Inzwischen war auch Rega in der Kommandozentrale.
"Leen, Rega", wandte Tain sich an die beiden, "wir haben uns eigentlich immer gut verstanden, also ... was soll das jetzt?"
"Dein Leben ist mir wichtiger als deine Freundschaft", erklärte Leen.
Tain kam es vor, als wenn die Schwerkraft stärker geworden wäre. Er fühlte sich zu Boden gezogen, ohne dagegen Widerstand leisten zu können. Er wollte sich an den Stühlen und Tastaturbrettern festhalten, aber was er sah, war entweder nicht wirklich vorhanden, oder es war so unscharf, daß ein gezielter Griff nicht möglich war.
"Ich will aus meinem Körper", dachte er, "dann merke ich nichts mehr, und sie können mich nicht angreifen."
Tain wollte sich gegen nichts wehren, er wollte nur möglichst weit fort. Die stählernen Gelenke, die sich um ihn schlossen, gab es wahrscheinlich gar nicht, dennoch lösten sie in ihm einen Widerstand aus, den er nicht willentlich beeinflussen konnte. Er fühlte Abscheu, aber er wußte nicht, gegen was oder wen.
"Wenn Tain mich hassen kann, ist viel erreicht", sagte Leen. "Dann haßt er sich selbst wenigstens nicht, dann bin ich derjenige, auf dem er alles abladen kann."

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