Weit von hier, in nebliger Ferne, wächst eine Pflanze, das ist die giftigste, die es gibt. Sie sieht harmlos aus - ja, sogar schön - auf den ersten Blick. Sie schaut dich mit großen braunen Augen an, treuen Augen, sehr vielen Augen. Wo sie zu finden ist, riecht es nach Moder und Sumpfwasser. Kein Baum will dort gedeihen. Nur olivfarbene Gräser, Moose und niedriges Buschwerk können überleben und haben sich großflächig ausgebreitet. Wer in diese Wildnis gerät und den Weg zurück nicht mehr findet, muß elendig umkommen. Und die Giftpflanze schaut dabei zu. Ihr Name ist Widerkraut. Schon beim Anblick der braunen Augen wird der Mensch verflucht für immer und ewig, daß ihm nichts mehr gelingen soll auf Erden und daß er stets kurz vor dem Ziel scheitern soll. Wer also einem anderen Menschen alles erdenkliche Unheil wünscht, muß ihn nur in diese Einöde locken.


Cato wußte nichts mehr davon, daß er als Kind das Widerkraut erblickt hatte. Der Zufall wollte es, daß er auf einer Gruppenreise hinter den anderen zurückblieb und das Widerkraut entdeckte. Von da an zog sich das Verderben wie ein langsam wirkendes Gift durch sein Dasein. Niemand verstand, warum Cato alles, was er mühsam erarbeitet und erkämpft hatte, im Handumdrehen verlor. Die Menschen wandten sich von ihm ab, weil sie befürchteten, durch Cato ebenfalls ins Unglück gerissen zu werden. Cato glaubte, an seinem Elend selbst schuld zu sein, weil er das Geheimnis des Widerkrauts nicht kannte. Und es gab niemanden, der ihm den Ursprung des Übels erklären konnte. Doch es gab Menschen im Überfluß, die über ihn tuschelten und sich über ihn lustig machten. Cato lebte allein, in Armut und Not. Er hörte auf, Wünsche zu haben und Pläne zu machen. Er bekam nur untergeordnete Aufgaben zugeteilt, und ihm wurde mehrfach bedeutet, was für eine Gnade es sei, überhaupt arbeiten zu dürfen. Eines Tages wurde er zu seinem Vorgesetzten beordert. Der saß ihm gegenüber im legeren hellbraunen Sakko, umgeben von hellbraunem Holz, hellbrauner Auslegeware und braungetönten Kunstdrucken, und blickte ihn mit großen braunen Augen an. Cato war seinem Vorgesetzten noch nie begegnet. Er wußte nur, daß er Widerwart hieß und eine Anzahl von Titeln hatte. Cato wunderte sich über die großen braunen Augen des Herrn Widerwart. Er meinte, solche Augen schon einmal gesehen zu haben - und nicht nur zwei davon, sondern mindestens zwölf.
Herr Widerwart begrüßte Cato mit warmem Lächeln und fragte mit warmer Stimme, wie es ihm in der Firma gefalle.
"Gut", antwortete Cato.
Zugleich fragte er sich, was er auf diese Frage sonst hätte antworten sollen.
"Das freut mich, daß es Ihnen bei uns gefällt", sagte Herr Widerwart mit samtartiger Höflichkeit. "Wie kommen Sie denn so in unserer Firma zurecht?"
"Gut", antwortete Cato.
Zugleich fragte er sich, was er auf diese Frage sonst hätte antworten sollen.
Die Gesichtszüge des Herrn Widerwart begannen sich zu kräuseln.
"Hm", sagte er, "hm. Wie kommen denn die Kollegen mit Ihnen zurecht?"
"Gut", antwortete Cato.
Zugleich fragte er sich, was er auf diese Frage sonst hätte antworten sollen.
"Sie merken also nichts davon?" fragte Herr Widerwart lauernd.
"Wovon?" fragte Cato.
"Ja, das ist schwer zu beschreiben", wand sich Herr Widerwart. "Sie sind - man könnte sagen - Sie sind ein Störfall."
"Warum?" fragte Cato.
"Ja, das ist halt schwer zu bechreiben", wand sich Herr Widerwart. "Es ist nichts Konkretes, Sie sind halt allgemein ein Störfall."
"Wer behauptet das denn?"
"Keiner", wand sich Herr Widerwart. "Das ist nur so ein atmosphärisches Raunen."
"Was soll ich mir darunter vorstellen?"
"Ja, das ist halt schwer zu beschreiben", wand sich Herr Widerwart. "Eine genauere Beschreibung ist nicht möglich."
"Wer hat denn was über mich behauptet?" fragte Cato.
"Das kann man nicht genauer beschreiben", wand sich Herr Widerwart. "Um es kurz zu machen - Sie machen hier eine hervorragende Arbeit, sind aber dennoch ein Störfall. Deshalb müssen wir uns leider von Ihnen trennen, und ich möchte Sie bitten, uns dabei zu helfen."
"Wie bitte?" fragte Cato.
Die Gesichtszüge von Herrn Widerwart begannen sich zu knautschen.
"Verstehen Sie nicht?" fragte Herr Widerwart und schlug seine großen, treuen braunen Augen auf. "Uns fehlt der Anlaß."
"Der Anlaß?"
"Sie verstehen doch, daß ich in der Bredouille bin?" japste Herr Widerwart. "Sie haben doch Verständnis dafür, nicht wahr? Darum bitte ich Sie, sorgen Sie für einen Anlaß, damit die Formalitäten geregelt sind."
"Was für ein Anlaß?"
"Sie haben mich doch verstanden", wurde Herr Widerwart ungeduldig. "Ich habe einen Termin, ich muß jetzt weg. Es genügt ein kleiner Anlaß. Sie haben doch so viel Phantasie, Ihnen fällt doch bestimmt etwas ein."
"Es tut mir leid, daß ich Sie noch immer nicht verstanden habe."
"Helfen Sie uns", flehte Herr Widerwart. "Helfen Sie der Firma. Wenn Sie uns einen Anlaß liefern, ist es das Beste für die Firma und das Beste für Sie."


Cato dachte tagelang darüber nach, was für einen "Anlaß" Herr Widerwart gemeint haben könnte. Und er dachte an die treuen braunen Augen des Herrn Widerwart. Im Wartezimmer seines Hausarztes, durch den er sich krankschreiben ließ, fand Cato in einer Illustrierten mehrere Abbildungen seltener Pflanzen. Darunter war auch eine, die "Widerkraut" hieß und viele große braune Augen hatte. Cato war nahe daran, sich zu übergeben. In seinem Inneren stieg der Geruch von Moder und Sumpfwasser hoch. Cato wußte nicht, was mächtiger in ihm war: Wut oder Abscheu. Und noch weniger wußte er, was er mit diesen Gefühlen anfangen sollte. Er hatte sich längst daran gewöhnt, ohnmächtig seinem Schicksal ausgeliefert zu sein. Es schien nichts auf Erden zu geben, das ihn schützte.
"Wenn alle Logik nichts hilft", überlegte Cato, "vielleicht hilft etwas Unlogisches?"
Er ließ sich von der Sprechstundenhilfe die Illustrierte schenken, trennte zu Hause die Seite mit der Abbildung des Widerkrauts heraus und verbrannte sie auf dem Balkon.


Cato konnte kaum noch schlafen und kaum noch essen oder trinken. Als er nach drei Wochen wieder in der Firma erschien, waren die Wände im Eingangsbereich mit braunen Punkten verziert, die so ähnlich aussahen wie die Blütenstände des Widerkrauts. Cato lief zur Toilette, übergab sich und ließ sich erneut krankschreiben.
Wie Cato im Nachhinein erfuhr, gehörte die Dekoration im Eingangsbereich zu einem Symposium, in das Herr Widerwart große Hoffnungen gesetzt hatte. Es gab einen festlichen Empfang, und es wurde ein Begrüßungscocktail mit exotischen Zutaten gereicht. Herr Widerwart hielt als Erster sein Glas in der Hand, da ließ das Serviermädchen das Tablett fallen, und alle anderen Gläser gingen zu Bruch. Das Serviermädchen wurde fristlos entlassen. Herr Widerwart hob sein Glas mit dem Cocktail, seine Gäste bekamen Champagner, und alle stießen miteinander auf das Wohl der Firma an.
Cato versuchte, sich die warmen braunen Augen des Herrn Widerwart vorzustellen, wie sie sich vereinten mit den warmen braunen Augen des Widerkrauts. Tatsächlich hatten sich Bestandteile des Widerkrauts in dem exotischen Cocktail befunden. Und da Herr Widerwart der Einzige war, der von dem Cocktail getrunken hatte, war er auch der Einzige, der das Symposium nicht lebend verließ. Wie das Widerkraut in den Cocktail gekommen war, ließ sich nach mehrmonatigen Ermittlungen durch eine vertauschte Lieferung erklären. Es wurde niemand strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, da man von menschlichem Versagen ausging. Alle Personen, die mittelbar oder unmittelbar mit der fehlerhaften Lieferung zu tun gehabt hatten, verloren ihre Arbeit.
Der Nachfolger des Herrn Widerwart hatte eine noch hintergründigere, noch feinere Art, seine Untergebenen zu beleidigen und zu erniedrigen. Sein Name war Hydra, und er hatte neun Köpfe und ebenso viele Titel. Die Hälfte der Titel war gekauft, die Hälfte der Köpfe ebenfalls, doch das tat seinem ausgezeichneten Ruf keinen Abbruch. Augenscheinlich war Cato nur deshalb noch immer ein Mitarbeiter der Firma, weil Herr Hydra übersehen hatte, daß Cato hinausgeworfen werden sollte.
"Auch neun Köpfe können nicht an alles denken", folgerte Cato. "Mir will es fast scheinen, als wenn ich zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie Glück gehabt habe."





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